I. [91] Die Stufen der Liebe

1.

Was ist Edlen gut zu sehen? Liebchens klares Angesicht.

Was zu atmen? dessen Mundhauch. Was zu hören? dessen Wort.

Was zu kosten? dessen Lippe. Was zu fühlen? dessen Leib.

Was zu denken? dessen Anmut. Reizend ist es allerwärts.


2.

Sagen denn nicht unsre Dichter etwas sehr Verkehrtes

Von den Frauen, wenn sie stets von schwachen Frauen reden?

Die, von deren schwanker Augensterne Blitz getroffen

Himmelsgötter selbst erliegen, sind die schwach zu nennen?


3.

Ohne daß die Locken flattern und sich weit das Aug' auftut,

Ohne daß die Lippen aufgehn mit der reinen Zähne Glanz,

Ohne daß die Perlenschnur schwankt auf des Busens Doppelhöhn,

Auch in völl'ger Ruhe setzt in Unruh' uns ein schöner Leib.


[91] 4.

Scheine Lampe, glänze Feuer, leuchte Sonne, Mond und Stern;

Fern von euch, Gazellenaugen, ist die Welt mir Finsternis.


5.

Sieht man sie nicht, begehrt man sie zu sehn nur,

Und sieht man sie, wünscht man sie bloß zu küssen,

Und wenn man dann sie küßt, die Großgeaugte,

Verlangt man völlig mit ihr zu verwachsen.


6.

Der an die Brust gesunkenen mit aufgelösten Locken,

Der noch ein wenig blinzenden mit zugeknosptem Auge,

Der von des Liebeskampfes Schweiß am Wangensaum betrieften

Geliebten Frauen Lippenseim, ihn trinken Hochbeglückte.


7.

Wenn der Freund im Regengusse nicht das Haus verlassen kann,

Und des Frostes wegen fester ihn die Schöne drückt ans Herz,

Dann der Wind mit kalten Tropfen ihre Lustermattung kühlt,

Wird das schlechte Wetter gutes für beglückte Liebende.


[92] 8.

Ihr wählt euch eure Meister von den frommen Schriftgelehrten,

Doch wir, anmutig redender Poeten Jünger sind wir.

Denn nicht in jenem Leben gibt's ein höhres Glück als Tugend,

Doch keine Lust in dieser Welt als klargeaugte Frauen!


9.

Sich selbst und uns betrügt der Schriftgelehrte,

Der ungebührlich schöne Mädchen schimpft.

Zwar ist das Paradies die Frucht der Buße,

Doch Mädchen sind die Paradiesesfrucht.


10.

Nenne nur das Weib! und weder Gift noch Nektar gibt es sonst;

Abgeneigt ist sie ein Giftbaum, zugeneigt ein Nektarzweig.


11.

Mit dem einen kost sie traulich, nach dem andern blickt sie hold,

Denkt im Stillen an den dritten; wen denn liebt sie eigentlich?


12.

Als uns umgab Unwissenheit verliebter Finsternisse,

War in Gestalt des Weibes uns die ganze Welt erschienen,

Nur unser Aug' erhellt ist von bess'rer Einsicht Salben,

Erkennt der einsgewordne Blick die ganze Welt als Brahma.

Quelle:
Indische Liebeslyrik. Baden-Baden 1948, S. 91-93.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Klopstock, Friedrich Gottlieb

Hermanns Schlacht. Ein Bardiet für die Schaubühne

Hermanns Schlacht. Ein Bardiet für die Schaubühne

Von einem Felsgipfel im Teutoburger Wald im Jahre 9 n.Chr. beobachten Barden die entscheidende Schlacht, in der Arminius der Cheruskerfürst das römische Heer vernichtet. Klopstock schrieb dieses - für ihn bezeichnende - vaterländische Weihespiel in den Jahren 1766 und 1767 in Kopenhagen, wo ihm der dänische König eine Pension gewährt hatte.

76 Seiten, 5.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier III. Neun weitere Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier III. Neun weitere Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Für den dritten Band hat Michael Holzinger neun weitere Meistererzählungen aus dem Biedermeier zusammengefasst.

444 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon