Erstes Buch

[9] Ich, der begeistert und frisch einst fröhliche Weisen geschaffen,

Muß nun, kummergebeugt, singen ein trauriges Lied!

Also geboten es mir die trostlos klagenden Musen;

Ach, mein eigener Sang lockt mir die Thränen hervor.

Denn nur die Musen allein verscheuchte das herbe Geschick nicht;

Treue Begleiter, wie sonst, folgen auch heute sie mir!

Sie, die mit Ruhm geschmückt die fröhliche, goldene Jugend,

Tröstenden trauernden Greis, jetzt, da das Glück ihn verließ!

Plötzlich brach es herein, von Leiden beschleunigt, das Alter,

Und es erschien die Zeit, welche den Schmerzen gehört.

Schneeige Weiße bedeckt zu früh die Haare des Hauptes,

Schlaff auch erzittert die Haut um den entkräfteten Leib!

Selig der Tod, wenn er nicht den Lebensfrohen dahinrafft,

Wenn er dem Trauernden naht, der ihn so oft sich gewünscht!

Wehe, wenn er mit taubem Ohr den Beladenen abweist,

Wenn er nicht schließen will, grausam, das thränende Aug'!

Trügendes Glück umschmeichelte mich mit flüchtigen Gaben:

Da, mit vernichtender Kraft, nahte die Stunde des Leids!

Jetzt, da, veränderten Blicks, so finster das Leben mich anschaut,

Zieht es, erbarmungslos, qualvoll unendlich sich hin!

Weshalb habt ihr so oft mein Schicksal gepriesen, o Freunde?!

Ach, wer im Unglück versank, stand auch im Glücke nicht fest!
[9]

Während ich solche Gedanken still für mich im Herzen bewegte und meine jammernde Klage mit dem Schreibgriffel aufzeichnete, da erschien mir zu Häupten eine Frauengestalt von ehrfurchtgebietender Hoheit, mit glühenden Augen von so durchdringender Kraft, wie sie sonst den Menschen nicht eigen ist. Frisch war ihre Gesichtsfarbe und unerschöpft ihre Körperkraft, obgleich sie schon ein so langes Leben hinter sich zu haben schien, daß man sie kaum noch unserem Zeitalter zurechnen konnte. Ihre Gestalt war eine wechselnde. Bald nämlich schrumpfte sie auf das gewöhnliche Maß der Menschen zusammen, bald wieder schien sie mit der Höhe des Scheitels die Wolken zu berühren. Hätte sie das Haupt noch höher erhoben, so wäre sie in den Himmel selbst eingedrungen und den Blicken der Menschen entschwunden. Ihre Kleider waren von den dünnsten Fäden, aber aus unverwüstlichem Stoff, mit der feinsten Kunstfertigkeit gewebt und zwar, wie sie mir später erzählte, das Werk ihrer eigenen Hände. Äußerlich zeigten sie indes die Verschossenheit eines vernachlässigten Alters, verwitterten und bestaubten Gemälden vergleichbar. Im untersten Saum war der griechische Buchstabe P, im obersten ein Th eingewirkt zu lesen und zwischen beiden wurden gewisse, in Form einer Treppe angeordnete Stufen sichtbar, mittelst deren, wie es schien, ein Aufstieg von dem unteren zu dem oberen Buchstaben stattfinden sollte. – Gewaltthätige Hände hatten übrigens das ganze Gewand zerrissen und einzelne Teile davon, deren sie habhaft werden konnten, mit sich fortgenommen.

In der rechten Hand, trug die Gestalt Bücherrollen, in der linken ein Scepter.

Als sie nun die Musen der Dichtkunst, die meinen Klagen die Worte liehen, an meinem Lager stehen sah, da begann sie erregt zu werden und sprach mit finster funkelnden Augen:[10] »Wer hat diese Theaterdirnen zu diesem Kranken zugelassen, um seine Leiden nicht nur durch kein Heilmittel zu lindern, sondern durch süßes Gift nur noch mehr zu entfachen? Denn sie sind es, die mit den unfruchtbaren Dornen der Affekte die fruchtschwangere Saat der Vernunft töten und den Geist der Menschen an die Krankheit gewöhnen, statt ihn davon zu befreien! Erträglicher würde mir ihre Missethat noch erscheinen, wenn sie, wie gewöhnlich, irgend einen untergeordneten Geist durch ihre Lockungen auf Abwege gebracht hätten. Aber nun diesen Mann, der in eleatischen und akademischen Studien aufgezogen ist!

Nun aber fort mit euch, ihr Sirenen, die ihr eure Opfer bis an den Rand des Verderbens so süß umschmeichelt! Überlaßt diesen Mann mir und meiner Muse zur Pflege und zur Heilung!«

So gescholten senkte der Chor der Musen traurig das Antlitz zur Erde und als diese falschen Trösterinnen die Schwelle verließen, zeugte ihr Erröten von ihrer tiefen Beschämung.

Ich aber, dessen Gesicht noch von den strömenden Thränen verdunkelt war, so daß ich noch nicht erkennen konnte, wer denn dieses Weib von so majestätischer Hoheit sei, ich erwartete staunend, mit zu Boden gesenktem Blick, was sie nun weiter beginnen werde. Sie aber trat näher herzu, ließ sich auf dem äußersten Ende meines Lagers nieder, blickte mir in das tieftraurige, von Schmerz zu Boden geneigte Antlitz und beklagte dann in folgenden Versen die Verwirrung meines Geistes:

»Wehe, wie tief hinab sank in den Abgrund

Dein umdüsterter Geist, blind für das eigne

Licht, und in dunkle Nacht will er sich senken,

Wenn, von des Lebens Sturm mächtig entfesselt,

Ins Unendliche wächst nagende Sorge?!

