[151] Herr Dmitri von Kantschin, der Vater meines Zöglings, stammte aus einer vornehmen und reichen Petersburger Familie. Freilich waren seine Brüder noch viel reicher als er, weil sein Vater ihn aus Mißmut über seine Heirat bei der Erbschaft verkürzt hatte. Cet homme, sagte Mme. Kantschin in ihrer drastischen Sprache, wenn sie das Bild ihres Schwiegervaters zeigte, cet homme a volé à mon mari. Sie selbst war nämlich Tochter eines Kosakenoffiziers und damals, wie sie wohl äußerte, diablement jolie gewesen, daher hatte Dmitri gegen den Willen seiner Familie seine Ljuba oder Aimée, wie sie dies französisch übersetzte, geheiratet. Es war eine richtige Liebesheirat gewesen und war, wie dies bei einer solchen so oft der Fall ist, von einem nicht sehr glücklichen und harmonischen Eheleben gefolgt worden. Beide waren im Grunde treffliche Naturen, aber beide, wie Georges sagte, des caractères entiers, daher sie nicht lange zusammen sein konnten, ohne sich aneinander zu reiben. Zum Glück war dieses Zusammensein auf ein paar Monate im Jahr beschränkt, während der übrigen Zeit lebte Dmitri in Petersburg und ging seinen Geschäften nach, während Madame, angeblich, weil sie das Klima Rußlands nicht vertragen konnte, mit Georges und seinen beiden Schwestern, Marianne und Madeleine, meist in der Schweiz lebte. Ein- bis zweimal im Jahre kam dann Monsieur aus Rußland angereist, welches für die Kinder und auch für mich eine festliche Zeit war, denn Monsieur war nicht[152] nur sehr wohlwollend und gutherzig, sondern er hielt auch sehr auf eine gute Küche und noch mehr auf gute Weine. Wenn Madame Kantschin gelegentlich von ihrem Gatten äußerte: »C'est le plus honnête homme, qui ait jamais existée«, so kann ich dies aus langjähriger Erfahrung völlig unterschreiben. Herr von Kantschin hat mir nie Grund gegeben, zu klagen, und wenn wir einmal uneins waren, so beruhte das seinerseits auf redlicher Überzeugung. Sein Charakter kann als eine eigentümliche Verbindung von Scharfsinn und Borniertheit bezeichnet werden. Er disputierte überaus gern und wußte mit großem Geschick die Gründe für seine Ansichten beizubringen, und doch waren diese Ansichten reine Theorie und wurden daher oft von realen Verhältnissen dementiert. Mit Eigensinn verfolgte er seine Pläne und mußte nur zu oft erleben, daß sie scheiterten. In mir fand er ein gefügiges Organ, sogleich zu Anfang, wenn ich es unternahm, Georges in einem Jahre über zwei Jahre, ein verlorenes und ein neues, wegzubringen. Es gelang, und der Erfolg kam mir reichlich zugute; aber erstaunt war ich, als Madame Kantschin die Bemerkung hinwarf: »C'est la seule chose, qui a jamais réussi à mon mari.« In der Tat muß er als mächtiger Großindustrieller manches unternommen haben, welches ganz oder teilweise mißglückte.
Eine ganz andere Natur war Madame Kantschin. Sie muß früher einmal eine Schönheit gewesen sein, hatte aber ein resolutes, etwas rauhes, ja gelegentlich wohl wüstes Wesen; mit dem ihr ausgesetzten Geld für ihre Toilette kam sie nie aus und hatte bei den Pariser Schneiderinnen stets ein starkes Konto zu Buche stehen. »Ich könnte es ja bezahlen,« sagte einst Monsieur zu seinem Sohn, der wieder mir die Sache hinterbrachte, »aber sie würde nur wieder neue Schulden machen, und da ist es besser, daß sie sich mit den alten herumschlägt.« Trotz dieser Ausgaben und trotz der stetig sie begleitenden Kammerfrau erschien Madame Kantschin in der Toilette etwas vernachlässigt. Mit Vorliebe trug sie Schwarz und ihre Haartracht machte ihr wenig Sorge. »On plante une peruque, c'est voilà tout«, sagte sie einmal, und in der Tat erschien sie bald hellblond, bald dunkel, je nach der Perücke, die sie gerade trug. Übrigens war Madame Kantschin[153] im Verkehr lebhaft, exzentrisch, sprach sehr elegant französisch, und war eine der geistreichsten Frauen, die mir im Leben begegnet sind. Sie hatte in jeder Sache ein treffendes Wort bei der Hand und beurteilte die Dinge meist viel richtiger als ihr Gatte. Sie sagte öfter: »L'intelligence est la plus rare monnaie, qui court dans le monde«, war aber auch für Geist, wo sie ihn fand, empfänglich und wußte gelegentlich, wenn wir abends im Salon um sie versammelt waren, ganz reizend zu erzählen. Ihr Leben spielte sich ziemlich gleichmäßig ab. Bis gegen Mittag lag sie in ihrem Bett und las Romane, zum Frühstück erschien sie manchmal gut, manchmal schlimm gelaunt. Das Tischgespräch war lebhaft, und die Kinder sprachen in ihrer Weise mit. Nachmittags unternahm Madame einen längeren Spaziergang, dessen Entfernung sie mit dem Schrittmesser kontrollierte, und zum Diner um 7 Uhr abends hatte sie gewöhnlich einige Gäste, mit denen dann der Abend zugebracht wurde. Waren einmal keine solchen zugegen, so saß sie in ihrem Salon, rauchte Zigaretten und legte für sich Patience, oder erzählte, wenn sie gerade guter Laune war, uns und den Kindern Geschichten. Zigaretten durfte man in ihrer Gegenwart rauchen, aber keine Zigarren. Einmal, während Madame im kleinen Salon saß und ihre Patience legte, war ich mit Monsieur in dem durch eine stets offene Tür damit verbundenen großen Salon beschäftigt, Schach zu spielen. Monsieur ermunterte mich, dazu meine Zigarre anzustecken. Bald aber erscholl aus dem kleinen Salon ein klagender Ruf von Madame: »Je sens ici l'odeur d'un affreux cigare!« Schnell beseitigte ich meine Zigarre und traute mich nun gar nicht mehr zu rauchen, bis Madame am andern Tage voll Güte zu mir sagte: »Allumez votre cigarette, mais pas votre cigare.« Überhaupt war die Behandlung, die man als Erzieher in der Familie genoß, eine sehr gute. An allem nahm man teil und wurde vollkommen von der Familie wie von den Gästen als ebenbürtig behandelt. Am Familientisch wurden alle möglichen Angelegenheiten ohne Scheu in meiner Gegenwart durchgesprochen. Obgleich es mir freistand, an diesen Gesprächen nach Belieben teilzunehmen, so legte ich mir doch in richtiger Beurteilung meiner Lage eine gewisse Zurückhaltung auf und zog es vor, mehr zu beobachten als einzugreifen,[154] mehr zu hören als selbst zu reden. Die Folge dieses Verhaltens war, daß ich mir bald eine sehr genaue Kenntnis meiner Tischgenossen, ihres Charakters, ihrer Neigungen und Interessen erwarb, und es gibt wenig Menschen, die mir so durchsichtig wären, wie Monsieur und Madame Kantschin. Georges war sehr liebenswürdig gegen mich, aber auch sehr verzogen, und ich bin wohl der einzige seiner Lehrer, der durch Liebe und Strenge noch einigermaßen mit ihm fertig werden konnte. Ob ich ihn zu einem tüchtigen Menschen hätte erziehen können, wenn ich freie Hand gehabt hätte, weiß ich nicht, jedenfalls habe ich diese freie Hand schon von vornherein nicht und bis zu Ende nicht gehabt. Denn der Vater legte auf Charaktererziehung keinen Wert, um so höheren darauf, daß der Sohn das Ziel des jedesmaligen Jahres erreichte, und diese Ziele, an deren Erreichung auch ein guter Teil meiner Einnahmen hing, waren so hoch gesteckt, daß man dem Knaben vieles durchgehen lassen mußte, um ihn einigermaßen bei guter Laune für die Arbeit zu erhalten. Die Mutter hatte zuviel, bon sens, um mich nicht prinzipiell zu unterstützen, aber auch nur prinzipiell. Tatsächlich ließ sie mich oft genug im Stich. So war es Regel des Hauses, daß wir bei Tag erscheinen konnten wie wir wollten, zum Diner aber um 7 Uhr abends Toilette machen mußten, wozu eine viertel Stunde vorher geläutet wurde. Dann gab es sehr oft einen kleinen Kampf, bis Georges sich entschloß, sich Hände und Gesicht zu waschen und seinen Anzug zu wechseln. Zuweilen, wenn er dazu gar keine Lust hatte, lief er zu seiner Mutter hinüber, die auf ihrem Diwan lag und einen Roman las, und fragte: »Maman, suis je bien comme ça?« worauf sie dann etwa erwiderte: »Pourquoi pas«, und er, triumphierend über mich, zurückkam. Ein schlimmer Grundsatz des Vaters war, dem Sohne für gute Leistungen Geld, zuviel Geld zu geben, wozu dann oft auch noch mitunter sehr reiche Geschenke von andern kamen. So schenkte ihm ein Bruder seines Vaters, Onkel Paul, bei einem Besuche 500 Franken, allerdings mit der Bedingung, dafür physikalische Apparate anzuschaffen. Nach drei Tagen war das Geld verausgabt und überall standen elektrische Maschinen, Bobinen, Akkumulatoren usw., aber zu einer ernsten Benutzung außer zu Spiel und Mutwillen kam es nicht, bis schließlich ein[155] Stück nach dem andern unbrauchbar wurde und verkam. Ein Umstand, der mir schon in Genf und späterhin mehr und mehr Ungelegenheiten bereitete, war die Vorliebe meines Zöglings für Flinten, Pistolen und Revolver.
