|
[205] Wahres Wissen lehrt bescheiden sein. Darum haben auch unsere jüngeren naturwissenschaftlichen Schriftsteller, welche nach dem Untergang der älteren naturphilosophischen Schule das Recht und die Aufforderung gehabt hätten, mit dem Maßstab der exakten Forschung auch die Philosophie zu bemessen, es größtenteils bis jetzt verschmäht, aus dem reichen Schatz ihrer Kenntnisse sich Waffen zur Bekämpfung des Idealismus zu schmieden und mit diesen starken Kräften auf dem allgemeinen Kampfplatz der philosophischen Kontroversen zu erscheinen. Nur hin und wieder schoß ein einzelner Lichtstrahl aus der Werkstätte jener fleißigen Arbeiter zwischen das philosophische Getümmel, freilich nicht ohne jedesmal wie ein plötzlicher Windstoß auf das wirre Spiel fleischloser Schatten zu wirken. Aber diese einzelnen Blitze waren hinreichend, um das ganze Heer der Spekulativen nach und nach in eine gewisse ängstliche Fieberspannung zu versetzen und im Vorgefühl einer drohenden Zukunft zu einzelnen übereilten Ausbrüchen der Verteidigung zu veranlassen. Es macht einen fast komischen Eindruck, die Idealisten und Transszendenten allerorten sich halb verzweifelt zur Wehre setzen zu sehen, ehe man sie noch ernstlich angegriffen hat. Noch niemand aus dem entgegengesetzten Lager hat das eigentliche Stichwort auf den Kampfplatz geworfen, und doch legt man auf der anderen Seite schon die Rüstung an. Freilich dürfte es nicht mehr lange dauern, bis der Kampf ein allgemeinerer wird; das empirische Material ist zu groß geworden, es bedarf der Abstraktion und des Angriffs auf[205] die veralteten und morschen philosophischen Positionen. Könnte der Sieg zweifelhaft sein? Gegen die nüchternen, aber schlagenden Waffen des physischen und physiologischen Materialismus kann der Idealismus nicht standhalten; der Kampf ist ein zu ungleicher. Der Realismus kämpft mit Tatsachen, welche jeder sehen und greifen kann, der Idealismus mit Vermutungen und Hypothesen. So wenig Geltung die Hypothese in den Naturwissenschaften besitzt, so wenig soll sie fortan in der Philosophie haben. Die Hypothese in der Ausdehnung, wie sie von Religion und Philosophie benutzt wird, verläßt den einzig sicheren Boden menschlichen Begreifens, die sinnliche Erkenntnis, und erhebt die Phantasie der Willkür auf den Thron. Die Hypothese kann Götter und Engel, Dämonen und Teufel in Menge erfinden, sie kann einen Himmel und eine Hölle konstruieren, sie kann eine geistige Materie erfinden und die Seelen der Abgeschiedenen durch alle Himmel reiten lassen; sie wird nie an ein Ende gelangen; denn hinter dem, was unserer sinnlichen Erkenntnis verschlossen ist, können ja alle denkbaren Dinge existieren; aber alles dieses kann sie nur willkürlich, nur ideell, nur metaphysisch. Wer die Empirie verwirft, verwirft alles menschliche Begreifen überhaupt und hat noch nicht einmal eingesehen, daß menschliches Wissen und Denken ohne reale Objekte ein non ens ist. Denken und Sein sind ebenso unzertrennlich, als Kraft und Stoff, als Geist und Materie, und ein materienloser Geist ist eine willkürliche Annahme ohne jede reale Basis, eine Hypothese. Besäße der menschliche Geist metaphysische, durch die reale Welt nicht bestimmbare Kenntnisse, so müßte man von den Metaphysikern dieselbe Übereinstimmung und Sicherheit der Ansichten verlangen dürfen, wie sie unter den[206] Physiologen über die Funktion eines Muskels oder unter den Physikern über das Gesetz der Schwere usw. besteht; statt dessen finden wir bei ihnen nichts als Unklarheiten und Widersprüche. Alles, was über die sinnliche Welt und die aus der Vergleichung sinnlicher Objekte und Verhältnisse gezogenen Schlüsse hinausliegt, ist Hypothese und auch nichts weiter als Hypothese. Wer die Hypothese liebt, mag sich damit begnügen. Der Naturkundige kann es nicht und wird es nie können. – Daraus mag