Du, dem der Himmel einst offen erstrahlte![11]

Der durch den Äther frei pflegte zu schweifen!

Der du die Sonne sahst, rosigen Scheines,

Der du geschaut des Monds eisige Klarheit!

Auch die schweifende Bahn aller Gestirne,

Die am Himmelsgezelt ziehn ihre Kreise,

Hat dein siegender Geist sicher berechnet!

Auch die Gründe, warum pfeifende Stürme

Wild bewegendes Meers ruhige Fläche;

Welche Gewalt im Kreis schwinge den Erdball,

Wie sich in roter Glut Phöbus erhebe,

Um in hesperische Flut niederzutauchen;

Wer denn dem Lenz verliehn mildere Lüfte,

Daß er mit blumiger Pracht schmücke die Erde:

All dies hast du erforscht, und die verborgnen

Kräfte der reichen Natur hast du erkundet!

Nun aber liegst du da, Nacht vor den Augen!

Auf deinem Nacken ruht lastende Fessel,

Beugt dir nieder das Haupt, und an der toten

Erde haften, o Schmach, starr deine Blicke!«

»Doch nicht zu klagen ist es jetzt an der Zeit,« fuhr sie fort, »sondern zu heilen!« Und nun richtete sie den vollen Blick ihrer Augen auf mich und fragte: »Bist du denn wirklich derselbe, der, mit meiner Milch gesäugt, mit meiner Kost aufgezogen, zur Vollkraft männlichen Geistes emporgestiegen ist? Und habe ich denn nicht wahrlich solche Waffen bereitet, die dich sicher in unbesiegter Festigkeit geschützt hätten, wenn du sie nicht selber vorschnell von dir geworfen hättest?! Erkennst du mich denn nicht? Warum schweigst du? Aus Scham oder aus ratloser Bestürzung? Ich wünschte wohl, aus Scham, aber ich sehe, es ist eine tiefe Bestürzung, die dich gebannt hält!« – Als sie mich aber auch hieraus nicht nur schweigend, sondern völlig sprachlos und stumm sah, da berührte sie mit der Hand leicht meine Brust und sprach: »Es hat keine Gefahr! Er leidet an der allen enttäuschten Gemütern gemeinsamen lethargischen Krankheit! Er hat sich selbst ein wenig vergessen, aber die Erinnerung wird ihm[12] schon zurückkommen, wenn er nur mich erst wieder erkannt hat. Damit er das kann, will ich seine Augen ein wenig aufhellen, denn der Nebel irdischer Dinge hält sie umdüstert!« – So sprach sie und mit der Falte ihres Gewandes trocknete sie meine in Thränen schwimmenden Augen.

Siehe, da riß der Schleier der Nacht, es hob sich das Dunkel,

Wieder wie früher erstarkte das Augenlicht!

Wie wenn der schnelle Nordwest in Haufen die Wolken versammelt,

Nebel und Regen umdüstern das Himmelszelt,

Wenn sich die Sonne verhüllt, kein Stern am Himmel erglänzet,

Finstere Nacht überflutet das Erdenrund:

Wenn dann, verjagend die Nacht, aus thrakischer Grotte der Nordwind

Fährt, und befreit den Tag, den gefesselten:

Siehe, da leuchtet auf einmal hervor die funkelnde Sonne!

Staunend gewahrt ihre Strahlen der Schauende!


Ganz ebenso löste sich nun auch der Nebel meines Kummers und ich faßte Mut, das Antlitz derer, die mich heilen wollte, zu erkennen zu suchen. Und so erkannte ich sie denn auch, als ich meine Augen ihr zuwandte und sie genau betrachtete, sie, meine Pflegerin, in deren Hause ich von Jugend auf heimisch gewesen war, die Philosophie! »Warum aber,« fragte ich sie nun, »bist du, o Lehrerin aller Tugenden, aus den oberen Regionen in die Einsamkeit meines Verbannungsortes herabgekommen? Etwa, damit auch du, gleich mir, angeklagt und mit falschen Beschuldigungen verfolgt werdest?!« Sie antwortete: »Sollte ich denn dich, meinen Schüler, im Stich lassen und dir nicht die Bürde tragen helfen, die du um der Verhaßtheit meines Namens willen auf dich genommen hast? Wahrlich, nicht ziemt es mir, der Philosophie, den Unschuldigen unbegleitet seinen Weg gehen zu lassen, als ob ich eine Verletzung meiner selbst fürchtete und Angst empfände wie vor etwas ganz Neuem und Unerhörtem! Du glaubst doch nicht, daß die Weltweisheit jetzt zum erstenmal unter sittenverderbten Menschen von Gefahren[13] bedrängt ist? Habe ich nicht schon bei den Alten, noch vor der Zeit unseres Platon, schwere Kämpfe mit dem Frevelmut des Aberwitzes bestehen müssen? Und hat der nämliche Platon es nicht selber erlebt, wie sein Lehrer Sokrates den Sieg eines schuldlosen Todes mit meinem Beistand errungen hat? Als dann der Haufe der Epikuräer und Stoiker und die übrigen die Erbschaft des Sokrates jeder für sich an sich zu reißen bemüht war und mich, die ich widersprach und mich widersetzte, wie eine Kriegsbeute behandelte, da zerrissen sie mein Kleid, das ich mit meinen eigenen Händen gewirkt hatte, und zogen ab in dem Glauben, daß mit den abgerissenen Fetzen ich selbst ganz und gar ihr eigen geworden sei. Da in ihnen nun aber wenigstens einige Spuren meines Wesens vorhanden zu sein schienen, so hielt sie der Unverstand für meine Jünger und mancher von ihnen wurde darum durch den Wahn der ungebildeten Menge ins Verderben gerissen! Denn wenn du auch nichts weißt von der Verbannung des Anaxagoras, von dem Gifttod des Sokrates und von den Foltern, die Zenon erlitt, obgleich diese Dinge ja sonst allgemein bekannt sind, so könntest du doch einen Canius kennen und einen Seneka und einen Soranus, deren Andenken noch nicht alt und doch auch nicht unberühmt ist! Nichts anderes zog diese Männer ins Verderben, als daß sie in meinem Geist unterwiesen waren und deshalb den Bestrebungen jener Frevler weit fern stehen mußten!

