Fünfte Untersuchung.
Ueber das Wesen der körperlichen Dinge und nochmals über Gott, dass er besteht.

[83] Noch bleibt mir Vieles über die Eigenschaften Gottes und Vieles über meine oder meiner Seele Natur zu erforschen; doch werde ich dies vielleicht an einem anderen Orte vornehmen, denn jetzt scheint nichts dringlicher (nachdem ich erkannt, was ich thun und wofür ich mich hüten muss, um die Wahrheit zu erlangen), als dass ich von den Zweifeln, in welche ich die vorgehenden Tage gerathen bin, mich befreie, und dass ich sehe, ob etwas Gewisses über die körperlichen Dinge erreicht werden kann. Ehe ich indess untersuche, ob dergleichen Dinge ausser mir bestehen, muss ich ihre Vorstellungen; so wie sie in meinem Denken sind, betrachten und sehen, was darin deutlich und was verworren ist. Bestimmt stelle ich mir nämlich die Grösse vor, welche die Philosophen gewöhnlich die stetige nennen, oder die Ausdehnung dieser Grösse oder vielmehr der grossen Gegenstände nach Länge, Breite und Tiefe; ich zähle darin verschiedene Theile, und ich schreibe diesen Theilen Grössen, Gestalten, Längen und örtliche Bewegungen und diesen Bewegungen eine gewisse Zeitdauer zu. Indess sind mir nicht blos diese so allgemein betrachteten Bestimmungen völlig bekannt und klar, sondern ich erfasse auch, wenn ich aufmerke, unzählig vieles Besondere über Gestalten, Zahlen, Bewegung und Aehnliches, dessen Wahrheit so offenbar und meiner Natur entsprechend ist, dass ich bei ihrer ersten Aufdeckung scheinbar nichts Neues erfahre, sondern nur eines früher Gewussten mich entsinne oder nur auf das erst aufmerksam werde, was schon längst in mir war, wenn ich auch früher den Blick der Seele nicht darauf gerichtet hatte. Und was das[83] Bemerkenswertheste ist, ich finde unzählige Vorstellungen von Dingen in mir, die, wenn sie vielleicht nirgends ausser mir bestehen, doch kein Nichts genannt werden können, und obgleich ich gleichsam nach Belieben an sie denke, so sind sie doch nicht rein von mir erdacht, sondern haben ihre wahre und unveränderliche Natur. Wenn ich z.B. ein Dreieck mir vorstelle, so ist, wenn auch vielleicht eine solche Figur nirgends ausser meinen Gedanken besteht oder je bestanden bat, doch dessen Natur durchaus bestimmt, in seinem Wesen und seiner Gestalt unveränderlich und ewig und nicht von mir gemacht, noch von meiner Seele abhängig. Dies erhellt daraus, dass von diesem Dreieck verschiedene Eigenthümlichkeiten bewiesen werden können, wie, dass seine drei Winkel zwei rechten gleich sind, dass seinem gröbsten Winkel die grösste Seite gegenübersteht, und Aehnliches. Ich mag wollen oder nicht, so muss ich dies anerkennen, auch wenn ich früher bei der Vorstellung eines Dreiecks nicht daran gedacht habe, und es mithin von mir nicht erdacht sein kann. Denn es gehört nicht hierher, wenn ich sage, dass mir vielleicht von den äusseren Dingen durch die Sinneswerkzeuge diese Vorstellung des Dreiecks zugeführt worden sei, weil ich nämlich Gegenstände von solcher dreieckigen Gestalt bisweilen gesellen habe. Ich kann nämlich unzählige andere Figuren erdenken, die mir unzweifelhaft niemals durch die Sinne zugeführt worden sind, und ich kann doch von ihnen, wie von dem Dreieck, verschiedene Eigenschaften beweisen, die alle wahr sind, da ich sie klar erkenne, und die deshalb Etwas und kein reines Nichts sind. Denn es[84] ist offenbar alles Wahre ein Etwas, und ich habe bereits ausführlich gezeigt, dass alles von mir klar Erkannte wahr ist; ja, selbst wenn ich es nicht dargelegt hätte, ist doch die Natur meiner Seele gewiss derart, dass ich dann doch beistimmen müsste, wenigstens so lange ich es klar einsehe; und ich entsinne mich, dass ich auch früher, wo ich mich auf die Gegenstände der Sinne vorzüglich verliess, solche Wahrheiten, die ich von den Figuren oder Zahlen oder anderen zur Arithmetik oder Geometrie oder überhaupt zur reinen und nicht angewandten Mathematik Gehörenden klar einsah, immer für die sichersten von allen gehalten habe.