sich jeder einzelne die Frage beantworten, ob die Naturwissenschaften das nicht selten bestrittene Recht haben, sich an philosophischen Fragen zu beteiligen. Nach unserer Ansicht kann es keine Philosophie geben ohne sie; sie sind die eigentlichen und erbittertsten Feinde der Unwissenheit, der Schwärmerei, der Hohlheit des Gedankens. Eine Erörterung der höchsten Dinge, die nicht auf ihnen ruht, ist ein Konvolut von Worten ohne Sinn. Wird sich die spekulative Philosophie, machtlos gegen die Tatsachen, welche der Materialismus ins Feld führt, dadurch zu retten suchen, daß sie sich in unerreichbare metaphysische Höhen zurückzieht, so können wir sie als geschlagen betrachten. – Endlich glauben wir es für eine unpassende Prüderie halten zu dürfen, wenn einzelne Stimmen auf naturwissenschaftlicher Seite selbst sich gegen eine solche Beteiligung erklären, weil sie glauben, daß das empirische Material nicht ausreiche, um bestimmte Antworten auf transzendente Fragen geben zu können. Freilich reicht es nicht aus, um diese Fragen positiv beantworten zu können; aber dazu wird es eben nie ausreichen. Dagegen reicht es mehr als vollkommen aus, um sie negativ zu beantworten und die Hypothese zu verbannen. Wer die Hypothese auf naturwissenschaftlichem Gebiete bekämpft, muß sie auch auf philosophischem[207] bekämpfen. Die Hypothese kann behaupten, daß Sein und Denken einmal getrennt waren; die Empirie kennt nur ihre Unzertrennlichkeit. –
Bedauern wird es gewiß jeder, der die Verhältnisse kennt, mit uns, daß gerade ein Mann, dem die exakte Naturforschung nicht wenig Dank schuldet, sich, angestachelt von einer krankhaften Empfindlichkeit, versucht fühlen konnte, vor kurzem öffentlich und unaufgefordert der mechanischen und materiellen Naturanschauung den Fehdehandschuh entgegenzuwerfen. Freilich geschah es in einer Weise, welche dem Mute der Verzweiflung eigen zu sein pflegt; denn durch positives Wissen hinlänglich befähigt, die machtlose Stellung des Idealismus einzusehen, begann er selbst mit dem Geständnis, daß aller Widerstand gegen den immer näher und drohender heranrückenden Feind vorerst vergeblich sein werde. Aber nicht mit Tatsachen suchte er seinen unsichtbaren und ihm doch so furchtbaren Gegner zu bekämpfen – es konnte ihm ja nicht unbekannt sein, daß dem Idealismus keine Tatsachen zu Gebote stehen – sondern durch eine Wendung, welche man im gewöhnlichen Leben einen »fälschlichen Vorhalt« zu nennen pflegt, durch eine Wendung, welche mit moralischen Konsequenzen Naturwahrheiten bekämpfen will, und welche so gänzlich unwissenschaftlich genannt werden muß, daß schwer zu begreifen ist, wie sich jemand entschließen konnte, sie vor einer Versammlung wissenschaftlich gebildeter Männer vorzubringen. Der Lohn dafür ist ihrem Urheber freilich sogleich geworden, und der allgemeine Unwille der Versammlung sprach sich nach den darüber laut gewordenen Berichten unverhohlen genug aus. »Die Lehre«, rief Professor und Hofrat Rudolf Wagner in der letzten Versammlung deutscher Naturforscher[208] und Ärzte in Göttingen, »die Lehre, die aus der materialistischen Weltanschauung folgt, ist: laßt uns essen und trinken, morgen sind wir tot. Alle großen und ernsten Gedanken sind eitle Träume, Phantasmen, Spiele mechanischer, mit zwei Armen und Beinen herumlaufender Apparate, die sich in chemische Atome auflösen, wieder zusammenfügen usw., dem Tanze Wahnsinniger in einem Irrenhause vergleichbar, ohne Zukunft, ohne sittliche Basis usw.