Du darfst dich also nicht darüber wundern, wenn wir auf dem bewegten Meer des Lebens von den von allen Seiten wehenden Stürmen übel mitgenommen werden, wir, denen es vornehmlich bestimmt ist, den Schlechtesten am meisten zu mißfallen! Diese letzteren bilden nun zwar ein zahlreiches Heer, das aber trotzdem zu verachten ist, da es von[14] keinem großen Führer einheitlich gelenkt, sondern vom Irrtum in planlosem, unbeständigem Wahn mit fortgerissen wird. Rafft dieser sich aber wirklich einmal zu größerer Kraftleistung auf und rüstet sich zur Schlacht gegen uns, dann wird unser Feldherr seine Truppen in eine feste Stellung zusammenziehen, die Feinde aber werden mit dem Plündern, wertloser Beutestückchen ihre Zeit verlieren. Ja, mit Verachtung sehen wir herab auf jene, die nur immer das Schlechteste sich zu eigen zu machen suchen, sicher sind wir vor dem ganzen wilden Ansturm, hinter einem festen Wall, gegen den der anrückende Unverstand sich nimmer heranwagen darf!«


Wer, ein fertiger Mann, mit heiterm Sinne

Achtet nicht des Geschickes rauher Willkür,

Wer ihm immer gefaßt ins Auge blicket,

Unerschüttert, ob Glück es bringt, ob Unglück:

Den schreckt nimmer das wilde Droh'n des Meeres,

Das bis tief in den Grund die Fluten aufregt,

Nicht der tückische Berg, der dampfend schleudert

Aus geborstener Esse Glutgeschosse,

Nicht die zackige Bahn der hellen Blitze,

Sie, die größte Gefahr der stolzen Türme!

Weshalb fürchten so sehr die armen Menschen

Nichts vermögender Fürsten wildes Wüten?

Fürchte nichts und erhoffe nichts: es steht dann

Vor dir waffen- und machtlos jede Drohung!

Doch wer zittert in Furcht, und wünscht begehrlich

Sich vergängliches Gut, das nicht ihm zukommt:

Der läßt fallen den Schild, dem Feinde weichend,

Schlägt sich selber in schwere Sklavenketten!


»Fühlst du dies nun nicht?« fragte sie dann, »und dringen diese Worte nicht ein in deinen Sinn? Oder machen sie nicht mehr Eindruck auf dich als in jener Fabel das Saitenspiel auf den Esel? Was weinst du? Was zerfließt du in Thränen?!