Wenn nun daraus allein, dass ich die Vorstellung eines Dinges aus meinem Denken entnehmen kann, folgt, dass Alles, was ich als diesen Dingen zugehörend klar und[85] deutlich erkenne, auch wirklich ihnen zugehört, kann da hieraus nicht auch ein Beweis für das Dasein Gottes entnommen werden? Gewiss finde ich seine Vorstellung, nämlich die eines höchst vollkommenen Wesens ebenso in mir, wie die Vorstellung irgend einer Figur oder Zahl, und ich erkenne ebenso klar und deutlich, dass das Immer-Sein zu ihrer Natur gehört, wie dass das, was ich über eine Figur oder Gestalt beweise, zur Natur dieser Figur oder Gestalt gehört. Wenn deshalb auch nicht Alles, was ich in den vorigen Tagen ermittelt habe, wahr wäre, so müsste doch das Dasein Gottes für mich wenigstens denselben Grad von Gewissheit haben, den bisher die mathematischen Wahrheiten gehabt haben.

Allerdings ist dies auf den ersten Blick nicht so klar, sondern scheint etwas sophistisch. Ich bin nämlich gewohnt, in allen anderen Dingen die Wesenheit von dem Dasein zu unterscheiden, und überrede mich deshalb leicht, dass letzteres auch von der Wesenheit Gottes getrennt werden könne, so dass Gott auch als nicht-seiend vorgestellt werden könne. Gebe ich jedoch genauer Acht, so erhellt, dass das Dasein Gottes ebenso wenig von seiner Wesenheit getrennt werden kann, als es bei dem Dreieck möglich ist, von dessen Vorstellung die Gleichheit seiner drei Winkel mit zwei rechten abzutrennen oder von der Vorstellung des Berges die des Thales zu trennen. Es ist also ebenso widersprechend, Gott (d.h. ein höchst vollkommenes Wesen), dem das Dasein fehlt (d.h. dem eine Vollkommenheit fehlt), zu denken, als einen Berg zu denken, dem das Thai fehlt.

Indess, wenn ich mich Gott ebenso nur als daseiend wie den Berg nur mit dem Thal denken kann, so folgt doch, wie aus der Vorstellung eines Berges mit einem Thale noch nicht folgt, dass ein Berg in der Welt ist, auch daraus, dass ich Gott als daseiend vorstelle, noch nicht, dass Gott ist. Denn mein Denken legt den Dingen keine Nothwendigkeit auf, und so wie ich mir ein geflügeltes Pferd vorstellen kann, obgleich kein Pferd Flügel hat, so kann ich vielleicht Gott das Dasein zutheilen, obgleich kein Gott besteht.[86]

Allein hier steckt ein Trugschluss. Denn nicht daraus, dass ich den Berg ohne Thai nicht denken kann, folgt, dass irgendwo ein Berg und Thai besteht, sondern nur, dass Berg und Thal, mögen sie bestehen oder nicht, von einander nicht getrennt werden können. Aber bei Gott kann ich ihn nur daseiend denken, und so folgt, dass das Dasein von Gott untrennbar ist, und dass er deshalb in Wahrheit besteht; nicht, weil mein Gedanke dies bewirkt oder einem Dinge eine gewisse Nothwendigkeit auflegt, sondern umgekehrt, weil die Nothwendigkeit der Sache selbst, nämlich des Daseins Gottes, mich bestimmt, dies zu denken. Denn es hängt nicht so von mir ab, Gott ohne Dasein zu denken (d.h. ein vollkommenstes Wesen, dem eine Vollkommenheit abgeht), wie ein Pferd mit oder ohne Flügel vorzustellen.