Georges sprach sehr gut französisch, welches eigentlich seine Muttersprache war, daneben mangelhaft deutsch, englisch und italienisch, und am wenigsten wohl russisch. Sogleich nach meiner Ankunft in Genf am 20. Oktober 1872 wurde er mir anvertraut; die Familie lebte bis zum Ende des Monats noch in der Pension, und da dort kein Platz mehr war, so wohnte ich mit Georges in dem benachbarten »Hotel de la Paix«. Das Leben in der Pension schien mir unverwöhntem Menschen so üppig, daß ich zweifelte, ob es später bei eigener Wirtschaft ebenso gut sein werde, aber sehr beruhigt war, als ich auf meine Frage an Georges, ob er das Leben in der Pension oder in der Villa mit eigener Haushaltung vorziehe, die Versicherung erhielt, daß das letztere bei weitem angenehmer sei. An ein ernstes Arbeiten war in diesem Provisorium noch nicht zu denken. Es wurde als eine Ferienzeit betrachtet, in der ich mit Georges spazierenging, auf dem See ruderte, vielleicht auch schon, wie später öfter, ein wenig ausritt. Endlich kam der 1. November heran, wir bezogen eine gemietete Villa, und jetzt begann ein mehr geordnetes Leben. Wenn man vom linken Ufer der Rhone aus die letzte der herrlichen Brücken, welche beide Teile der Stadt verbinden, den Pont de la Coulouvrenière, überschreitet, so steigt der Weg links an einem Hügel hinauf und erreicht vorüber an der Brasserie Saint Jean in zehn Minuten die Höhe des Plateau Saint Jean. Hier, wo jetzt leider Mietskasernen stehen, lag, umgeben von herrlichen Parkanlagen, mit freiem Blick auf Alpen und Jura und die Stadt links unten in der Tiefe die Villa Grisi; Madame Grisi, damals eine würdige Dame mit grauen Haaren, war früher eine berühmte Tänzerin gewesen, hatte mit einem Russen in einer Art Ehe gelebt und war von ihm mit einem Töchterchen Denise und der Villa Grisi als Abfindung beschenkt worden. In der Mitte des geräumigen Grundstücks befand sich das etwas altmodische, aber noch gut erhaltene Herrenhaus, welches, vollständig möbliert, nebst dem umgebenden Garten an die Familie Kantschin für 12000 Franken[156] jährlich vermietet war. Jetzt begann ein geregeltes Leben. Des Morgens nach einem vorzüglichen café au lait oder Tee mit allerlei Gebäck und einem kurzen Aufenthalt unter den herrlichen Bäumen des Gartens mit Blicken auf Salève, Voirons und Mole nach der einen, auf die sanfter geformte Kette des Jura nach der andern Seite, begab ich mich mit Georges an die Arbeit; um 12 Uhr war ein sehr gutes déjeuner à la fourchette, um 4 Uhr das gouter, bestehend aus Biskuit und Schokolade, gelegentlich auch aus Tee, und um 7 Uhr abends ein opulentes Diner. Unterbrochen wurde die Arbeit am Nachmittag durch einen Spaziergang mit den drei Kindern zu einem Turnsaal, den wir für eine Stunde täglich gemietet hatten. Nach dem Diner wurde in der Regel nicht mehr gearbeitet, im Winter unterhielten wir uns mit Madame Kantschin und Monsieur, wenn er da war, wie auch mit den geladenen Gästen im Salon, im Sommer waren wir mit Vorliebe im Garten. Auch hier hatte ich durch einen Zimmermann nach meinen Angaben die wichtigsten Turngeräte: Reck, Barren, Leiter, Kletterstange und Springvorrichtung herrichten lassen.
Sobald wir uns häuslich eingerichtet hatten, ging es mit Eifer an die Arbeit. Das Pensum für das Jahr war klar vorgezeichnet und mußte in Lateinisch, Griechisch, Mathematik und Geschichte durchgegangen werden. Zunächst versuchte ich Georges zu unterrichten, wie ich es bei meiner Klasse in Marburg gewohnt war, sah aber ein, daß man mit einem einzelnen Schüler auf anderm Wege weiter vorankommen kann. Ich gab ihm, beständig danebensitzend, irgendeine Arbeit, eine Übersetzung ins Lateinische oder Griechische, eine mathematische Aufgabe, das Durchlesen eines Kapitels der Geschichte, und, wenn er damit fertig war, so ging ich sie mit ihm durch, besprach die Fehler und übte die Regeln ein, oder ich ließ mir das Geschichtspensum von ihm wiedererzählen und knüpfte daran die nötigen Fragen. Als Geschichtsbuch waren in der Schule bis dahin die kleinen, reizenden Bändchen von Duruy, eingeführt gewesen, wurden aber gerade jetzt durch eine, in einzelnen Bänden verfaßte Übersetzung der zweibändigen Weltgeschichte von Georg Weber ersetzt. Warum, so fragte ich gelegentlich einen Lehrer des collège, warum haben Sie ein vorzügliches französisches Buch durch eine mittelmäßige Übersetzung[157] eines mittelmäßigen deutschen Buches ersetzt? Die Antwort war, daß Duruy zu sehr in französischem Geiste geschrieben sei. In der Tat leben die guten Genfer, von drei Seiten von französischem Gebiet umklammert, in beständiger Angst, einmal über Nacht von Frankreich verschluckt zu werden. Zurück zu Georges. Die Hauptsache waren natürlich die alten Sprachen, und hier fand ich meinen Zögling nicht nur, wie erwartet wurde, um ein Jahr zurück, sondern bis in die ersten Elemente hinein vernachlässigt und unsicher. Dabei faßte er zwar leicht und schnell auf, vergaß aber das Gelernte wieder ebenso schnell. Wollte ich unter diesen Umständen zum Ziele kommen, so mußte ich mich auf das Notwendigste beschränken, dieses aber unermüdlich wieder abfragen und durch Beispiele einüben. Ich verfaßte zu diesem Behuf eine ganz knappe lateinische und griechische Grammatik, welche dann die Grundlage aller unserer Übungen wurde. So wurde bald bei diesem flüchtigen Knaben ein beschränktes, aber sicheres Wissen erreicht. Sehr unbequem beim Unterrichte wie im Verkehr mit der Familie war mir meine mangelhafte Beherrschung des Französischen. In diesem Milieu, sagte ich mir, werde ich mich nie à mon aise fühlen, ehe ich ordentlich Französisch kann. Und entschlossen nahm ich meinen Plötz, die Schulgrammatik mit den schönen Übungsstücken vor, und arbeitete ihn von Anfang bis zu Ende teils mündlich, teils schriftlich durch. Georges selbst war liebenswürdig genug, meine Exerzitien durchzusehen. Um mich beim Sprechen seiner Mitwirkung zu versichern, bestimmte ich, daß ich jedesmal, wenn ich einen Fehler, une faute, oder wie ich zuerst sagte, une coulpe, machte, zwei Centimes in eine Kasse zu legen hatte, und noch jetzt klingt mir in den Ohren der von Georges triumphierend mit liebenswürdigem Spotte stereotyp gebrauchte Ausdruck: »faute, coulpe, deux centimes!« Inzwischen wurden diese und ähnliche Rufe immer seltener, und als ich nach zwei Monaten meinen Plötz zu Ende gebracht hatte, konnte ich mir sagen: »Wenn ich jetzt will und mir die nötige Zeit lasse, kann ich fehlerlos Französisch schreiben und auch sprechen.« So kam Neujahr 1873 heran, und es war eine große Genugtuung, als Georges am Neujahrsmorgen bei mir eintrat, mir unter den üblichen Glückwünschen die goldene Uhrkette[158] überreichte, die ich noch heute nach sechsunddreißig Jahren trage, und dazu in deutscher Sprache mit den Worden: »Hier ist auch Ihr Lohn«, mir 300 Franken in dreißig zierlichen Goldstücken einhändigte. Da ich das früher Vereinnahmte für einen neuen Anzug und die Begleichung kleiner Schulden, wie des noch rückständigen Kollegienhonorars, verwendet hatte, so war es wirklich das erstemal in meinem Leben, daß ich frei über Geld verfügte, und am nächsten Morgen trug ich 200 Franken auf die caisse d'épargne und empfing dafür nach längerem Sitzen unter Kutschern, Kellnern und Dienstmädchen mein livre oder Sparkassenbuch.
Im Februar 1873 erfuhr meine erfolgreiche Arbeit mit Georges eine traurige Unterbrechung. Als ich am 6. Februar abends zum Diner herunterkam, lag unter meinem Teller ein Telegramm, ich öffnete und las: Großer Schmerz, Immanuel gestürzt, gleich tot, wir alle beerdigen zu Oberdreis Mittwoch. Ich zog mich nach dem Essen auf mein Zimmer zurück und bald folgte mir Georges, um mich in liebenswürdiger Weise zu trösten. Ich schwankte, ob ich reisen solle. Madame Kantschin stellte es mir frei, aber ich hatte schwere Aufgaben übernommen und eine ganze Woche mußte ausfallen, wenn ich dem Bruder die letzte Ehre erweisen wollte. Endlich entschloß ich mich, und am Montagmorgen begleitete mich Georges bis zum Bahnhof. Ich durchfuhr die Strecke am Genfer See, wo ein milder Winter mich wenig Schnee, wie Zucker ausgestreut, bemerken ließ. Kaum aber war ich über die Höhe bei Chexbres, so änderte sich das Bild. Überall festgefrorener und vereister Boden, durch die Schweiz und das Rheintal hinunter bis nach Neuwied hin, wo ich am Dienstagmorgen eintraf und die so oft gemachte Wanderung durch Schnee und Eis nach Oberdreis unternahm. In Puderbach holten mich die Brüder ab und berichteten den traurigen Fall. Mein Bruder Immanuel, sechs Jahre jünger als ich, war unter uns Brüdern vielleicht der am wenigsten begabte, aber sicher von allen der treueste und gewissenhafteste. Das Lernen fiel ihm schwer, und so entschloß er sich, Gerber zu werden, wovon schon ein Fall in der Familie vorlag, da Onkel Aretz in Wevelinghoven eine gutgehende Gerberei besaß, die jetzt sein Sohn Friedrich innehat.[159] Die übrigen Söhne Julius, Heinrich und Richard sind als Gerber nach Amerika gegangen, haben dort neue Methoden sich angeeignet und sind zum Teil zu großem Reichtum gelangt. Dasselbe hätte meinem Bruder Immanuel blühen können, da man überall, wo er gearbeitet hat, ihn sehr schätzte. Nach Beendigung der Lehre war er auf Wanderschaft gegangen, hatte ein gut Stück Welt in der Schweiz und anderweit gesehen und nahm zur Zeit des Unglücksfalles schon einen höheren Vertrauensposten in einer Gerberei in Barmen ein. Er hatte das Amt des Schließers und wollte an dem dunkeln und kalten Winterabend, liebevoll wie er war, einen Fremden die Treppe hinuntergeleiten, stürzte ab und war sofort tot. Die Brüder hatten ihn von Barmen nach Oberdreis transportiert und ihn in der Kirche aufgebahrt. Auf dem mitten im Dorfe liegenden Kirchhofshügel steht unweit des Kirchturms eine prachtvolle alte Linde; unter ihr hatte man das Grab teils gegraben, teils in die weit sich erstreckenden Wurzeln der Linde hineingesägt. Hier haben wir ihn am Tage nach meiner Ankunft begraben, und drei Tage darauf eilte ich, von den Brüdern geleitet, nach Neuwied, von wo ich nach vierundzwanzigstündiger Fahrt wohlbehalten wieder in Genf eintraf.