[15] ›Rede heraus, nichts hehlend, damit wir beide es wissen!‹


Wenn du die Mühwaltung des Arztes erwartest, mußt du deine Wunden bloßlegen!«

Da raffte ich endlich meine Geisteskräfte zusammen und sprach: »Bedarf es denn noch einer Erinnerung und ist es nicht an sich offenbar genug, wie grausam das Geschick gegen mich wütet?! Mahnt daran nicht schon das Äußere dieses Ortes? Ist es etwa die Bibliothek, die du dir als deinen sichersten Sitz in meinem Heim in Rom selber erkorst? In der du so oft mit mir saßest und mit mir über alles Wissen von den göttlichen und menschlichen Dingen Zwiesprache hieltest? War so etwa mein Aussehen und waren so meine Mienen, als ich mit dir die Geheimnisse der Natur erforschte, als du mir die Bahnen der Gestirne mit dem Zirkel beschriebst, als du unsere Sittenlehre und alle unsere Lebensprinzipien auf himmlische Vorbilder zurückführtest? Ist dies der Lohn dafür, daß ich dir folgte? Du hattest doch durch den Mund des Platon jenes Wort verkündet, daß diejenigen Staaten glücklich sein werden, die von Philosophen regiert werden oder deren Regenten sich der Philosophie befleißigen! Und hast du es nicht durch den Mund desselben Mannes feierlich ausgesprochen, daß der zwingende Grund für die Weisen, sich des Staates anzunehmen, darin bestehe, daß sie die Leitung des Gemeinwesens nicht sittenlosen und frevelhaften Menschen überlassen wollen, die durch ihre Herrschaft Verderben und Untergang über alle Guten bringen würden?! Der Autorität dieser Aussprüche folgte ich, als ich mich bestrebte, das von dir in stiller Muße Erlernte in der praktischen Staatsverwaltung anzuwenden. Du selbst und die Gottheit, die dich in den Geist der Menschen einziehen ließ, ihr wißt es, daß mich nur das Interesse an der Verwirklichung alles Guten[16] bewog, die staatsmännische Laufbahn einzuschlagen! Deswegen hatte ich auch so schwere und unerbittliche Kämpfe mit den Übelgesinnten zu bestehen, und weil ich frei meinem Gewissen folgte, erfuhr ich den Haß der Gewaltigen, dem ich mich immer mutig aussetzte, wenn es das Recht zu schützen galt. Wie oft habe ich mich dem Konigastus, der das Vermögen jedes Schwachen an sich zu reißen suchte, entgegengestellt, wie oft habe ich eine von Triggvilla, dem Vorsteher des königlichen Hauses, begonnene oder gar schon fast vollendete ungerechte That noch im letzten Augenblick vereitelt, wie oft habe ich die Unglücklichen, die von der stets unbestraften Habgier der Barbaren mit unzähligen Verleumdungen umgarnt waren, durch mein Ansehen, mit eigener Gefahr, geschützt! Nie hat es jemand vermocht, mich vom Recht zum Unrecht hinüberzuziehen! Das traurige Geschick der Provinzialen, die bald durch private Räubereien, bald durch den Druck der Staatssteuern an den Rand des Verderbens gebracht wurden, habe ich ebenso schmerzlich empfunden, wie sie selber, die es erlitten. Als in der Zeit der bitteren Hungersnot die schwere und scheinbar unabwendbare Maßregel eines Aufkaufs alles Getreides anbefohlen war, welche die Provinz Campanien in schwerste Bedrängnis zu bringen drohte, da habe ich um des Allgemeinwohls willen den Kampf mit dem Gardepräfekten aufgenommen, habe ihn mit Wissen des Königs Theoderich durchgekämpft und habe es schließlich erreicht, daß jener Aufkauf nicht zur Ausführung kam. Den Konsular Paulinus, dessen Güter die gemeinen Kreaturen am Königshofe fast schon zu verschlingen hoffen durften, habe ich von den geöffneten Rachen dieser Hyänen glücklich noch hinweggerissen! Um ferner zu verhindern, daß der Konsular Albinus durch die auf eine im voraus schon entschiedene Anklage hin verhängte Strafe zu Grunde gerichtet werde, stellte ich mich dem Ankläger Cyprianus entgegen und zog mir dadurch den Haß auch dieses Menschen zu. Habe ich also nicht genug[17] Übelwollen und Erbitterung gegen mich entflammt?! Weil ich aber so, aus Liebe zur Gerechtigkeit, nichts that, um mir den Schutz der Höflinge zu gewinnen, so hätte ich darum doch bei den übrigen um so sicherer zu sein verdient. Aber auf welcher Männer Anklage hin bin ich schließlich gefallen?! Einer von ihnen, Basilius, früher aus dem königlichen Dienst entlassen, ist nur durch die Last seiner Schulden zur Anzeige meines Namens veranlaßt worden. Die beiden andern aber, Opilo und Gaudentius, waren früher wegen unzähliger und mannigfaltiger Vergehen durch königlichen Strafbefehl verbannt worden, hatten demselben jedoch nicht Folge leisten wollen und sich deshalb in den Schutz eines heiligen Gotteshauses begeben. Als nun der König dies erfuhr, drohte er, falls sie nicht bis zu einem bestimmten Tage die Stadt Ravenna verlassen hätten, so würden sie, mit Brandmalen an der Stirn gezeichnet, schimpflich hinausgejagt werden. Ist eine größere Strenge überhaupt möglich? Und dennoch: als dann an jenem Tage diese selben Menschen als Ankläger gegen mich auftraten, da wurde ihre Anklage angenommen! Was sagst du nun? Haben meine Thaten das verdient? Oder waren etwa jene durch ihre vorausgegangene Verurteilung als gerechte Ankläger qualifiziert?! Und ist es also nicht wahr, daß die Schickung vor gar nichts zurückschreckt, wenn sie nicht einmal auf die Unschuld des Angeklagten oder die Gemeinheit der Ankläger Rücksicht nimmt?

Fragst du nun nach dem Hauptpunkt der Anklage, so bestand dieser darin, daß ich das Heil des Senats gewollt haben soll. Wie aber hat sich das geäußert? Ich werde beschuldigt, den Denunzianten gehindert zu haben, Dokumente vorzulegen, durch die er den Senat in einen Majestätsprozeß hätte hineinziehen können. Was meinst du nun, du, meine Lehrmeisterin? Soll ich das Verbrechen leugnen, um dir keine Schande zu machen? Aber das, was mir vorgeworfen wird, das habe ich ja wirklich gewollt, und[18] werde nie aufhören, es zu wollen. Soll ich gestehen? Dann würde ich verurteilt und damit mein Thun, die Delatoren in ihrem Treiben zu hindern, für die Zukunft unmöglich gemacht werden. Und soll ich es denn ein Unrecht nennen, daß ich das Heil jenes Standes gewünscht habe? Der Senat selbst hat freilich durch seine Dekrete gegen mich bewirkt, daß es eigentlich ein Unrecht ist, ihm beizustehen! Aber die sich selber stets belügende Unvernunft kann doch den wahren Wert der Dinge nicht ändern und, getreu dem Wort des Sokrates, glaube ich unter keinen Umständen die Wahrheit verleugnen und die Lüge bestätigen zu dürfen!