« Die Idee, welche diesem unüberlegten Zornausbruche zugrunde liegt, fällt so sehr mit den Einwendungen zusammen, welche wir im vorigen Kapitel zu bekämpfen Gelegenheit fanden, daß wir uns wohl der Mühe überheben können, diesen fälschlichen und übel angebrachten Vorhalt hier nochmals genauer zu kritisieren. Aus den allenfalsigen Konsequenzen, welche unverständige Leute aus einem an sich richtigen oder bewiesenen Prinzipe schöpfen zu dürfen glauben – auf die Unwahrheit dieses Prinzips selbst zu schließen, ist eine in der Tat allzu sehr verbrauchte und verkehrte Manier. »Wenn Herr Wagner«, sagt Reklam (Deutsches Museum), »dieses Prinzip als oberste Richtschnur gelten lassen will, so müssen die Streichzündhölzchen verboten werden, denn es kann eine Feuersbrunst entstehen – gegen die Lokomotiven müssen Steckbriefe erlassen werden, denn es sind bereits Menschen überfahren worden – und die Häuser dürfen keine Stockwerke erhalten, damit niemand aus den Fenstern fallen kann.« –
Daß aber durch die materialistische Weltanschauung alle großen und ernsten Gedanken zu eitlen Träumen werden, daß Zukunft und sittliche Basis verloren gehen sollen – ist eine so gänzlich willkürliche und übereilte Behauptung, daß sie auf eine ernstliche Widerlegung nicht Anspruch machen[209] darf. Zu allen Zeiten haben große Philosophen solchen Anschauungen gehuldigt und sind deswegen weder Narren noch Räuber oder Mörder oder Verzweifelnde geworden. Heute bekennen sich unsere fleißigsten Arbeiter, unsere unermüdlichsten Forscher im Gebiete der Naturwissenschaften zu materialistischen Ansichten, aber man hat niemals gehört, daß sie den Wagnerschen Voraussetzungen entsprochen hätten. Das Streben nach Kenntnis und Wahrheit und die Überzeugung von der äußeren Notwendigkeit einer gesellschaftlichen und moralischen Ordnung ersetzt ihnen mit Leichtigkeit Religion und Zukunft. Und sollte dennoch jene Erkenntnis, allgemeiner geworden, dazu beitragen, das Streben nach augenblicklichem Genuß in den Menschen, dessen Stärke übrigens zu allen Zeiten auffallend genug war und auch heute noch ist, noch zu vermehren, so könnten wir uns mit den Worten Moleschotts trösten: »Kaum dürfte jemals die Irrlehre der Genußsucht nur halbsoviel Nachfolger finden, wie die Herrschaft der Pfaffen aller Farben unglückselige Schlachtopfer gefunden hat.« – Indessen muß es uns erlaubt sein, von allen derartigen Moral- oder Nützlichkeitsfragen vollkommen abzusehen. Der oberste und einzig bestimmende Gesichtspunkt liegt in der Wahrheit. Die Natur ist nicht um der Herren Hofrat Wagner und Genossen, sondern um ihrer selbst willen da. Was können wir anders tun, als sie nehmen, wie sie ist? Würden wir uns nicht einem gerechten Spotte aussetzen, wollten wir wie kleine Kinder Tränen darüber vergießen, daß unsere Butterbemme nicht dick genug gestrichen ist! »Die empirische Naturforschung«, sagt Cotta, »hat keinen andern Zweck, als die Wahrheit zu finden, ob dieselbe nach menschlichen Begriffen beruhigend oder trostlos, schön oder unästhetisch, logisch[210] oder inkonsequent, vernünftig oder albern, notwendig oder wunderbar ist«.5
Könnte es einem Vernünftigen im Ernste einfallen, den Fortschritten der Naturwissenschaften und ihrer gerechten Beteiligung an Erörterung philosophischer Fragen ein Verbot entgegensetzen zu wollen – aus keinem andern Grunde, als weil die letzten Resultate derartiger Untersuchungen nicht solche sind, wie sie der einzelne vielleicht für sich und andere angenehm hält? Daß die Wahrheit nicht immer angenehm, nicht immer trostvoll, nicht immer religiös, nicht immer lieblich ist – ist ebenso bekannt wie die alte Erfahrung von dem beinahe vollständigen Mangel an äußerem und innerem Lohn, den sie ihren Anhängern bereitet. Wenigstens steht dieser Lohn auch nicht entfernt im Verhältnis zu den Schwierigkeiten, die der Einzelne auf solchem Wege durchzukämpfen hat. Äußerlich bestand derselbe von jeher überall, wo die Wahrheit mit den hergebrachten Meinungen in Kampf geriet, in persönlichen Gefahren und Verfolgungen; und wie zweifelhaft selbst ihr innerer Lohn sei, hat ein geistreicher Perser in trefflichen Worten ausgedrückt:
Und doch nein! wirf hin den Geist, seine Fesseln brich!