Der Winter verlief ohne weitere Zwischenfälle unter fleißiger Arbeit. Zu Ostern erschien Monsieur Kantschin und veranlaßte uns, täglich noch ein paar Stunden mehr auf die Arbeit zu verwenden, wodurch meine freie Zeit auf eine Stunde täglich eingeschränkt wurde, die ich zu Spaziergängen zwischen den hohen Mauern benutzte, welche die Gärten außerhalb Genfs umgeben und die Aussicht auf den See und das Gebirge verdecken. Auf Veranlassung des Vaters besuchte ich einige der späteren Lehrer meines Zöglings und bat sie, uns zu besuchen und ein Examen mit Georges abzuhalten, welches zu unser aller Beruhigung ausfiel. Allmählich fing meine vom theologischen Examen zurückgebliebene Nervosität an zu schwinden. Neben der Arbeit an und mit dem Knaben konnte ich jetzt anfangen, auch für mich selbst zu arbeiten. Und so war es mir möglich, Kants Kritik der reinen Vernunft durchzuarbeiten. In der nächsten Zeit wurden die ersten Bücher von Cicero de finibus und Aristoteles' Metaphysik studiert, daneben arbeitete ich emsig, meist im Garten, mit[160] Georges an der Lektüre der Anabasis und einer Chrestomathie aus Cicero, ließ ihn fleißig lateinische, griechische und mathematische Exerzitien schreiben, und als mit dem Ende des Juni das Aufnahmeexamen für Georges heranrückte, hatte ich die Freude, daß er bestand und als Schüler in die erste Klasse des collège aufgenommen wurde. Für diesen Fall hatte der Vater uns eine Reise in Aussicht gestellt, und bis seine Antwort auf die Nachricht vom bestandenen Examen aus Rußland eintraf, unternahm ich mit Georges eine dreitägige Tour nach Chamonix. Inzwischen waren vom Vater Glückwünsche, die Erlaubnis zu reisen und die Bewilligung eines Reisegeldes von 800 Mark eingetroffen. Mich zog es vor allem nach Italien, und in diesem Sinn suchte ich Georges zu inspirieren. Indes hatte der Vater die heiße Jahreszeit nicht für geeignet zu einer italienischen Reise erklärt, und so veranlaßte ich den Knaben, der in diesen Dingen leicht zu lenken war, seine Wünsche auf England zu richten, wozu das Reisegeld allerdings nur unter besonderen Dispositionen ausreichen konnte, welche ich denn auch zu treffen wußte. Am 4. Juli verließen wir Genf, fuhren den Tag durch bis Basel, die Nacht weiter bis Neuwied und trafen am Abend des 5. in Oberdreis ein. Ich führte die Reisekasse, aber Georges hatte von seiner Mutter 100 Franken extra erhalten. Er benutzte sie, um während der Nachtfahrt an jeder badischen, hessischen und preußischen Grenzstation seinen Barvorrat an der Kasse des Billettschalters jedesmal in die Münze des betreffenden Landes unter erheblicher Reduktion seines Besitzes umzusetzen. Vier Tage blieben wir in Oberdreis, dann verwendeten wir eine Woche zu einer Rheinreise über Neuwied und Königswinter nach Köln und von dort zu den Verwandten nach Jüchen und Elberfeld, um ihnen mich als Bärenführer und das große Interesse erregende Wundertier an meiner Leine vorzustellen. Nach Oberdreis zurückgekehrt verbrachten wir dort fünf weitere Tage. Nachdem wir in dieser Weise längere Zeit unser Reisebudget gespart hatten, war es möglich, die Reise nach dem Lande Shakespeares, auf welches meine Sehnsucht gerichtet war, anzutreten. Von Oberdreis ging es am 20. Juli nach Köln, und dort nahmen wir zwei Retourbilletts der Niederländischen Dampfschiffahrt. Freilich ist die Fahrt durch[161] die niederrheinische Ebene nicht allzu interessant, aber die Nacht durch konnte man schlafen, und am Mittag des folgenden Tages langten wir in Rotterdam an, wo wir vierundzwanzig Stunden Zeit hatten, um die Stadt zu besehen. Ein Seedampfer, der Batavier, fuhr dann direkt von Rotterdam bis Blackwallstation in London, wo wir ausstiegen und in einem Wagen zu einem einfachen Hotel in der City fuhren. Wiederholt mußte der Wagen einige Zeit halten, bis das Knäuel von Fußgängern und Wagen vor uns durch die sachkundige Hand des Policeman entwirrt war. Die nächsten drei Tage waren der Besichtigung von Cristal Palace, Saint Pauls Church und British Museum, Zoologischem Garten und den London Docks gewidmet. Georges war immer bei mir, bis auf wenige Stunden, für die ich ihm unter den besten Empfehlungen Urlaub gab, um im Drurylane Theater ein Shakespearestück zu sehen. Unweit desselben hatte ich einen freien Platz zu überschreiten und war eben in seine Mitte gelangt, als eines der umgebenden Häuser anfing zu brennen. Rauch und bald auch Flammen wirbelten aus den Fenstern des dritten Stocks. Aber unglaublich und nur durch besondere Umstände erklärlich war die Schnelligkeit, mit der das Feuer sich nach den unteren Etagen ausbreitete. In wenigen Minuten war das ganze Haus in Flammen. Ich wandte mich, um ins Theater zu gelangen, aber dazu war keine Möglichkeit mehr, denn ich sah mich von einem undurchdringlichen Knäuel von Menschen umgeben und mußte ausharren, bis er sich verlief. So kehrte ich unverrichteter Sache zum Hotel zurück, wo bald darauf auch Georges eintraf. Auch er wußte von einem grausigen Abenteuer zu berichten, wie in einer der abgelegeneren Straßen ein Mensch ihn gepackt habe mit den Worten: »Now boy give me your watch«, wie er aber den stets in der Brusttasche geführten Revolver gezogen habe, worauf der Räuber die Flucht ergriffen haben soll. Die Sache ist möglich, aber doch wenig wahrscheinlich, und so oft sie auch Georges später im Elternhaus erzählt hat, er fand keinen Glauben, denn man kannte zu sehr seine Neigung zum Aufschneiden. Da wir die Wahl hatten, entweder nach drei oder nach zehn Tagen mit unserm Batavier nach Rotterdam zurückzufahren und zum letzteren der Barvorrat nicht recht ausreichen wollte, so wählten wir das[162] erstere, fuhren am Sonnabend, dem 20. Juli, nach Rotterdam und nun den ganzen Sonntag die lange und langweilige Fahrt den Rhein herauf. In der Nacht zum Montag passierten wir bei Emmerich die deutsche Grenze, und während ich schlief oder doch zu schlafen suchte, war Georges ausgestiegen und hatte sich zum Abschied von Holland in echtem Holländer Schnaps einen kleinen Rausch angetrunken mit dem obligaten Kopfweh hinterher. Am 2. August trafen wir wohlbehalten wieder in Genf ein. Noch einige Tage konnten die Kinder die Ferien genießen und bei der glühenden Sonnenhitze im schattigen Garten mit mir und häufig eintreffenden Gästen Krocket spielen, wobei sehr häufig Streit entstand. Dann begann der Unterricht am colleège, denn es war beschlossen worden, daß Georges in dem bevorstehenden Jahre mit den andern am Unterrichte im collège teilnehmen sollte. Ich hatte ihn am frühen Morgen dorthin zu geleiten, gegen Mittag wieder abzuholen, und ebenso nochmals am Nachmittag, um dann abends von 5 bis 7 Uhr unter meiner Aufsicht ihn die Schulaufgaben anfertigen zu lassen. Gab mir dies willkommene Gelegenheit zu täglich viermal wiederholten Spaziergängen über den Pont de la Coulouvrenière bis in die Nähe des Rathauses, wo das collège lag, so war doch die Aufgabe nicht so ganz einfach, denn Georges erlaubte nicht, daß ich bis an das collège kam, um ihn abzuholen, das würde, so behauptete er, seiner Reputation schaden, und so bedurfte es einiger Schlauheit, ihn immer richtig abzufangen. Im übrigen begann für mich eine goldene Zeit der Muße, denn außer diesen Geschäften gehörte der ganze Tag mir; seit meiner Studentenzeit war das nicht mehr dagewesen, es war mir, als wäre es ein glücklicher Traum. Fleißig las und exzerpierte ich Thucydides, Plutarch und manches andere. Auch an Geld fehlte es mir ja nicht, und so subskribierte ich auf den eben erscheinenden Bilderatlas von Brockhaus und hatte an ihm für mich selbst und mit den Kindern meine große Freude. Aber Wichtigeres bereitete sich unerwartet vor. Aus den Programmen für die eben aus der Akademie umgewandelte Universität, die ich schon um der Zukunft meines Zöglings willen studierte, ersah ich ungesucht und gleichsam zufällig, daß zur Habilitation an der neu entstandenen Universität die Einreichung[163] einer guten Doktordissertation genüge. Bald war der kühne Entschluß gefaßt, auf diesem Wege meine Habilitation zu beantragen und so, schneller als ich es vor Jahresfrist noch zu hoffen wagen durfte, das heißersehnte Ziel einer akademischen Lehrtätigkeit verwirklicht zu sehen. Ich reichte meine Dissertation ein und die Habilitation wurde bewilligt, natürlich nach eingeholter Genehmigung meiner Brotherren, in deren Augen ich durch diesen Schritt erheblich stieg. Aber was sollte ich als Vorlesung ankündigen? Natürlich und vor allem Philosophie oder, wie ich es nannte: éléments de la métaphysique. Daneben wählte ich eine Interpretation von Lukrez und beschloß, an der Universität auch das Studium des Sanskrit, welches von niemandem vertreten wurde, zu begründen. Zwar hatte ich es vor Jahren auf der Universität nur mäßig betrieben, auch seitdem so gut wie ganz liegengelassen, aber soviel durfte ich mir zutrauen, vor Anfängern die Anfangsgründe zu lehren und dabei selbst mich wieder einzuarbeiten, ähnlich wie ich vordem mein bestes Hebräisch durch Unterricht in der Prima und Sekunda des Mindener Gymnasiums erworben hatte. Die Vorlesungen wurden eingesandt und erschienen in dem gedruckten Programm. Inzwischen bereitete ich mich fleißig vor und machte die üblichen Antrittsbesuche bei den Professoren. Die freundliche Aufnahme, welche ich bei ihnen fand, ermutigte mich und half mir über das Bedenken, wie es wohl bei freiem Vortrage mit meinem Französisch gehen werde, hinwegzusehen. Am 27. Oktober 1873 war der für mich große Tag, wo die Vorlesungen begannen. In der Philosophie hatten sich zwölf Zuhörer, darunter zwei Damen, eingefunden, im Sanskrit waren sechs, im Lukrez, für den am wenigsten Bedürfnis war, nur drei Zuhörer eingetroffen. Ich ließ ihn fallen und beschränkte mich auf wöchentlich vier Stunden Philosophie und zwei Stunden Sanskrit. Ich hatte die Genugtuung, daß meine Zuhörer mir das ganze Jahr hindurch treu blieben. Einer der eifrigsten war Paul Oltramare, jetzt Professor an der Universität zu Genf. Stundenlang ging ich täglich in meinem Zimmer auf und ab, Madame Kantschins vierbändiges Wörterbuch von Littré auf dem Tische aufgeschlagen, und durchdachte meine philosophische Vorlesung nach dem Inhalt und nach[164] der besten französischen Form, die ich ihr geben konnte. Dann trat ich bestens vorbereitet vor meine Zuhörer und die Sache ging. Nach Erledigung eines Punktes pflegte ich ein kurzes Resumé in die Feder zu diktieren. Nicht weniger Freude machte mir das Sanskrit; ich fing die Sache praktisch an, meine Zuhörer machten große Fortschritte, die größten ich selbst. Ich nahm meine alten Sanskritbücher wieder vor – es waren ihrer wenig genug: die Sanskritgrammatik von Bopp, Gildemeisters