Übrigens überlasse ich die Beurteilung der ganzen Sache dir und den wahren Philosophen. Den wirklichen Verlauf der Angelegenheit habe ich, damit er der Nachwelt nicht verborgen bleibe, schriftlich zum Andenken aufgezeichnet. Denn was soll ich hier noch über die gefälschten Briefe sagen, in denen ich angeblich überführt werde, die Freiheit Roms erhofft zu haben. Der hiermit geübte Betrug würde klar zu Tage getreten sein, wenn ich mich des Geständnisses der Ankläger selbst hätte bedienen dürfen, das doch sonst in allen Verhandlungen von dem größten Gewicht zu sein pflegt. Kann man denn überhaupt noch auf irgend eine Freiheit hoffen? Wie wünschte ich, daß man es könnte! Ich würde mich der Worte des Canius bedienen, als Cajus Cäsar, der Sohn des Germanicus, behauptete, er habe um eine gegen ihn angezettelte Verschwörung gewußt. Canius sagte: ›Hätte ich darum gewußt, so würdest du nichts davon wissen!‹

Schwerer Kummer hat natürlich mein Gemüt lähmend ergriffen angesichts aller dieser von bösen Menschen gegen die Tugend angezettelten Anschläge. Aber das ist noch nicht das schlimmste. Mit dem höchsten Entsetzen hat mich vielmehr die Thatsache erfüllt, daß jene Frevler ihre verruchten Pläne auch wirklich ausführen konnten! Denn daß wir böse Absichten fassen, das liegt vielleicht in der Mangelhaftigkeit unserer Natur, aber daß ein jeder seine schändlichen[19] Anschläge gegen die Unschuld vor den Augen der Gottheit auch durchsetzen kann, das ist etwas Furchtbares! Daher fragte auch dein Jünger Epikur nicht mit Unrecht: ›Wenn es einen Gott giebt, woher stammt dann das Böse, und woher das Gute, wenn es keinen giebt?!‹

Wenn übrigens jene Frevler, die nach dem Blut aller Guten und dem des ganzen Senats lechzen, auch mich zu verderben wünschten, den sie stets als einen Verteidiger der Guten und des Senats gesehen hatten, so war das ja etwas ganz Natürliches. Aber habe ich denn auch von seiten der Senatoren selber die gleiche Behandlung verdient? Du wirst dich gewiß noch daran erinnern – denn du warst ja immer bei mir und leitetest mich in all meinem Thun und Reden – du wirst dich noch daran erinnern, sage ich, wie sicher ich mein Verderben vor Augen sah, als damals in Verona der König, der alle Senatoren zu verderben wünschte, die gegen Albinus erhobene Anklage wegen Majestätsverbrechens auf den ganzen Senat auszudehnen suchte, und ich dann für die Unschuld des gesamten Senats einzutreten wagte! Du weißt auch, daß ich dies alles der Wahrheit gemäß berichte und mich dabei in keiner Weise mit eitlem Selbstlob brüste! Wird ja doch der Wert der inneren Zustimmung und Befriedigung des eigenen Gewissens nur herabgemindert, wenn man mit seinen Thaten prahlt und äußeren Ruhm dafür einzuernten sucht! Aber was meiner Unschuld geschah, das siehst du ja! Statt des Lohnes der wahren Tugend erhielt ich die Strafe für ein erfundenes Verbrechen, und wann sind wohl jemals die Richter einer offen eingestandenen Schandthat gegenüber so einmütig in ihrem strengen Urteil gewesen, daß sich nicht wenigstens einige von ihnen durch die Rücksicht auf die Irrtumsfähigkeit des Menschengeistes und die für einen jeden so unberechenbare Schicksalsfügung erweichen ließen?! Wäre ich angeklagt gewesen, die Anzündung der heiligen Tempel, die Ermordung der Priester mit ruchlosem Schwert, den Tod[20] aller Guten geplant zu haben, dann würde ich doch persönlich vernommen und das Urteil nur nach meinem Geständnis oder meiner Überführung gefällt worden sein. Nun aber werde ich, fünfhundert Meilen weit entfernt, ohne reden und mich verteidigen zu können, gerichtet und zum Tode verurteilt, weil ich zu viel Eifer für das Wohl des Senats gezeigt habe! Ja wahrlich, die Senatoren verdienten es, daß niemals jemand dieses Verbrechens überführt werden könnte!

Die Würde meiner That erkannten ja sogar meine Ankläger, und deshalb, um mein Thun durch Beimischung eines verbrecherischen Elements zu schänden, erfanden sie die Lüge, ich habe nur aus Verlangen nach Ehre und Ansehen mein Gewissen mit einem solchen Frevel befleckt! Und doch hast du selber, in mir wirkend, alles Streben nach irdischen Gütern aus meiner Seele verbannt und einen Frevel hätte ich unter deinen Augen nicht begehen können. Denn du flüstertest mir täglich ins Ohr und ließest in meine Gedanken eindringenden pythagoräischen Spruch: ›Folge Gott nach!‹ und nicht geziemte es mir, den Schutz so niederer Geister zu suchen, mir, den du zu einem solchen Grade der Vollkommenheit erhöhtest, daß ich Gott ähnlich erschien! Außerdem schützt mich die unbefleckte Heiligkeit meines Hauses, die Schar meiner höchst ehrenwerten Freunde und auch die Person meines sittenreinen und dir selbst an Ehrwürdigkeit vergleichbaren Schwiegervaters Symmachus vor jedem Verdacht dieses Verbrechens!