Auch darf man hier nicht sagen, dass es allerdings nothwendig werde, Gott als daseiend zu setzen, nachdem ich gesagt, dass er alle Vollkommenheiten habe; denn allerdings sei das Dasein eine solche; allein die vorgängige Annahme sei nicht nothwendig gewesen; denn es sei z.B. auch nicht nothwendig, anzunehmen, dass um alle Ecken einer viereckigen Figur ein Kreis beschrieben werden könne; wenn man es aber annähme, so müsste man anerkennen, dass um ein ungleichseitiges und schiefes[87] Viereck ein Kreis beschrieben werden könne, was doch offenbar falsch sei.

Allein wenn es auch nicht nothwendig ist, dass ich irgendwie und wann auf den Gedanken Gottes komme, so ist es doch nothwendig, dass, wenn ich über ein erstes und höchstes Wesen zu denken beginne und dessen Vorstellung gleichsam aus dem Schatz meiner Seele entnehme, ich ihm alle Vollkommenheiten zutheile, wenn ich sie auch nicht alle aufzähle oder einzeln vorstelle. Diese Nothwendigkeit reicht vollkommen hin, um später, wenn ich das Dasein als eine Vollkommenheit erkenne, richtig zu schliessen, dass das erste und höchste Wesen besteht, gerade so, wie es nicht nothwendig ist, dass ich mir ein Dreieck vorstelle; will ich aber eine geradlinige Figur mit nur drei Winkeln betrachten, so muss ich ihr nothwendig das zutheilen, woraus die Gleichheit ihrer Winkel mit zwei rechten richtig folgt, auch wenn ich selbst dies zu dieser Zeit nicht bemerke. Wenn ich aber prüfe, welche Figuren von dem Kreis umschrieben[88] werden können, so ist die Annahme durchaus nicht nöthig, dass alle vierseitigen Figuren dazu gehören, ja, ich kann mir dies nicht einmal einbilden, so lange ich nur das zulassen will, was ich klar und deutlich einsehe.