Anthologie, Nala und eine oblonge Cakuntala – und arbeitete mich mit Feuereifer hinein. Von Tag zu Tag machte mir die Beschäftigung mit dieser vornehmen Sprache und mit der wunderbar farbenreichen Literatur größere Freude. Ich fühlte ein unbeschreibliches Glück in dem Gedanken, mein ganzes Leben dem Sanskrit widmen zu können, und warum nicht? War ich doch auf dem besten Wege, mir ein kleines Vermögen zu ersparen, über 2000 Mark waren schon da und sicher angelegt, und was hinderte mich, mit dem nötigen Fleiße einer der ersten im Sanskrit zu werden, etwa so ein Mann, wie es der alte Lassen in Bonn war, und als Sanskritprofessor an irgendeiner Universität meine Befriedigung zu finden, sowohl an der Freude des ins Unendliche vermehrten Wissens wie auch an dem Glanz, mit welchem das Publikum das Seltene, Fernabliegende, Schwierige zu umgeben pflegt. Dann aber zog mich die eben erst übernommene Pflicht zu meinen philosophischen Vorlesungen hin, und ich empfand wiederum ganz die Süßigkeit der Beschäftigung mit der Philosophie und die Unmöglichkeit, jemals von ihr zu lassen. Wie ehemals in meiner ersten Studentenzeit zwischen Theologie und Philologie, so schwankte ich jetzt zwischen Philosophie und Sanskrit wie zwischen zwei Geliebten hin und her, bis mir auf einmal – es war am 14. November 1873 – plötzlich wie durch eine Eingebung von oben der Gedanke kam: Wenn ich nun solche Freude am Sanskrit habe und doch niemals von der Philosophie lassen kann, warum sollte ich nicht die Hütte meines Lebens da bauen, wo beide Linien sich schneiden, und die eben wieder nach zweijähriger Depression neuerwachende Schaffenskraft dem so sehr vernachlässigten und eben darum so lohnenden Studium der indischen Philosophie widmen! Jetzt war ein großer Entschluß[165] gefaßt. Ein Nagel war eingeschlagen, an welchen ich das Seil meines Lebens fortspinnend heften konnte, ich hatte eine Lebensaufgabe gefunden, und wenn das Motto meiner zwanziger Jahre mit ihrem unsicheren Tasten und Suchen gewesen war: Wolle was du kannst, wolle nur das, wozu du Anlagen und ausreichende Kräfte besitzest, so hieß es von nun an umgekehrt: Könne was du willst, raffe alle deine Kräfte zusammen, um der gefundenen großen Lebensaufgabe zu genügen. Nietzsche hatte mir einmal gesagt, daß ich sehr brav fortzuschreiten wisse, wenn ich erst in eine richtige Bahn gebracht worden sei. Die Bahn war da, und der Fortschritt ließ nicht auf sich warten. Kurz vorher hatte ich mir, bemittelt wie ich nunmehr war, die neueste Auflage von Brockhaus' Konversationslexikon angeschafft; eifrig schlug ich den Artikel über indische Philosophie nach, begegnete da zum ersten Male seltsamen Namen wie Kapila, Patanjali u.a. und schrieb an den Rand in Sanskritbuchstaben die Worte: Namani tani, prabhriti nanamani tru, Das sind bloße Namen, aber künftig nicht bloße Namen mehr. Ich schrieb einen Brief an meinen alten Lehrer im Sanskrit, Gildemeister in Bonn, teilte ihm meinen Entschluß mit und fragte um seinen Rat. Sehr bald traf eine ausführliche Antwort des trefflichen Mannes ein, in welcher er meinen Plan billigte, eingehend Auskunft über Mittel und Wege erteilte, auch einen Katalog von Köhler in Leipzig beilegte, welcher die Bibliothek des verstorbenen Roer erworben hatte mit vielem, was für mich brauchbar und teilweise schon schwer zu haben war. Sofort machte ich eine große Bestellung und sah mich bald in Besitz vieler Hefte der Biblioteca indica, enthaltend die Upanischaden, die Vedanta Sutras und viele andere Schätze altindischer Weisheit. Auch den zweiten Band von Dunckers Weltgeschichte ließ ich mir kommen und lernte an seiner Hand die indische Kulturwelt kennen, während ich zugleich unter täglich fortgesetzter Lektüre Bopps Grammatik und Sanskritglossar durchnahm und exzerpierte. Die herrliche Muße, die mir dieser Winter gebracht hatte, blieb nicht ganz ohne äußere Störung. Der republikanische Geist der freien Schweiz mochte es mit sich bringen, daß auf der Schule, welche Georges besuchte, wenig gelernt und viel Unfug getrieben wurde. Nur mit Mühe[166] hielt ich meinen Zögling durch die täglichen Repetitionen auf dem laufenden. In der Schule war er bei seiner natürlichen Lebhaftigkeit schwer zu zügeln. »Votre élève est bien fatigant«, klagte mir einst sein Lehrer Debarris. Sein Livret, durch welches allwöchentlich den Angehörigen Mitteilungen zugingen, wies immer zahlreiche Striche und Rügen auf, bis er es eines Tages vorlegte mit der lakonischen Bemerkung von der Hand seines Klassen-Lehrers: Renvoyé jusqu'à nouvelle ordre. Die Lehrer wußten die Rotte nicht mehr zu bändigen und griffen zu dem einfachen Mittel, daß sie die sieben Schlimmsten bis auf weiteres nach Hause schickten. Da saß ich nun mit meinem Sanskritstudium, meinen Vorbereitungen für die Vorlesungen und hatte auf einmal wieder vom Morgen bis an den Abend meinen Zögling auf dem Halse. Ich erkundigte mich nach dem Grund dieser außerordentlichen Maßregel. Besondere Untaten lagen nicht vor, man hatte nur die sieben, welche am meisten mit kleinen Strafen belastet waren, nach Hause geschickt. Auch Madame Kantschin fand es ungehörig, die Schüler wegen mangelhafter Führung des Unterrichts ganz und gar zu beurlauben, und ich schrieb in diesem Sinne einen Brief an den Erziehungsrat des Kantons. Der Lärm, der von mir und vielleicht auch von andern geschlagen worden war, bewirkte denn auch, daß man nach vierzehn Tagen die Sünder in Gnaden wieder aufnahm und ich Ruhe für meine Studien gewann. Das schlimmste war, daß ich dem alten Kantschin wöchentlich über Georges nach Petersburg zu berichten hatte. Seine Antwort war sehr höflich, aber sehr entschieden. »Wenn Sie es nicht erreichen können,« schrieb er, »daß ich von nun an nichts mehr von Streichen und Rügen zu hören bekomme, so sehe ich mich genötigt, so sehr ich Sie schätze und so leid es mir tut, mich nach einem andern Leiter meines Sohnes umzusehen, denn die Zukunft meines einzigen Sohnes steht hier auf dem Spiele, und so werden Sie meine Unruhe begreifen und entschuldigen.« – Erschüttert teilte ich diesen Brief Madame Kantschin mit. Sie beruhigte mich und erklärte, daß sie dafür eintreten werde, mich in meiner Stellung zu erhalten. Indessen sah ich doch mit einiger Sorge der Ankunft des alten Herrn entgegen. Er traf am 4. Juni ein, um diesmal mehrere Monate zu bleiben. Der Herbst kam heran, und mit ihm[167] der Schluß des Schuljahres. Das Zeugnis, welches Georges nach Hause brachte, war nichts weniger als glänzend. Immerhin war er in das gymnase versetzt und würde bei regelmäßigen Fortschritten auf ihm in drei Jahren das Reifezeugnis erreicht haben, welches ihm den Besuch der Universität oder des Polytechnikums ermöglicht hätte. Monsieur Kantschin zeigte sich sehr wenig zufrieden mit den Resultaten des Jahres und nicht geneigt, Georges auf dem mühsam erreichten Wege weitergehen zu lassen. »Sehen Sie einmal,« sagte er zu mir, »was in den drei bevorstehenden Jahren hier alles gelernt werden soll an Sprachen, Literaturgeschichte, Geschichte, Religion usw. das hat alles für die Pläne, die ich mit meinem einzigen Sohn habe, keinen Wert.« Er soll ein tüchtiger Ingenieur werden und dazu braucht er Mathematik, Zeichnen und etwas Naturwissenschaft und weiter nichts. Wenn Sie jetzt hier abbrächen und mit meinem Sohne nach Aachen gingen, so könnte er dort durch Privatunterricht in Mathematik und Zeichnen so weit gebracht werden, daß er in einem Jahre anstatt dreier Jahre ins Polytechnikum einrücken kann. Dieser Plan schien mir nicht nur für mich selbst unbequem, nach dem ich in Genf einen so schönen Anfang meiner akademischen Tätigkeit gemacht und schon für das nächste Jahr neue Vorlesungen angekündigt hatte, er erschien mir auch für meinen Zögling und seine Zukunft höchst bedenklich. Ich stellte dem alten Herrn vor, daß man zwar das ganze Pensum der elementaren Mathematik, Planimetrie, Trigonometrie und Stereometrie in einem Jahre bewältigen könne, daß aber nach einem so forcierten Verfahren die Übung in allen diesen Fächern allzu mangelhaft sein werde, um ein gedeihliches Fortschreiten auf dem Polytechnikum zu ermöglichen, daß außerdem Georges dann noch nicht das vorgeschriebene Minimalalter von siebzehn Jahren haben werde, nur als Zuhörer aufgenommen werden könne und bei seiner Jugend nicht die sittliche Reife haben werde, um den Gefahren zu widerstehen, die das freie Studentenleben mit sich bringe. Alle diese Vorstellungen vermochten nicht, den Herrn von seinem Plane abzubringen. »Ich selbst«, sagte er, »würde die Erziehung meines Sohnes in die Hand nehmen, wenn ich dazu die Zeit hätte. Da mich meine Geschäfte daran hindern, so müssen Sie meine Stelle[168] vertreten, aber durchaus in meinem Sinne handeln.« Monsieur Kantschin war nicht umzustimmen, ich besprach die Sache mit Madame, aber diese hatte die Aussicht, wenn ich mit Georges nach Aachen ginge, mit den beiden Mädchen nach Paris zu ziehen, und das war ihr Ideal. Sie hatte öfters gesagt: »Il y a une seule ville au monde, où je peux vivre, c'est Paris!« Also auch bei ihr fand ich keine Hilfe. Ebensowenig bei Georges, wenn ich ihm vorstellte, daß ihm auf diese Weise so viele schöne Bildungselemente verlorengehen würden. Die Aussicht, in ganz neue Verhältnisse einzutreten, entsprach durchaus seinen Wünschen. Warnend rief ich ihm die Worte Molières zu: »Tu l'as voulu, Georges Dandin, tu l'as voulu.« So waren denn alle in Betracht kommenden Faktoren gegen mich gleichsam verbündet, und ich sah ein, daß mir nur die Wahl bleibe, entweder auf die Pläne des Vaters einzugehen oder meinen Abschied zu nehmen. Zu letzterem hatte ich jedoch nicht den Mut. Meine Stelle in Deutschland hatte ich aufgegeben, und so sehr ich auch hoffen durfte, mit der Zeit auch an der Universität Genf ein Lebensstellung zu erringen, so hatte ich doch erst 5000 Franken erspart, und diese Unterlage war noch zu schwach, um auf sie allein hin das Risiko des Privatdozententums zu unternehmen. Es blieb mir also nichts anderes übrig, als auf die Absichten des Vaters einzugehen, indem ich ihm erklärte, daß ich bereit sei, mit dem besten Willen seine Pläne auszuführen, daß ich aber die Verantwortung für ihr Gelingen ihm selbst überlassen müsse. Soweit waren wir also und besprachen täglich, in welcher Weise die Sache am besten einzuleiten sei. In einem solchen Gespräche saßen wir am Abend des 7. September nach einem guten Diner bei einem Glase Wein und der Zigarette zusammen, während Madame Kantschin sich zurückgezogen hatte und die Kinder im Garten spielten, als plötzlich Monsieur unter vier Augen an mich die Frage richtete, ob ich glaube, für das vergangene Jahr Anspruch auf die 1400 Franken zu haben, die mir außer den 300 Franken monatlich zugesichert waren, falls Georges sein Examen bestünde. Ich erklärte, daß ich allerdings nach den verabredeten Bedingungen ein Anrecht darauf zu haben glaube. »Aber«, sagte Monsieur, »diese Summe ist doch eine Prämie, und für schlechte Resultate zahlt man keine[169] Prämien, um eine solche zu bewilligen, müßten doch wenigstens zwei Drittel vom Maximum erreicht sein.