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[19] Die Welt ist unbegrenzt, unendlich.
Cotta
Ist der Stoff unendlich in der Zeit, d.h. unsterblich, so ist er nicht minder ohne Anfang oder Ende im Raum; die unserem endlichen Geiste äußerlich anerzogenen Begriffe von Zeit und Raum finden auf ihn keine Anwendung. Einerlei ob wir nach der Ausdehnung des Stoffes im kleinsten oder im größten fragen oder suchen – nirgends finden wir ein Ende oder eine letzte Form desselben. Als die Erfindung des Mikroskops früher unbekannte Welten aufschloß und eine bis da nicht geahnte Feinheit der organischen Formelemente dem Auge des Forschers entdeckte – da näherte man die kühne Hoffnung, der letzten organischen Form, vielleicht dem Grunde des Entstehens, auf die Spur zu kommen. Diese Hoffnung schwand in dem Maße, als sich unsere Instrumente verbesserten. In dem hundertsten Teile eines Wassertropfens zeigt uns das Mikroskop eine Welt kleiner Tiere, oft von den feinsten und ausgeprägtesten Formen, welche sich bewegen, fressen, verdauen, leben wie jedes andere Tier und mit Organen versehen sind, über deren genauere Struktur uns jede Vermutung fehlt. Die kleinsten derselben sind auch der stärksten Vergrößerung kaum ihren äußeren Umrissen nach erreichbar; ihre innere Organisation bleibt uns natürlich vollkommen unbekannt, noch unbekannter, welche noch kleinere Formen lebender Wesen existieren können. Wird man bei noch verbesserten Instrumenten, fragt Cotta, die Monaden als Riesen unter einer[19] Zwergwelt noch kleinerer Organismen erblicken? Das Rädertier, welches den zehnten oder zwanzigsten Teil einer Linie groß ist, hat einen Schlund, gezahnte Kiefer, Magen, Darm, Drüsen, Gefäße und Nerven. Die pfeilschnell dahinschießende Monade mißt den 2000sten Teil einer Linie, und in einem Tropfen Flüssigkeit finden sich Millionen derselben; dieses Tier muß Bewegungsorgane haben, und die Art seiner Bewegungen läßt keinen Zweifel darüber, daß es Empfindung und Wille besitzt, daß es also auch Organe haben muß, welche solche zu vermitteln imstande sind. Wie aber diese Organe beschaffen sind, welche stofflichen Elemente ihrem Baue zugrunde liegen, darüber hat uns bis jetzt unser Auge noch keinen Aufschluß geben können. Die Samenkörner eines in Italien vorkommenden Traubenpilzes sind so klein, daß ein menschliches Blutkörperchen unter dem Mikroskop als ein Riese gegen dieselben erscheint: die Blutkörperchen selbst aber sind von solcher Kleinheit, daß ein Tropfen Blut mehr als fünf Millionen derselben enthält. In jenem Samenkorne lebt die organische Kraft der Fortpflanzung, eine besondere komplizierte Zusammenordnung der stofflichen Elemente, von der wir uns keinen Begriff machen können, da unsere Sehkraft hier ein Ende hat. – Ein Atom nennen wir einen kleinsten Stoffteil, den wir uns als nicht mehr teilbar vorstellen, und denken uns allen Stoff aus solchen Atomen zusammengesetzt und durch gegenseitige An- und Abstoßung derselben existierend und seine Eigenschaften erhaltend. Aber das Wort Atom ist nur ein Ausdruck für eine uns notwendige und von uns äußerlich an den Stoff herangebrachte Vorstellung, eine Vorstellung, welcher wir für gewisse äußere Zwecke bedürfen. Ein wirklicher Begriff von dem Dinge, das wir[20] Atom nennen, geht uns vollkommen ab; wir wissen nichts von seiner Größe, Form, Zusammensetzung usw. Niemand hat es gesehen. Und die spekulativen Philosophen leugnen die Existenz der Atome, weil sie nicht zugeben, daß ein Ding existieren könne, das man sich nicht als weiter teilbar vorstellen könne. Somit führen uns weder Beobachtung, noch Nachdenken in der Betrachtung des Stoffes im kleinsten an einen Punkt, an dem angelangt wir haltmachen könnten, und es fehlt uns alle Aussicht, daß dies jemals geschehen werde. Daher können wir nicht anders als sagen: der Stoff und damit die Welt ist unendlich im kleinsten; und es kommt nicht darauf an, ob unser Verstand, der überall ein Maß oder Ziel zu finden sich gewöhnt hat, in seiner endlichen Beschränkung vielleicht einen Anstoß an solcher Idee nimmt.
Wie das Mikroskop im kleinen, so führt uns das Fernrohr im großen Weltall. Auch hier dachten die Astronomen in kühnem Mute an das Ende der Welt vorzudringen, aber je mehr sich ihre Instrumente vervollkommneten, um so unermeßlicher, unerreichbarer dehnten sich neue Welten vor ihrem erstaunten Blick aus. Die leichten, weißen Nebel, welche bei hellem Himmel dem bloßen Auge am Firmamente erscheinen, löste das Fernrohr in Myriaden von Sternen, von Welten, von Sonnen und Planetensystemen auf, und die Erde mit ihren Bewohnern, welche man sich so gern und selbstgefällig als Krone und Mittelpunkt des Daseins vorgestellt hatte, sank von ihrer eingebildeten Höhe zu einem im Weltenraume schwimmenden Atom herab. Die Entfernungen, welche die Astronomen im Weltall berechnet haben, sind so maßlos, daß unser Verstand bei deren Betrachtung schwindelt und sich verwirrt. Das Licht, welches eine so ungeheuere Schnelligkeit besitzt, daß es Millionen[21] Meilen in einer Minute zurücklegt, bedurfte dennoch nicht weniger als 2000 Jahre, um von der Milchstraße bis auf unsere Erde zu gelangen! Konnten wir also keine Grenze für den Stoff im kleinen finden, so sind wir noch weniger imstande, an eine solche im großen zu gelangen, wir erklären ihn für unendlich nach beiden Richtungen, im Größten wie im Kleinsten, und unabhängig von der Beschränkung durch Raum oder Zeit. Wenn die Gesetze des Denkens eine Teilbarkeit der Materie ins Unendliche statuieren, wenn es weiter nach ihnen unmöglich ist, eine Endlichkeit des Raums und demnach ein Nichts auch nur vorzustellen, so sehen wir hier eine merkwürdige und befriedigende Übereinstimmung logischer Gesetze mit den Resultaten unserer naturwissenschaftlichen Forschungen. Wir werden später Gelegenheit finden, die Identität der Denkgesetze mit den mechanischen Gesetzen der äußeren Natur auch an anderen Punkten nachzuweisen.[22]
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Kraft und Stoff
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