Sonach ist ein grosser Unterschied zwischen solchen falschen Sätzen und den wahren, mir eingeborenen Vorstellungen, deren erste und vornehmste die Gottes ist. Denn ich sehe auf viele Arten ein, dass sie nichts Gemachtes ist, was von meinem Denken abhängt, sondern das Bild einer wahren und unveränderlichen Natur. Denn erstens kann kein anderes Ding von mir erdacht werden, zu dessen Wesen auch das Dasein gehörte, ausser Gott allein; sodann kann ich nicht zwei oder mehr solcher Götter vorstellen, vielmehr muss ich mit der Annahme des Daseins des Einen es als durchaus nothwendig einsehen, dass er auch schon von Ewigkeit bestanden hat und in Ewigkeit bleiben wird, und endlich erkenne ich noch Vieles in Gott, wobei von mir nichts abgenommen oder verändert werden kann. Welcher Beweisart indess ich mich auch bediene, immer kommt die Sache darauf zurück, dass nur das, was ich klar und deutlich einsehe, mich voll überzeugt. Aus dem, was ich so einsehe, kommt Einzelnes wohl Jedem vor, Anderes wird aber nur von denen entdeckt, die genauer hinsehen und sorgsam forschen; ist Letzteres aber einmal entdeckt, so gilt es nicht weniger sicher als Jenes. So zeigt es sich nicht so leicht, dass bei einem rechtwinkligen Dreieck das Quadrat der Grundlinie den Quadraten beider Seiten gleich ist, als dass jene Grundlinie dem grössten Winkel gegenübersteht; aber Jenes wird nicht weniger für wahr angenommen, nachdem es einmal eingesehen ist. In Bezug auf Gott aber würde ich, wenn ich nicht in Vorurtheilen befangen wäre und die Bilder der sinnlichen Dinge von allen Seiten mein Denken umlagerten, ihn am ersten und leichtesten anerkennen. Denn was ist an sich offenbarer, als dass das höchste Wesen ist, oder dass Gott, bei dem allein das Dasein zu dessen Wesen gehört, besteht?Wenn es auch aufmerksamer Betrachtungen bedurfte, um dies einzusehen, so bin ich doch jetzt hiervon nicht allein ebenso gewiss, wie von Allem, was mir am gewissesten erscheint, sondern ich bemerke ausserdem, dass die Gewissheit der übrigen Dinge von[89] jener so abhängt, dass ohnedies nichts vollkommen erkannt werden kann. Denn wenn ich auch so beschaffen bin, dass ich das, was ich klar und deutlich einsehe, für wahr halten muss, so bin ich doch auch so beschaffen, dass ich den geistigen Blick nicht immer auf dieselbe Sache richten kann, um sie klar einzusehen, und dass oft die Erinnerung an frühere Urtheile hervortritt, so dass, wenn ich nicht weiter auf die Gründe Acht habe, weshalb ich früher so geurtheilt habe, andere Gründe beigebracht werden können, die, wenn ich Gott nicht kennte, mich leicht von meiner Meinung abbringen würden. So würde ich von keiner Sache eine wahre und sichere Wissenschaft haben, sondern nur unbestimmte und veränderliche Meinungen. So scheint es z.B. bei Betrachtung der Natur eines Dreiecks mir, der mit den Lehrsätzen der Geometrie vertraut ist, ganz klar, dass dessen drei Winkel zwei rechten gleich sind, und ich muss dies für wahr halten, so lange ich auf den Beweis Acht habe; allein sowie ich den geistigen Blick davon abwende, kann es, wenngleich ich mich entsinne, dass ich es klar eingesehen habe, doch leicht kommen, dass ich dessen Wahrheit bezweifele, wenn ich nämlich von Gott nichts wüsste. Denn ich kann mir einreden, dass ich derart von Natur gemacht worden, dass ich selbst in solchen Dingen bisweilen irre, die ich am klarsten einzusehen meine; insbesondere wenn ich bedenke, dass ich oft Vieles für wahr und gewiss gehalten habe, was ich später, durch andere Gründe bestimmt, für falsch erkannt habe. Nachdem ich aber eingesehen habe, dass Gott ist, habe ich auch erkannt, dass Alles von ihm abhängt, und dass er nicht trügerisch ist, und habe daraus abgenommen, dass Alles, was ich klar und deutlich einsehe, nothwendig wahr ist, auch wenn ich nicht mehr auf die Gründe Acht habe, die mich zu dem Fürwahrhalten bestimmt haben, sofern ich nur mich entsinne, dass ich es klar und deutlich eingesehen habe. Dann kann kein entgegengesetzter Grund beigebracht[90] werden, der mich zu zweifeln veranlagst, sondern ich habe eine wahre und gewisse Erkenntniss. Dies gilt nicht blos von diesem, sondern von Allem, dessen ich mich entsinne, einmal bewiesen zu haben, wie von den Sätzen der Geometrie und Aehnlichem. Denn was wollte man mir jetzt noch entgegnen? Etwa, ich sei so beschaffen, dass ich leicht irrte? – Aber ich weiss nun, dass ich in dem, was ich klar einsehe, nicht irren kann. – Oder dass ich Vieles für wahr und gewiss gehalten habe, was ich später für falsch erkannt habe? – Allein von Solchem hatte ich nichts klar und deutlich erkannt, sondern hatte in Unkenntniss dieser Regel der Wahrheit aus anderen Gründen vielleicht das geglaubt, was ich später als unsicher entdeckte. – Was will man also sagen? Etwa (wie ich mir kürzlich entgegenhielt), dass ich vielleicht träume, d.h. dass Alles, was ich jetzt denke, nicht mehr wahr sei, als was mir im Traume begegnet? – Selbst dies ändert nichts, denn selbst wenn ich träumte, bleibt das, was meinem Verstande offenbar ist, durchaus wahr.[91]

So sehe ich, dass die Gewissheit und Wahrheit aller Wissenschaft allein von der Erkenntniss des wahren Gottes abhängt; ehe ich daher ihn kannte, konnte ich von nichts[92] eine vollkommene Erkenntniss haben. Jetzt aber kann mir Unzähliges bekannt und gewiss sein, sowohl von Gott selbst und anderen unkörperlichen Dingen als auch von der ganzen körperlichen Natur, welche der Gegenstand der reinen Mathematik ist.

Quelle:
René Descartes' philosophische Werke. Abteilung 2, Berlin 1870, S. 83-93.
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