« – »Für die Zukunft«, sagte ich, »können wir ja einen Vertrag dieser Art schließen, bisher aber war nur Bedingung, daß Georges versetzt würde, wie denn auch im vorigen Jahre auf die bloße Bescheinigung hin, daß er aufgenommen sei, die Summe gezahlt wurde.« Es wurde noch vieles in dieser Weise hin und her geredet, bis schließlich Monsieur Kantschin, als er sah, daß ich bei meiner Forderung beharrte, etwas erregt aufsprang und sagte: »Nun gut, ich werde Ihnen das Geld geben und dann faisons chacun ce qu'il veut.« Damit eilte auf sein Zimmer, während ich bestürzt sitzenblieb, und alsbald kam er zurück mit einer Handvoll jener blaubedruckten französischen Banknoten, zählte sie noch einmal durch und legte sie vor mich hin. »Erlauben Sie einen Augenblick,« sagte ich, »wenn ich nun auf diese Summe verzichte, auf die ich ein Recht zu haben glaube, was bieten Sie mir?« – »Ich biete Ihnen ein weiteres Engagement für zwei Jahre mit 300 Franken monatlich und 1400 Franken am Ende des Studienjahres, wenn zwei Drittel vom Maximum erreicht sind.« Damit stand er auf, um zu gehen. »Aber bitte,« sagte ich, »wollen Sie das Geld nicht wieder an sich nehmen?« – »Sie können es ja an sich nehmen und die Sache bei sich überlegen.« Damit ging er hinaus. Ich trug das Geld auf mein Zimmer, schloß es ein und überlegte die Lage der Sache bis tief in die Nacht hinein. Das Anerbieten, noch zwei weitere Jahre meine bevorzugte Stellung zu behalten, war verlockend genug. Auf der andern Seite mußte ich mir sagen, daß die fragliche Summe genüge, um mich ein volles Jahr zu unterhalten, und daß ich es mir nie in meinem Leben verzeihen würde, auf eine Summe zu verzichten, die mir zukam, und die ich durch ehrliche Arbeit verdient hatte. Hätte Monsieur Kantschin das Geld. wieder an sich genommen, ich weiß nicht, zu welchem Entschluß ich gekommen wäre. Nun aber hielt ich den Schatz in Händen, und schließlich mußte ich mir sagen, daß mein Chef, wenn er mich für brauchbar hielt, mich in meiner Stellung belassen werde, auch wenn ich die 1400 Franken behalte. Am andern Morgen, als ich Georges zum gymnase brachte, nahm ich das Geld mit und zahlte es beim Bankier auf mein Konto ein.[170] Zurückgekehrt setzte ich in einem Brief meine Ansicht von der Sache auseinander und übergab diesen Herrn v. Kantschin, als ich Georges am Nachmittag zur Schule begleitete. Noch einmal versuchte der Vater, mich umzustimmen, stand aber davon ab, als er sah, daß ich bei meinem Entschluß beharrte, und war in den folgenden Tagen wie immer höflich, aber doch in ziemlich ungnädiger Stimmung. Einige Tage darauf reiste er ab. Wir alle begleiteten wie gewöhnlich den Vater zum Bahnhof, und der Abschied von mir war etwas weniger freundlich als sonst. Monsieur Kantschin reiste, wie ich später erfuhr, direkt nach Aachen und versuchte wirklich dort seinen Sohn bei einem Professor des Polytechnikum als Pensionär unterzubringen. Es gelang ihm nicht, da die meisten verreist wahren und die übrigen wohl keine Lust hatten, eine solche Last auf sich zu nehmen. Am 16. September erhielt ich von Herrn v. Kantschin aus Aachen einen Brief, in welchem er noch einmal seinen Standpunkt in der Sache wahrte, indem er hinzufügte, daß mir, da ich ja cette bagatelle in Händen habe, aus dieser Verschiedenheit der Meinungen kein Nachteil entspringe, und sich bereit erklärte, mir für weitere zwei Jahre seinen Sohn anzuvertrauen unter Zusicherung freier Station und von 300 Franken monatlich nebst einer Prämie von 1400 Franken, falls Georges am Ende des Schuljahres zwei Drittel vom Maximum des Erfolges erreicht haben werde. »Sind Sie hiermit einverstanden,« so schloß der Brief, »so können Sie ohne Verzug Ihre und meines Sohnes Sachen einpacken und nach Aachen reisen, um dort alles vorzubereiten, bis Georges von seiner Mutter dorthin gebracht werden wird.«
Von diesem Briefe, der am 16. September 1874 eintraf, machte ich Madame Kantschin Mitteilung. Sie war durchaus damit einverstanden und bestimmte ihrerseits, daß ich ohne weiteres mit unserm gemeinsamen Gepäck nach Aachen vorausreisen solle, wohin sie selbst in den ersten Tagen des Oktober mit Georges nachkommen werde. Und so saß ich am Sonntag, dem 20. September, auf der Bahn, nahm Abschied von meinem geliebten Genf und fuhr die Nacht durch nach Aachen. Monsieur Kantschin hatte mir empfohlen, mich in allen Fragen, welche Georges betreffen könnten, an den Direktor des Polytechnikums, Herrn v. Kaven,[171] der als Professor den Eisenbahnbau vertrat, zu wenden und seinen Weisungen jederzeit zu folgen, da v. Kaven ihm zugesichert habe, sich in allen Stücken bereitwillig unser annehmen zu wollen, und so habe ich denn während meines viereinhalbjährigen Aufenthaltes in Aachen das Wohlwollen dieses vortrefflichen Mannes mehr, als es ihm selbst und auch mir angenehm sein mochte, in Anspruch nehmen müssen.
Ich hatte mich gleich bei meinem Antrittsbesuche bei v. Kaven über die Frage einer passenden Wohnung zu unterhalten. Er empfahl mir Frau Dr. Lorenz, die Schwiegermutter seines Kollegen Intze, welche Pondstraße 149 ein Haus hielt, in welchem eine Anzahl Polytechniker wohnten und noch viele andere sich mittags zur gemeinsamen Mahlzeit versammelten. Hier mietete ich die drei Zimmer des zweiten Stocks für Georges und mich, machte in den letzten Septembertagen noch einen Besuch in Heinsberg und Elberfeld, kehrte rechtzeitig zurück, um die angekommenen Kisten auszupacken, und konnte Madame Kantschin bei ihrer Ankunft mit Georges in Aachen am 4. Oktober in den fertig eingerichteten Räumen empfangen.
Für die Vorbereitung meines Zöglings zum Besuche des Polytechnikums war ein Jahr in Aussicht genommen. Ein Lehrer des Gymnasiums, Dr. Aussen, hatte es übernommen, ihm täglich in unserer Wohnung den nötigen Unterricht in der Elementarmathematik zu geben; daneben nahm er in der Gewerbeschule an dem Unterricht in Physik, Chemie und Zeichnen teil, und der Direktor dieser Schule, Dr. Pützer, war dafür gewonnen worden, ihn alle vierzehn Tage über die gemachten Fortschritte zu prüfen. Dies alles machte nicht geringe Kosten, aber Monsieur Kantschin trug sie gern in der Aussicht, nach Jahresfrist seinen Sohn aufs Polytechnikum bringen zu können, wenn auch vorläufig nur als Zuhörer, da ihm an dem Mindestalter von siebzehn Jahren zur Aufnahme als Studierender auch nach Verlauf eines Jahres noch ein Jahr fehlte. Die Woche durch wurde fleißig gearbeitet. Ich überwachte vom Nebenzimmer aus den regelmäßigen Gang der Mathematikstunden, während ich daneben ungestört meinen Sanskritstudien nachgehen konnte.
Das erste Jahr verlief für beide Teile in fleißiger Arbeit.[172] Georges ging mit dem treuen und geduldigen Dr. Aussen seine Arithmetik und Planimetrie, Trigonometrie und Stereometrie so gut es in einem Jahr geschehen konnte, durch, und ich im Zimmer nebenan übte mich fleißig im Sanskrit, las Rigveda und Çakuntala und suchte an der Hand des Vedanta Sara und der Sankya Karika in die indische Philosophie einzudringen. Daneben fehlte es nicht an Erholung. Der Vater hatte bestimmt, daß wir, wenn Georges die Woche durch fleißig gewesen war, am Sonnabend und Sonntag eine kleine Reise machen durften, und so waren wir allsonntäglich entweder in Heinsberg bei Bruder Johannes oder in Schwerte bei Werner. In den Weihnachtsferien 1874 auf 1875 ging Georges nach Paris und ich, sehr ermüdet von der intensiven Sanskritarbeit, nach Oberdreis, wo ich, wie immer, das Predigen und Beerdigen für meinen Vater übernahm und dem alten Manne dadurch ein längeres Stehen in Schnee und Eis am offenen Grabe ersparte. Mit besonderem Vergnügen folgte ich zu Ostern einer Einladung von Madame Kantschin, die Ferien mit Georges in Paris zu verbringen, welches ich so zum ersten Male zu sehen bekam. Ich bewohnte das hochelegant mit weißen Möbeln ausgestattete Zimmer des in Rußland weilenden Herrn von Kantschin, und Georges unternahm es, mir »sein Paris« zu zeigen und namentlich mit mir so ziemlich jeden Abend ins Theater zu gehen. Sehr befriedigt kehrte ich mit Georges am 13. April nach Aachen zur Fortsetzung der Arbeit zurück. Das erste Aachener Jahr ging mit dem Monat Juli zu Ende. Auf die Erklärung der Herren Direktor Pützer und Dr. Aussen hin, daß Georges sich den Stoff der Elementarmathematik hinreichend angeeignet habe, unterwarf ihn Direktor v. Kaven persönlich einem kurzen, mehr formellen Examen, woraufhin ihm ein in aller Form offiziell abgefaßtes Zeugnis ausgefertigt wurde, daß er als Zuhörer, da er die zum Studieren erforderlichen siebzehn Jahre noch nicht besaß, ins Polytechnikum aufgenommen worden sei, ein Zeugnis, welches den Vater sehr glücklich machte. Georges durfte die Ferien bei seiner Familie in Spaa zubringen, und auch ich wurde dorthin eingeladen, aufs herrlichste bewirtet und mit reichen Geldmitteln, unter ihnen auch den mir als Prämie für das erreichte Jahresziel zustehenden[173] 1400 Franken, entlassen. Im übrigen verbrachte ich meine Ferien teils mit Johannes in Heinsberg und Aachen, teils in Oberdreis, immer fleißig am Sanskrit weiter arbeitend und teils meinen Bruder in Heinsberg, teils meinen Vater in Oberdreis im Predigtamt vertretend. Letzteres tat ich sehr gern, denn es war mir eine große Befriedigung meine durch Kant und Schopenhauer gewonnenen philosophischen Anschauungen in die hergebrachten kirchlichen Formen zu kleiden.
Der Monat Oktober 1875 brachte den Anfang meiner Vorlesungen und damit eine sehr bedeutsame Änderung meiner Lebenslage mit sich. Von den Vorlesungen, welche ich 1873 bis 1874 an der Universität Genf in französischer Sprache gehalten hatte, ist oben gesprochen worden. Vor meiner Abreise aus Genf hielt ich es für geraten, als Privatdozent der dortigen Universität um Urlaub zu bitten und mir so die Möglichkeit einer Rückkehr in meine Stellung offenzuhalten. Ich wandte mich zu diesem Zweck an den damaligen Rektor der Universität, den durch sein Auftreten im Streite um die Deszendenztheorie bekannten Zoologen Karl Vogt, einen behäbigen Materialisten, welcher unter den Genfer Professoren als Stern erster Größe glänzte. Auf meine Bitte um Urlaub erhielt ich einen Brief, dessen Wortlaut mir noch ungefähr in der Erinnerung ist. Er lautete:
Mein lieber Herr Doktor!