Aber, o Frevel, meine Ankläger und Richter leiten aus dir selber den Beweis für die mir zugeschriebene Unthat her! Gerade deswegen soll ich jenes Verbrechens schuldig sein, weil ich in deinen Lehren bewandert und in den Sätzen deiner Moral unterwiesen bin! Nicht genug also, daß mir meine Verehrung für dich von keinem Nutzen gewesen ist: ganz ausdrücklich auch gegen dich richtet sich die Anklage, deren Opfer ich geworden bin!

Was aber meinem Unglück die Krone aufsetzt, ist die[21] auch hier wieder bewährte Thatsache, daß die meisten Menschen bei ihrer Schätzung nicht auf den wahren Wert sehen, sondern auf den Ausgang, den die Sache schließlich nimmt, und daß sie nur das für wohlüberlegt und gut hatten, dem das Glück sich hold gezeigt hat! Daher verläßt denn auch der gute Ruf immer zuerst die Unglücklichen. An all das Gerede, das jetzt unter dem Volk umgeht, an all die mannigfachen und sich widersprechenden Ansichten mag ich gar nicht denken! Nur das eine sage ich: die schwerste Last, die das Mißgeschick auferlegt, besteht darin, daß der Unglückliche das Leiden, das er infolge eines ihm angedichteten Verbrechens erdulden muß, immer auch wirklich verdient zu haben scheint! So mußte auch ich, aller Güter beraubt, aller Würden verlustig, in meinem guten Ruf geschändet, wegen guter Thaten schlimme Strafe leiden!

Ich glaube die ganze Schmach vor Augen zu sehen: wie die Hexenküchen der Frevler in Jubel und Freude schwimmen, wie die allerverworfensten Subjekte mit neuen schändlichen Denunziationen drohen, wie alle Guten entsetzt ob des Mißgeschicks, das mich betroffen, daniederliegen, wie jeder Schuft durch die Straflosigkeit zum Wagen, durch die Aussicht auf Belohnung zum Durchführen jeglicher Übelthat angelockt wird und wie alle Unschuldigen nicht nur der Sicherheit, sondern selbst des Rechtes der Verteidigung sich beraubt sehen! Da kann man dann wohl klagend ausrufen:


›O Schöpfer des himmlischen Sternengezelts,

der machtvoll herab von dem ewigen Thron

den Himmel bewegt in kreisender Bahn:

Du bindest die Sterne durch festes Gesetz,

du lässest des Vollmonds silbernen Schein,

geschützt vor der Sonne gewaltigem Strahl,

verfinstern der Sterne geringeres Licht;

du läßt, wenn zu kühn sie dem Phöbus genaht,

erbleichen die Scheibe der Luna!

Des Abends Gestirn, mit dem eisigen Licht,[22]

es leuchtet am Himmel im Anfang der Nacht.

Als Lucifer aber, veränderten Wegs,

verkündet es schwindend den sonnigen Tag!

Du bist es, der kürzer die Tage bemißt

dem eisigen Winter, der alles entlaubt;

Doch nahet der Sommer, so wonnig und warm,

beschränkst du die nächtlichen Stunden.

In stetigem Wechsel erhältst du das Jahr:

Das liebliche Laub, das der Nord uns entführt,

der mildere Zephyr, er bringt es zurück!

Und was der Arcturus als Keim erst geschaut,

das reifendes Sirius Gluten!

So folgen die Dinge dem alten Gesetz

und jedes erfüllt seine Pflichten getreu.

Doch, der du das All so gewaltig regierst,

du hast es verschmäht, der Sterblichen Thun,

so wie sie's verdient, zu beschränken!

Warum denn so launenhaft ist das Geschick?!

Was nur das Verbrechen als Strafe verdient,

trifft oft so verderblich des Schuldlosen Haupt!

Verworfene Sitten bestiegen den Thron

und traten zu Boden mit frevelndem Fuß,

dem Rechte zum Trotze, die guten!

Verdunkelt verschwand in der finsteren Nacht

die Leuchte der Tugend, und immer die Schuld

des Ruchlosen trägt der Gerechte!

Es schadet den Bösen der Eidbruch nicht

und nicht der so lieblich verhüllte Betrug,

und wenn sie's gelüstet, sie lenken den Sinn

der mächtigen Fürsten, vor denen sich tief

in Demut beugen die Völker!

Du, der du der Welten Geschicke verknüpfst,

erbarme dich endlich der irdischen Not!

Uns Menschen, der Schöpfung erhabensten Teil,

bedrängt des Geschickes gewaltige Flut!