Tor sei! denn der Tor allein ist ein froher Mann.
Ewig, wie die Nachtigall bei der Rose, jauchzt
Solch ein Herz, das, Einsichtsqual, deinem Dorn entrann.
Darum, segnend seinen Gott, preise sein Geschick,
Wer, durch Irrtum selig noch, still sich freuen kann.[211]
Ihm, dem Dichter, erschien das Wesen der Dinge in seiner letzten Einfachheit und unverhüllt von der Masse jener äußerlichen Zutaten, mit denen Irrtum oder Berechnung von je die klare Sprache der Natur für den größten Teil der Menschen unverständlich gemacht haben; aber er konnte dafür auch nicht jener geistigen Unruhe, jenem Seelenschmerz entgehen, der nur demjenigen begreiflich ist, welcher gewisse Bahnen der Erkenntnis überschritten hat. Er preist gewiß mit Recht denjenigen glücklich, der »noch durch Irrtum selig ist«; aber er ermahnt ihn mit Unrecht, darum seinen Gott zu segnen. Nur der Wissende kann den Irrenden wegen seiner Beschränktheit glücklich preisen, denn nur für ihn gibt es einen Schmerz der Erkenntnis, während das Wesen des Irrtums eben vor allem darin besteht, daß er seinen eignen Irrtum weder begreift noch ahnt. Im tiefsten Bewußtsein jenes merkwürdigen Verhältnisses und vielleicht im Gedanken an den weichen, träumerischen Lebensgenuß des Orients hat der Perser gradehin aufgefordert, einen solchen Genuß dem unruhvollen Jagen nach Erkenntnis vorzuziehen. Anders fühlt und denkt die abendländische Welt; und Leben ohne Kampf und Schaffen hat für sie keinen Reiz. Die Wahrheit birgt einen inneren Reiz der Anziehung an sich, neben dem alle andern menschlichen Rücksichten leicht verschwinden, und daher wird es ihr unter den abendländischen Kulturnationen nie an begeisterten Anhängern und rücksichtslosen Verfolgern fehlen. Auch kein Verbot, keine äußere Schwierigkeit kann ihr auf die Dauer einen ernstlichen Damm entgegensetzen; sie erstarkt im Gegenteil unter der Wucht der Widerwärtigkeiten. Die ganze Geschichte des menschlichen Geschlechts ist trotz der maßlosen Summe von Torheiten, welche in ihr auftreten und sozusagen einander[212] die Hände reichen, doch ein fortlaufender Beweis für diese Behauptung. Noch unter den Foltern der Inquisition rief Galiläi sein berühmtes und seitdem tausendmal mit Begeisterung wiederholtes:
E pur si muove![213]
5 | Seitdem obiges geschrieben wurde, hat Herr Wagner von den verschiedensten Seiten her, sowohl naturwissenschaftlichen als philosophischen, so derbe und treffende Zurechtweisungen erhalten, daß eine weitere Polemik gegen denselben fast nutzlos erscheint. Herr Wagner hat überdem in seinem Schriftchen über Glauben und Wissen so geringe philosophische Fähigkeiten an den Tag gelegt, daß er gewiß besser getan hätte, die alte Warnung zu beherzigen: Ne sutor ultra crepidam! |
Ausgewählte Ausgaben von
Kraft und Stoff
|
Buchempfehlung
Während seine Prosa längst eigenständig ist, findet C.F. Meyers lyrisches Werk erst mit dieser späten Ausgabe zu seinem eigentümlichen Stil, der den deutschen Symbolismus einleitet.
200 Seiten, 9.80 Euro
Buchempfehlung
Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Michael Holzinger hat für den zweiten Band sieben weitere Meistererzählungen ausgewählt.
432 Seiten, 19.80 Euro