Wir sind hier noch nicht so verbismarckt und verpreußt, daß wir uns erlauben, Leuten, die wir nicht bezahlen, einen Urlaub zu erteilen. Sie können gehen, so lange und wohin Sie wollen, und können jederzeit Ihre Vorlesungen an unserer Universität wieder aufnehmen.
Mit diesem Briefe, welcher mir vielleicht erlaubt, mich noch heute als Angehöriger der Genfer Universität zu betrachten, hatte ich Genf verlassen und während meines ersten Aachener Jahres das Halten von Vorlesungen ungern entbehrt, wäre es auch nur, um in das unausgesetzt betriebene, Kopf und Augen ermüdende Sanskritstudium einige Abwechslung zu bringen. Ich reichte daher im Herbst 1875 meine Dissertation dem Aachener Professorenkollegium ein und erlangte ohne weitere Umstände[174] meine Habilitation als Privatdozent der Technischen Hochschule, wie sie damals zuerst genannt wurde. Ich dachte mir die Sache so, daß ich unter dem Titel »Hauptfragen der Philosophie« vor einem oder einigen Dutzend Zuhörern behaglich und mühelos vortragen würde, was mir so sehr am Herzen lag, und dabei wenigstens für Stunden die häusliche Arbeit am Sanskrit unterbrechen würde. Aber es kam anders. Die erste Vorlesung am 15. Oktober 1875 sah den geräumigen Saal bis auf den letzten Platz gefüllt; ein Referat in der Aachener Zeitung, zu dem ich selbst den Entwurf geliefert hatte, tat das übrige, der größte Saal des Polytechnikums reichte kaum aus; die Zahl der für meine Vorlesung eingeschriebenen Zuhörer betrug, wie der gedruckte Jahresbericht der Schule auswies, 307. Es war wohl so ziemlich das ganze Polytechnikum vertreten, auch mehrere Professoren, unter ihnen namentlich v. Kaven, und dazu eine stattliche Anzahl von Herren und Damen aus der Stadt. Ich verhehlte mir nicht, daß es wesentlich Neugier war, welche diese Scharen um mich versammelte, und sah mit Angst voraus, daß der Strom sehr bald zurückebben würde. Und dann würde es heißen: »Hab ich sie anzuziehen Kraft besessen, so hatt' ich sie zu halten keine Kraft.« Dieses beschämende Resultat mußte verhindert werden, und ich beschloß alle Kräfte anzuspannen, um meine Zuhörer auf die Dauer zu fesseln, und dies gelang. Die bisher so eifrig betriebenen Sanskritstudien mußten fürs erste etwas zurücktreten; denn jeden Mittwoch- und Freitagabend mußte ich in den hellerleuchteten Räumen vor eine glänzende Versammlung treten und ihre hochgespannten Erwartungen zu befriedigen suchen. Dies war nicht anders als in vollkommen freier Rede möglich, nur daß ich jedesmal auf einem kleinen Zettelchen die Punkte notiert hatte, welche ich zu besprechen gedachte. Täglich ging ich stundenlang, in der Regel in dem anmutigen Gehölze des Lußberges, umher und durchdachte mein Thema für den nächsten Vortrag. Wenn ich ein guter akademischer Lehrer geworden bin, so habe ich dies wesentlich der Schulung zu verdanken, welcher ich mich damals freiwillig unterwarf. Nach meiner Gewohnheit in Genf hatte ich die Absicht, auch hier ein Resumé des Vorgetragenen meinen Zuhörern in die Feder zu diktieren. Aber Direktor v. Kaven, der[175] regelmäßig, wie auch andere Professoren, den Vorträgen beiwohnte, sagte zu mir: »Wozu ist denn die Buchdruckerkunst erfunden; lassen Sie Ihr Resumé drucken und verteilen Sie es bogenweise an Ihre Zuhörer.« Bei diesem Vorschlage empfand ich einen gelinden Schauer, ich glaube, es war ein Schauer der Ehrfurcht. Außer meiner Doktordissertation und gelegentlichen Kleinigkeiten hatte ich nie etwas drucken lassen, und nun sollte ich gar die tiefsten Gefühle, welche mein Herz bewegten, zu Papier bringen und durch Druckerschwärze verewigt mir und vielen andern entgegenstarren sehen. Denn der Inhalt konnte ja kein anderer sein, als die selbständig angeeignete und bis in die letzten Tiefen des Gemüts eingedrungene Philosophie des großen Kant und des göttlichen Schopenhauer. Auch die materielle Seite der Frage kam in Betracht. Denn wenn ich auch durch Erhebung von einer Mark und später nochmals von fünfzig Pfennig von meinen Zuhörern eine Deckung meiner Auslagen erlangte, so hatte ich doch zunächst auf eigene Kosten und Gefahr drucken zu lassen, und ich berechnete, daß mir jede Zeile fünfzehn Pfennig, soviel wie ein Glas Bier, kosten würde, und beschloß in Anbetracht meiner damals erst auf 9000 Mark angewachsenen Ersparnisse, mit den Zeilen sparsam zu sein. Nach jeder Vorlesung, und wenn ich von ihrem Inhalte auf das lebendigste erfüllt war, suchte ich die Quintessenz derselben in kürzester und klarster Form abzufassen und sogleich der Druckerei zu übergeben. So entstand im Laufe der nächsten Jahre ein Werk, wie ich es nur einmal im Leben und nicht wieder zu verfassen imstande war, und wie es noch jetzt und bis an mein Ende das eigentliche Programm meiner Lehre wie meines Lebens bildet, so entstanden – die »Elemente der Metaphysik«. Was ich mit dieser Publikation, welche den Genius Schopenhauers rückhaltlos anerkannte, in meinem Jahrhundert wagte, stand mir von vornherein klar vor Augen. Ich hatte mit ihr die Brücke hinter mir abgebrochen und die Schiffe verbrannt, ein Zurückweichen gab es nicht mehr. Und so war ich völlig darauf gefaßt, einem ähnlichen Schicksale zu verfallen, wie es Schopenhauer erfahren hatte, lebenslänglich gegen den Strom zu schwimmen und äußerlich vielleicht nie über die Stellung eines Privatdozenten hinauszukommen. So kam der Januar 1876 heran, ich[176] war mit 16 Vorlesungen bis zur Metaphysik der Natur gelangt, die ersten Druckbogen waren in den Händen meiner Zuhörer, als mir eine seltsame Überraschung zuteil wurde. In dem ultramontanen »Echo der Gegenwart« erschienen im Laufe des Januar und Februar 1876 zunächst zwölf Artikel, welche in Anrede und Form: »Mein treuer Paul usw.« einen harmlosen Ton anschlugen, der Sache nach aber gegen mein Auftreten und meine Lehre die schärfsten Angriffe richteten. Man behauptete, ich sei vom Ministerium Falk nach Aachen geschickt worden, um den Kulturkampf zu führen, und knüpfte daran eine an jesuitischen Verdrehungen reiche Kritik meiner Lehre. In meiner Unschuld antwortete ich in demselben Blatte einige Male, erklärte, daß mich kein Kaiser und kein König bezahle, und suchte die Mißverständnisse meiner Lehre aufzuklären. Als Motto meines ersten Gegenartikels hatte ich ein Verschen gewählt:
Denk an das Stückchen,
Von jenem Mückchen,
Welches entgegenflog dem Licht.
Mücklein! Verbrenn' dir die Flügelchen nicht.
Dies hatte die Wirkung, daß mein Gegner sich in den folgenden Artikeln unterzeichnete als »Dein alter Freund Mücklein«, aber zu belehren war er nicht, und so beschworen mich meine Freunde, nachdem ich zwei- oder dreimal geantwortet hatte, mich auf keine weiteren Erörterungen einzulassen, da es meinem Gegner nicht darum zu tun sei, die Wahrheit zu ermitteln, sondern nur seinen ultramontanen Parteistandpunkt zur Geltung zu bringen. Eine zweite Serie von sechs Artikeln erschien seit Ostern 1876 in verändertem Stil und Ton, eine dritte, die giftigste von allen, erschien in zwölf Artikeln im Winter 1878 auf 79. Auf sie werden ich weiter unten zurückkommen. Hier mag es genügen zu sagen, daß ich meinen ersten Zyklus von Vorlesungen vom 15. Oktober 1875 bis zum 14. Juni 1876 glorreich zu Ende führte, und daß auch in den letzten Vorlesungen noch über hundert Personen durch die Hitze des Sommers hindurch treu geblieben waren.