O, hemme gebietend das brausende Meer,

und wie das Gesetz du dem Himmel bestimmt,

so lenke versöhnend die Erde!‹«
[23]

Zu all diesen Klagen hatte ich mich durch die Gewalt meines Schmerzes hinreißen lassen. Meine Gefährtin aber wurde durch meine Worte nicht erregt; ruhig blickte sie mich an und sprach: »Als ich deine Trauer und deine Thränen sah, da erkannte ich zwar sofort, daß du ein Unglücklicher und ein Verbannter seist. Allein wie weit fort von der Heimat du verbannt bist, das habe ich erst jetzt durch deine eigenen Reden erfahren! Aber diese Verbannung hat keine fremde Gewalt über dich verhängt, sondern du selbst hast dich so weit fort verirrt und du selbst hast dich vertrieben, wenn du auch lieber glauben möchtest, du seiest gewaltsam vertrieben worden! Denn wahrlich, dich zu vertreiben, dazu wäre keine Gewalt imstande gewesen! Das wirst du einsehen, wenn du dich daran erinnerst, welches eigentlich dein Vaterland ist! Es wird nicht, wie das der Athener, durch den Gesamtwillen einer großen Menge regiert, sondern in ihm ist die Homerische Forderung verwirklicht:

›... Nur einer sei Herrscher,

Einer nur Fürst!...‹


Diesen Fürsten aber erfreut die Menge seiner Bürger, nicht ihre Verbannung, und von seinem Zügel gelenkt werden und seinem gerechten Willen gehorchen, das ist die höchste Freiheit! – Kennst du denn nicht mehr das höchste Gesetz deines Staates, wonach derjenige nicht ausgewiesen werden soll, der lieber dauernd in der Vaterstadt verweilen will? Denn wer sich hinter ihrem Wall und in ihrem Schutze glücklich fühlt, von dem steht nicht zu befürchten, daß er verbannt zu werden verdiene. Wer aber das Heim in der Heimat verschmäht, der verdient es auch nicht mehr!

Daher betrübt mich auch das Äußere dieses Ortes nicht so sehr wie dein eigenes Aussehen, und nicht in den mit Elfenbein und Krystall geschmückten Räumen deiner Bibliothek wünsche ich zu wohnen, sondern in deiner Seele, in die[24] ich keine Bücher, wohl aber das, was den Büchern ihren Wert verleiht, nämlich die darin enthaltenen Gedanken meiner Lehre, eingeschlossen habe!

Was du von deinen Verdiensten um das Gemeinwohl gesagt hast, ist durchaus wahr, aber viel zu bescheiden im Hinblick auf die Menge deiner guten Thaten. Ob ferner das dir Vorgeworfene wirklich tadelnswert sei und wie weit die Anklagen auf Fälschung beruhen: über diese Fragen hast du nur Allbekanntes wieder in Erinnerung gebracht. Über die Verbrechen und Betrügereien der Angeber hast du dich mit Recht in Kürze fassen zu sollen geglaubt, da dies besser und ausführlicher durch den Mund der wohlunterrichteten Menge verbreitet wird. Die Handlungsweise des ungerechten Senats hast du dann lebhaft getadelt. – Auch über die gegen mich gerichtete Anklage hast du deinen Schmerz geäußert und über die Schädigung hast du geklagt, die du durch die Befleckung deines guten Rufes erlitten hast. – Zum Schluß hast du dann die erregte Muse den Wunsch äußern lassen, daß dieselbe friedliche Ordnung, die den Himmel regiert, auch auf Erden walten möge!

Da nun aber der Sturm der Affekte im Augenblick noch zu gewaltig in dir ist und Schmerz, Zorn und Trauer dich abwechselnd beherrschen, so wirst du in deiner jetzigen Gemütsverfassung kräftigere Heilmittel wohl noch nicht vertragen können. Daher will ich zuerst ein Weilchen mildere Mittel anwenden, damit dein Geist, der durch die auf ihn einstürmenden Beunruhigungen schon so lange in höchster Erregung erhalten wird, sich allmählich durch sanfte Einwirkung beruhige, um dann auch für kräftigere Arznei empfänglich zu werden!


Wer, wenn Phöbus in heller Glut

hoch im Bilde des Krebses steht,

reiche Saaten der Erde Schoß

anvertraute, doch ach; umsonst:

[25] Den läßt Ceres im Stich, er muß

Nahrung suchen am Eichenbaum!

Finden kannst du das Veilchen blau

nicht im herbstlich gefärbten Wald,

wenn schon über das Stoppelfeld

schneidend eisiger Nordwind fährt.

Wenn du Trauben zu kosten wünschst,

kannst du nimmer im Lenze schon

gierig pflücken am Rebstock sie!

Erst im fröhlichen Herbst beschert

Bacchus seine Geschenke dir!

Gott hat jeglicher Jahreszeit

ganz besondere Pflicht bestimmt

und wo selber er Ordnung schuf,

wehrt er jeglichen Eingriff ab!

Drum, was immer in toller Hast

kühn verlassen die Satzung will,

das bleibt immer erfolglos!


Darum laß mich nun zunächst mit einigen wenigen Fragen den Zustand deines Gemüts erforschen und prüfen; damit ich sehe, welchen Weg ich bei deiner Heilung einzuschlagen habe.« – »Stelle mir,« entgegnete ich, »deine Fragen, wie du es für gut hältst. Ich bin bereit, dir zu antworten.« – Sie begann nun zu fragen: »Glaubst du, daß diese Welt von willkürlichem und regellosem Zufall bewegt wird, oder glaubst du an eine vernunftgemäße Leitung derselben?« – »Nie und nimmer,« entgegnete ich, »kann ich glauben, daß durch regellosen Zufall ein so bestimmt organisiertes Gebilde bewegt werde; ich bin vielmehr fest überzeugt, daß die Gottheit die Welt, ihr Werk, allezeit lenkt, und kein kommender Tag wird mich in dieser Überzeugung wankend machen können!« – »So ist es!« sagte jene darauf. »Das hast du ja auch vorhin in poetischen Worten ausgeführt. Nur die Menschen, so klagtest du, hätten keinen Teil an der Fürsorge der Gottheit. Daß aber alles übrige vernunftgemäß geleitet werde, daran hast[26] du niemals gezweifelt. Daß du nun mit dieser gesunden Anschauung trotzdem geistig so krank sein kannst, muß ich darüber nicht wirklich aufs äußerste erstaunt sein?! Ich muß ja annehmen, daß es irgendwo fehlt, ich weiß nur noch nicht genau, wo! Aber sage mir doch einmal, der du ja nicht daran zweifelst, daß Gott die Welt regiert: nach welchen Grundprinzipien lenkt er sie denn?« – Ich: »Kaum verstehe ich den Sinn deiner Frage, so daß ich dir keine Antwort darauf zu geben vermag.« – Sie: »Nun?! Täuschte ich mich also, als ich meinte, daß irgendwo etwas fehlen müsse, daß irgendwo, wie durch eine Mauerbresche, die sinnverwirrende Krankheit in deinen Geist eindringen konnte! – Aber sage mir, erinnerst du dich noch daran, was denn das Endziel aller Dinge sei, und wohin die Entwickelung der ganzen Natur sich richte?«

Ich: »Wohl habe ich es einst gehört, aber der Kummer hat mein Gedächtnis umnebelt!«

Sie: »Aber weißt du denn noch, von wo alles seinen Ausgang genommen hat?«

Ich: »Ich weiß es: die Gottheit ist die Quelle aller Dinge!«

Sie: »Wie ist es aber möglich, daß du den Ausgangspunkt zwar weißt, das Endziel aller Dinge aber nicht mehr kennst? So ist es aber immer mit diesen Störungen des Geistes: sie können den Menschen vom rechten Standpunkt hinwegdrängen, aber ihn völlig zu entwurzeln und ihn sich ganz zu unterwerfen, das vermögen sie nicht! – Aber antworte mir noch auf die folgende Frage: Bist du dir wohl dessen bewußt, daß du ein Mensch bist?«

Ich: »Gewiß bin ich das!«

Sie: »Kannst du mir denn auch sagen, was das ist: ein Mensch?«

Ich: »Willst du die Antwort hören: ich bin ein vernunftbegabtes, sterbliches Lebewesen? Daß ich ein solches bin, das weiß ich und das bekenne ich!«[27]

Sie: »Ist dir nichts davon bekannt, daß du vielleicht außerdem noch etwas sein könntest?«

»Nein,« sagte ich.

»Nun weiß ich auch,« sprach sie da, »eine zweite und zwar die hauptsächlichste Ursache deiner Krankheit: du weißt nicht mehr, was du selbst bist! Und damit habe ich nun den Charakter deines Leidens und zugleich auch den zu seiner Heilung einzuschlagenden Weg vollkommen erkannt! Denn weil das Dunkel der Selbstvergessenheit dich umfängt, deshalb beklagst du dich als einen Verbannten und seiner Güter Beraubten. Weil du Zweck und Endziel der Dinge nicht mehr kennst, hältst du nichtswürdige und böse Menschen für mächtig und glücklich. Weil du aber auch vergessen hast, nach welchen Grundgesetzen die Gottheit die Welt lenkt, deshalb glaubst du, daß alle diese Schickungen ohne einen höheren Regenten vom Zufall beherrscht sind: wahrlich Gründe genug, dich nicht nur krank zu machen, sondern dich zu töten! Aber Dank sei dem Geber der Gesundheit, daß dich die Lebenskraft deiner guten Natur noch nicht ganz verlassen hat! – Wir haben nun als Hauptheilmittel zu deiner Rettung deine richtige Ansicht von der Weltregierung, die du nicht für ein Spiel des blinden Zufalls, sondern der göttlichen Vernunft unterworfen hältst. Fürchte also nichts! Aus diesem kleinen Funken wird bald neue Lebenswärme dich durchströmen! Aber da für die durchgreifenderen Heilmittel die Zeit noch nicht gekommen ist und da es in der Natur des menschlichen Gemütes liegt, daß es nach Verlust der richtigen Ansicht von falschen sich leiten und in das Dunkel der Seelenverwirrungen hineinziehen läßt, die die richtige Einsicht verdüstern: so wollen wir zunächst jene Verfinsterung ein Weilchen mit linden Mitteln aufzuhellen suchen, damit der Nebel falscher Affekte sich zerstreue und du wieder fähig werdest, den Glanz des wahren Lichtes zu schauen!«


[28] Nicht durch den Wolken

düsteren Schleier

dringt der Gestirne

leuchtendes Feuer.

Wenn durch das Weltmeer

brauset der schnelle

stürmische Südwind,

siehst du die Welle,

klar an den heitern

Tagen und eben,

wenn sich durchwühlte

Sandmassen heben,

häßlich und trübe!

Auch wenn so munter

tanzet der Bach vom

Berge herunter,

lassen ihn oftmals

schnöde zerschellen

felsige Klippen!

Drum, wenn du hellen

Auges die Wahrheit

möchtest erfassen

und unentwegt stets

ziehn deine Straßen:

Hinter dir laß dann

Hoffnung und Freude,

kenne die Furcht nicht,

trotze dem Leide!

Diese Gewalten

trüben den Geist, in

Banden ihn halten![29]

Quelle:
Boetius: Die Tröstungen der Philosophie. Leipzig [o.J.], S. 9-30.
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