Es wird Zeit, daß wir uns wieder nach unserm Georges und seinen Verhältnissen umsehen.[177]
Seine Vorbildung hatte zu eilig betrieben werden müssen, als daß er den Vorträgen bei Hattendorff über höhere Mathematik und bei Ritter über Mechanik mit vollem Verständnis und Interesse hätte folgen können; auch fühlte er sich, obgleich minderjährig und erst sechzehn Jahre alt, als Polytechniker und beanspruchte alle Freiheiten im Schwänzen von Vorlesungen und Besuchen von Kneipen, wie sie diesem freistanden. Es wurde alles getan, um ihn einigermaßen in Ordnung zu halten, täglich kam ein älterer Student, um die Vorlesungen mit ihm zu repetieren, und alle vierzehn Tage wurde er von Professor Pinzger einer Prüfung unterworfen, welche anscheinend ein günstiges Ergebnis hatte. Da erfolgte am 10. Januar 1876 die erste offizielle Repetition bei Professor Ritter, welche uns aus allen geträumten Himmeln herausriß, indem der ebenso strenge wie wohlwollende Mann erklärte, daß Georges gar nichts verstehe, daß er überhaupt noch nicht fähig sei, den Vorträgen zu folgen und mir auf mein Befragen hin nur den Rat zu erteilen wußte, den Knaben noch für ein paar Jahre einem Gymnasium oder einer Realschule anzuvertrauen. Man kann sich die Aufregung denken, in welche diese Nachrichten den alten Kantschin versetzten. Von einer Befolgung des Ritterschen Rates wollte er durchaus nichts hören, und so mußte in der begonnenen Weise fortgefahren werden. Noch größer wurde unsere Verlegenheit, als Professor Pinzger, beschämt über die Divergenz des Ritterschen Urteils von dem seinen, statt in unserer Not uns beizustehen, sich völlig von uns zurückzog; wie kleinlich seine Denkungsart war, ist auch daraus ersichtlich, daß er der einzige war, welcher die im Jahre 1877 fertig gewordenen und allen Professoren als Geschenk übersandten »Elemente der Metaphysik« mir zurückschickte, obgleich gerade er wie seine Mutter vordem die eifrigsten Zuhörer meiner Vorlesungen gewesen waren. Es blieb nichts anderes übrig, als mit älteren Polytechnikern zu operieren und uns für die verschiedenen etwa allmonatlich anberaumten Repetitionen möglichst sorgfältig vorzubereiten. So ging das Studienjahr im Juli zu Ende; August und September benutzte ich, um die Elemente im Manuskript zu Ende zu führen. Demnächst sollte Georges, der nun das Minimalalter von siebzehn Jahren hatte und bisher nur Zuhörer gewesen[178] war, als Studierender aufgenommen werden, wozu er ein Examen zu bestehen hatte. Um ihn für dasselbe frisch zu haben, beschloß ich mit ihm die ersten fünf Tage des Oktober eine Reise durch Belgien zu machen. Aus irgendeinem Grunde reiste er voraus und wußte es so einzurichten, daß er jedesmal, wenn ich ankam, schon abgereist war, so daß ich über Lüttich, Brüssel, Antwerpen, Gent und Ostende immerfort seinen Spuren folgte, ohne ihn doch zu treffen. Erst in Aachen fanden wir uns am 5. Oktober wieder. Zugleich erwartete mich die Trauerbotschaft, daß Werners Frau, das so lebensfrohe Minchen, die Mutter von Nenna und Willy, nach der Geburt des letzteren gestorben war. Am 6. Oktober sollte Georges die Aufnahmeprüfung bei Hattendorff bestehen, und dieser ließ ihn, nachdem er ihn, wie Georges berichtete, kaum fünf Minuten gefragt hatte, durchfallen, nachdem ihn v. Kaven schon vor Jahresfrist für reif erklärt hatte. Die Divergenz der Urteile erklärt sich zum Teil aus persönlichen Gründen. V. Kaven wollte mir wohl, protegierte meine Vorlesungen in jeder Weise und ließ es sich geduldig gefallen, wenn ich ihn immer wieder in Angelegenheiten des jungen Kantschin behelligen mußte. Weniger Wohlwollen fand ich bei andern Professoren. Am 3. Februar 1876 war ein großes Studentenfest mit gedruckter Bierzeitung, welche noch in meinen Händen ist, und mehr von dem Eindrucke meiner Vorlesungen als von dem aller andern voll war, welches ja wohl bei manchen ein Gefühl der Eifersucht wachrufen mochte. Tatsache ist, daß Hattendorff, mit dem ich das Auditorium teilte, Klage darüber führte, daß meine zahlreichen Zuhörer Tische und Bänke beschmutzten, mir das neben dem Auditorium liegende Wartezimmer verschloß und es so weit trieb, daß ich nach Ostern meine Vorlesungen ganz aufgeben wollte und sie nur auf vieles Zureden in der großen Aula wieder aufnahm. Nach dem peinlichen Resultate des Examens bei Hattendorff suchte ich diesen auf, und er erklärte, nichts dagegen haben zu wollen, daß Georges noch einmal von einem andern examiniert würde. Hierzu wurde Professor Helmert be stimmt. Inzwischen waren Monsieur und Madame Kantschin mit beiden Töchtern in Aachen angekommen und die ganze Familie war in unserm Salon versammelt, während Georges zu Helmert ins Examen stieg, und mit[179] Spannung erwarteten wir seine Rückkehr. Diesmal nehmen sie ihn aber gehörig vor, sagte Monsieur Kantschin. Endlich kam Georges zurück; auch Helmert, wie ja auch zu erwarten war, hatte ihn durchfallen lassen. Nachdem Georges diese Nachricht überbracht hatte, entstand ein allgemeines tiefes Schweigen. Ich selbst war äußerst beschämt und erwartete nichts anderes als meinen Abschied. Schon vor einem Jahr war durch offizielles, von Direktor v. Kaven unterfertigtes Schreiben seine Reife fürs Polytechnikum anerkannt worden, ich hatte daraufhin meine Jahresprämie eingestrichen, und jetzt, nachdem ein volles Jahr vergangen war, sollte mein Zögling durch zweifaches Verdikt von Hattendorff und Helmert für unreif erklärt werden. Endlich brach Herr v. Kantschin das peinliche Schweigen und richtete an mich die Frage, was nach meiner Meinung jetzt am besten geschähe? Ich erkannte daraus, daß der Vater mit der Drohung, seinen Sohn nach Rußland zu nehmen, nicht Ernst machen wollte, daß er geneigt war, mit meiner Hilfe weiter zu experimentieren. Auf diesen Gedanken eingehend, wies ich darauf hin, daß Georges statutenmäßig zu Weihnachten sich nochmal zum Examen stellen könne, und daß bis dahin bei energischer Arbeit die Aufnahmeprüfung wohl zu bestehen sein werde. Herr v. Kantschin billigte diesen Plan, alles einzelne wurde besprochen und verabredet und er schloß, indem er mich bedeutungsvoll ansah, mit den Worten: »Damit wäre ja denn wohl alles besprochen.« Ich bejahte es. Darin lag von beiden Seiten die für mich so sehr schmerzliche, aber bei den obwaltenden Umständen unvermeidliche Übereinkunft, daß von der üblichen Prämie von 1400 Franken für dieses Jahr keine Rede sein könne. Die Familie reiste ab, ich blieb mit Georges allein in Aachen, dem Schauplatz so vieler Wonnen und so unsäglicher Qualen.
Nach ernstlicher Überlegung kam ich zu dem Entschlusse, für die erste Zeit nicht nur die Leitung, sondern auch den Unterricht meines Zöglings in die Hand zu nehmen, mit ihm nochmals die ganze Elementarmathematik durchzugehen, mit ihm die täglichen Repetitionen abzuhalten und, was das Schwerste war, mit ihm die technischen Vorlesungen zu besuchen. Und so saß ich vom nächsten Morgen alle Tage im Polytechnikum und hörte höhere[180] Mathematik bei Hattendorff, Baukonstruktion bei Intze und Mechanik bei Ritter, in demselben Saale, in welchem ich im verflossenen Jahre die größten Triumphe gefeiert hatte. Es war eine der größten aszetischen Leistungen, deren ich mich in meinem Leben rühmen kann. Herr v. Kantschin, dem ich meinen heroischen Entschluß brieflich mitteilte, zeigte sich dadurch gerührt und machte mir folgenden, bedeutsamen Vorschlag. Wir wollen, hieß es in seinem Brief, nicht mehr von jährlich 1400 Franken Prämie reden, sondern, ich schlage vor, daß, wenn Georges von jetzt an in zwei Jahren die Vorprüfung, wie sie auf halbem Wege zum Diplomexamen üblich ist, besteht, Sie eine Gesamtprämie von 5000 Franken erhalten. Ich zögerte nicht, auf dieses Anerbieten einzugehen, denn wenn auch die Aussicht auf die 5000 Franken sehr gering war, so lag doch darin ein festes Engagement für zwei volle Jahre, in einer ganz erträglichen Lebensstellung. Es wurde also mit Eifer weitergearbeitet, und auch Georges schien unter dem Eindrucke der erlittenen Niederlage und meines heldenmütigen Vorgehens lenksamer als je vorher. Die Hauptsache war die Elementarmathematik, Algebra, Planimetrie, Trigonometrie und Stereometrie, und es war für mich nicht ohne Interesse, diese gymnasialen Fächer nochmals durchzugehen. Neujahr 1877 kam heran, und mit ihm erschien Herr Kantschin, um das Resultat der nochmaligen Prüfung abzuwarten und, wenn sie wieder nicht bestanden werden sollte, seinen Sohn irgendwo in Rußland unterzubringen. Ich meldete die Prüfung beim Direktor v. Kaven an, zugleich mit der Bemerkung, daß von ihr das weitere Verbleiben meines Zöglings am Polytechnikum abhängen werde. Hier machte v. Kaven nun den überraschenden Vorschlag, das Risiko einer neuen Prüfung zu umgehen und auf Grund eines bestehenden Statuts meinen Zögling als Ausländer ohne Prüfung unter die Studierenden der Anstalt aufzunehmen. Ich überbrachte diesen Vorschlag dem Vater, und er stimmte zu. Zugleich fragte ich ihn, ob er Wert darauf lege, daß ich noch weiterhin mit Georges die Vorlesungen besuche und die Repetitionen abhalte. Er verneinte es, und ich fühlte mich von einer schweren Last befreit. Von nun an erschien wieder jeden Nachmittag ein Repetent. Die Repetitionen bei den Professoren, über die ich dem Vater jedesmal[181] Mitteilung machte, verliefen mit wechselndem Erfolg, so daß ein Bestehen der Vorprüfung gegen Ende des Jahres 1878 zwar nicht sehr wahrscheinlich, aber doch nicht außer dem Bereich des Möglichen war. Den Extravaganzen meines Zöglings, wie sie von Zeit zu Zeit nicht ausblieben, suchte ich nach Möglichkeit vorzubeugen. Den regelmäßigen Besuch der Vorlesungen suchte ich dadurch zu sichern, daß ich einen armen Polytechniker als Spion engagierte, der mir für eine Mark täglich brieflich über den Besuch berichten mußte.
Die Herbstferien des Jahres 1878 wurde unablässig gearbeitet. Vier junge Leute arbeiteten die verschiedenen Fächer mit Georges durch. Ich versprach jedem aus meiner Tasche hundert Mark, wenn Georges die Vorprüfung bestehen sollte. Daß sie erst am 6. Dezember angesetzt wurde, war Herrn v. Kantschin recht, aber er erklärte, daß mit dem ersten Oktober mein Gehalt aufhören müsse, wogegen, entsprechend unserer Verabredung, nichts einzuwenden war. Der gefürchtete 6. Dezember kam heran. Es war fleißig gearbeitet worden, aber die Professoren bei der Vorprüfung waren streng, und ein großer Teil, wenn nicht der größere, der Prüflinge fiel durch. Am Nachmittage des 6. Dezember saßen, wie mir durch den Pedell berichtet wurde, fünfzehn Professoren zusammen und beschlossen über das Bestehen oder Nichtbestehen der einzelnen Kandidaten mit Stimmenmehrheit. Die Reihe kam an Kantschin. Die erste Abstimmung ergab kein klares Resultat. »Also nochmals, meine Herren,« sagte der Direktor, »wer dagegen ist, daß Kantschin die Vorprüfung bestanden hat, der steht auf, wer dafür ist, bleibt sitzen.« Da geschah es, daß von den fünfzehn Professoren sieben – es mochten wohl die sein, welche meinen Zögling näher kannten – aufstanden und acht sitzenblieben.
Georges sollte von nun an selbständig leben und nur von einem technischen Repetitor geleitet werden. Als solcher hatte in den letzten Jahren der Polytechniker Starmans gedient, ein unbemittelter, treuer, etwas schwacher und dabei unendlich geduldiger Mann, der, wenn auch ohne tieferen Einfluß auf Georges, doch ihm ein angenehmer Kamerad war. Es war, wie sich später zeigen wird, ein Unglück, daß dieser Mann wegen geringfügiger Gelddifferenzen mit dem alten Herrn v. Kantschin[182] uns verließ und wir uns nach einem andern Mitarbeiter umsehen mußten. Zu einem solchen schien unter allen in Frage kommenden Persönlichkeiten am meisten geeignet Herr Zeidler, ein ernster, stattlicher Mann, der im Alter von zweiunddreißig Jahren noch das Polytechnikum besuchte und meinem Zögling durch seine Haltung zu imponieren wußte. Dieser also wurde mit Zustimmung des Direktors v. Kaven, der nach wie vor unter alles sein Plazet setzen mußte, wenn es dem alten Herrn annehmbar sein sollte, zur Mitarbeit gewonnen. Er bezog mit Georges eine neue Wohnung, während ich in unserer alten Wohnung das hintere Zimmer beibehielt und auf eigene Kosten lebte, nur daß Herr v. Kantschin mir vorschlug, solange ich noch keine neue Stellung hätte, für die er sich selbst zu bemühen versprach, für eine Vergütung von 200 Mark monatlich eine entfernte und möglichst unmerkliche Aufsicht über Georges und seinen neuen Kameraden zu führen. Dieses Verhältnis bestand bis zu meinem definitiven Weggang aus Aachen am 10. Mai 1879. Ehe ich aber von diesem berichte, ist noch manches aus der Aachener Zeit nachzuholen.
Ich hatte in den Jahren 1877/78 meine philosophischen Vorlesungen, teilweise auch Übungen wieder aufgenommen und nun erfolgte 1878 in einer Reihe von Artikeln des »Echo der Gegenwart« ein Angriff, welcher an maßlosen Verdächtigungen die beiden früheren Artikelreihen weit übertraf. Unter der Aufschrift: »Ein Kaiserwort und eine königlich preußische Hochschule« erschienen nacheinander zwölf Artikel, welche an jesuitischen Verdrehungen das Unglaublichste leisteten. Der Kaiser, so hieß es, habe gesagt, es solle dem Volke seine Religion erhalten bleiben, und es gäbe eine preußische Hochschule, auf welcher die gräuliche, aller Religion zuwiderlaufende Lehre Schopenhauers vorgetragen werde. Meine Vorlesungen schien der Pasquillant gar nicht besucht zu haben, er hielt sich an meine eben erschienenen »Elemente der Metaphysik«. Dort wird die christliche Rechtfertigungslehre in der Kürze vorgetragen, und dann heißt es weiter (§ 281): »Tiefer, reiner, entwickelter treffen wir denselben Gegensatz auf dem Boden der indischen Theologie an.« Aus diesen Worten folgerte der Jesuit die tollsten Dinge: »So,« sagte er, »also die Inder haben alles besser gewußt als unser Herr Christus, gegen[183] die Inder ist unser Herr Christus nur ein Dummkopf.« Die Verdrehungskunst dieses Ultramontanen war um so schamloser, als ich in Buch und Vorlesungen über das Christentum und seinen Stifter nie anders als in würdigster Weise, stets mit Liebe und Achtung gesprochen hatte. Aber dieser Giftpilz sollte noch weiter wuchern. Das Gezeter im »Echo der Gegenwart« drang bis in das ultramontane Lager der eben tagenden Abgeordneten, und hier war es Herr v. Schorlemer-Alst, welcher unkritisch genug war, die von dem Jesuiten gezogene Folgerung für Tatsache zu nehmen und im preußischen Abgeordnetenhause zu behaupten: »Es gibt eine königlich preußische Hochschule, auf welcher gelehrt wird – die Zunge sträubt sich das Wort auszusprechen –, auf welcher ein Schüler Schopenhauers lehrt, Christus sei ein Dummkopf.« Diese im Landtag vorgetragene und durch alle Blätter gehende Äußerung des ultramontanen Abgeordneten kam auch zu Ohren des Bonner Philosophieprofessors Jürgen Bona Meyer, der überall bei der Hand war, wo es etwas zu machen gab, und auch hier, anstatt es dem Angegriffenen zu überlassen, sich zu verteidigen, wenn er wollte, das Wort in der Kölnischen Zeitung nahm und hier die Erklärung abgab: Er wisse zwar nicht, wovon die Rede sei, kenne aber Schopenhauers Werke genugsam, um versichern zu können, daß die Behauptung, Christus sei ein Dummkopf, bei Schopenhauer sich nicht finde. Diese mit voller Namensunterschrift abgegebene Erklärung gab nun den durch mein beharrliches Schweigen erbitterten Echomännern einen willkommenen Anlaß, die angesammelte Galle auszuschütten. Wie eine Meute wütender Hunde stürzten sie sich auf Bona Meyer und verzausten ihm das Fell, wie er es für sein Dareinreden verdient hatte. Dieser Bona Meyer mag es auch verantworten, wenn der gegenwärtige Deutsche Kaiser so wenig Verständnis für Philosophie besitzt. Der Fall ist wert, der Vergessenheit entrissen zu werden. Nach Erscheinen meiner »Elemente der Metaphysik« hatte ich eines der wenigen Luxusexemplare an den damaligen Kronprinzen geschickt, zwei weitere gewöhnliche Exemplare beigelegt und Seiner Königlichen Hoheit anheimgestellt, diese, falls er es für gut fände, seinen beiden, eben ins Jünglingsalter getretenen Söhnen Prinz Wilhelm und Prinz Heinrich zum Studium zu übergeben; daß[184] der Kronprinz dieses wirklich getan hat, erfuhr ich aus einem Briefe, den Bona Meyer wegen eines andern Anlasses (es handelte sich um die Unterbringung eines jungen Ausländers) an mich schrieb und nach Erledigung des geschäftlichen Teiles wörtlich folgendes mitteilte:
»Nach Erledigung dieser Sache habe ich Ihnen noch für die Zusendung Ihrer ›Elemente der Metaphysik‹ zu danken. Es war mir zugleich lieb, aus Ihrem begleitenden Brief zu sehen, daß Sie sich noch meiner Privatdozentenschaft in Berlin erinnern. Daß mich der Inhalt Ihres Buches wohl interessieren, aber nicht befriedigen konnte, werden Sie wissen. Ich teile Ihren Schopenhauerschen Standpunkt ja durchaus nicht.
Von Interesse wird Ihnen die Mitteilung sein, daß der Kronprinz diesen Winter seinem Sohne, dem Prinzen Wilhelm, Ihr Buch zum Studium mitgab, freilich nicht mit Erfolg. Doch hat Prinz Wilhelm mich ein paarmal nach dem Buch gefragt und jetzt die Rezension von Weiß in den Philosophischen Monatsheften gelesen und seinem Vater mitgenommen.«
Aus diesen Worten Bona Meyers geht hervor, daß der Kronprinz tatsächlich das Buch für geeignet gehalten hat, um es seinem die Universität Bonn beziehenden Sohne, Prinz Wilhelm, dem gegenwärtigen Deutschen Kaiser, zum Studium, wie Meyer sagt, mitzugeben, daß der Prinz auch ein gewisses Interesse an der Sache genommen hat, da er seinen philosophischen Berater wiederholt »ein paarmal« nach dem Buche gefragt hat, daß aber Bona Meyer das seinige getan hat, um zu verhindern, daß der künftige Beherrscher Deutschlands mit der echten Philosophie bekanntwerden und daß er, um dies noch vollständiger zu erreichen, die Rezension von Weiß in den Philosophischen Monatsheften von 1878 S. 161 bis 169 als bestes Mittel entdeckt hat, um dem Prinzen Wilhelm und seinem Vater das Buch möglichst aus den Augen zu rücken.
Nach dieser Abschweifung kehre ich zu der mit skandalöser Leichtfertigkeit im preußischen Abgeordnetenhause von Schorlemer-Alst ausgesprochenen Beschuldigung zurück. Sie konnte nicht verfehlen, die Aufmerksamkeit des Ministeriums zu erregen, und so kam vom Minister eine Anfrage, was es mit der Sache auf sich habe. Direktor v. Kaven, an den sie gerichtet war, teilte sie mir mit und[185] ersuchte mich, sie zu beantworten. Wer war froher als ich. Jetzt, dachte ich, wo ich die Aufmerksamkeit des Ministeriums auf mich gezogen habe, wird man nicht umhin können, die Bedeutung meiner Bemühungen an maßgebender Stelle zu würdigen. Ich schrieb eine Rechtfertigung, welche Hand und Fuß hatte, vierzehn Seiten lang und legte ihr einen Artikel der Kölnischen Zeitung bei, in welchem ich ohne Nennung meines Namens unter dem Titel »Ultramontane Sünden« das Verfahren dieser Dunkelmänner beleuchtet hatte. – Wie groß war mein Erstaunen, als nach einiger Zeit aus dem Ministerium des Handels, unter dem wir standen, wahrscheinlich aber nach v. Kavens Vermutung verfaßt von einem Rat im Kultusministerium, etwa dem Herbartianer Wehrenpfennig, eine Antwort einlief, welche die Verleumdung als unbegründet anerkannte, zugleich aber eine Animosität gegen Schopenhauer und seine Lehre atmete, wie man sie an solcher zu objektiver Beurteilung berufenen Stelle wohl nicht erwartet hätte. Man sähe wohl ein, hieß es, und man habe es schon vorausgedacht, daß das Geschrei der Ultramontanen grundlos sei, aber es sei durchaus zu mißbilligen, daß an einer staatlichen Anstalt die Lehre Schopenhauers verbreitet werde, der Seite da und da sich über die Weiber soundso geäußert habe; wollte ich daher als Privatdozent weiterlehren, so müsse ich mich durchaus auf die Geschichte der Philosophie beschränken, und zwar nur von Platon bis Kant, mit Wegfall der indischen und der nachkantischen Philosophie, da diese beiden wieder Anlaß zu einer Glorifizierung Schopenhauers geben könnten. So das Ministerium. Ich erklärte mich bereit, die Geschichte der Philosophie wenn auch nicht von Platon anzufangen, welches unmöglich ist, so doch von Thales, und kündigte für den Februar 1879 eine Vorlesung über die vorsokratische Philosophie an. Natürlich wie immer gratis. Der Zulauf war nach dem Lärm, den die Sache gemacht hatte, ungeheuer. Über vierhundert drängten sich in dem Saale zusammen und mit Begeisterung und Freude trug ich die vorsokratische Philosophie vor.
Zu Anfang März beschloß ich meine Vorlesungen, und wenige Tage darauf traten Verhältnisse ein, welche mein Scheiden von Aachen veranlaßten.[186]
Durch die Vermittlung Kantschins erhielt ich einen Brief aus Paris vom Fürsten Zscherbatoff, mit der Anfrage, ob ich bereit sei, die Erziehung seiner drei ältesten Söhne Nikolaus, Sergé und Pawel im Alter von elf, neun und acht Jahren zu übernehmen. Sofort antwortete ich und erhielt darauf eine Einladung, nach Paris zu kommen, um mich der Familie vorzustellen, wo ich denn auch am 7. April 1879 am frühen Morgen eintraf. Im Laufe des Vormittags erschien ich in der Familie des Fürsten Zscherbatoff. Fürst und Fürstin mit sechs Kindern, dem Hausarzt, der Erzieherin Olga Alexandrowna, einem russischen Lehrer, zwei englischen Bonnen und anderm Drum-und-Dran bewohnten im Westen eine große Etage. Der Fürst hatte beschlossen, den nächsten Winter mit seiner Familie auf seinem Landgute zu Terny im Gouvernement Charkow zuzubringen, und da der russische Unterlehrer Iwan Wassiliewitsch nicht sonderlich genügte, so hatten alle diese Umstände im Hohen Rat, bestehend aus Fürst, Fürstin und Olga Alexandrowna, den Beschluß herbeigeführt, es mit mir zu versuchen. Ich wurde sehr freundlich, fast herzlich empfangen, frühstückte mit der Familie, ging mit den drei Knaben in Paris spazieren, stellte sie auch meinem Onkel Friedrich vor, und so gefielen wir einander und beschlossen, es mit uns zu versuchen. Der Fürst schlug vor, ich möge nur zuerst als Freund kommen und sehen, ob mir Rußland zusage. Ich entgegnete, daß ich um der Sache willen eine wertvolle Stellung als Privatdozent in Aachen aufgebe und schlug ein Engagement mit vierteljährlicher Kündigung vor. Auch darauf ging der Fürst bereitwillig ein, und als ich fragte, ob ihm die 6000 Franken jährlichen Gehaltes, die ich auf Rat des alten Kantschin gefordert hatte, recht seien, erwiderte er kurz: »Das ist durchaus, was Sie beanspruchen können.« Somit wurde das Engagement abgeschlossen, der Fürst händigte mir einen Tausendfrankschein ein und bemerkte, daß es genüge, wenn ich im Monat Mai in Terny eintreffe. Von der Umgebung des Fürsten interessierte mich am meisten die Erzieherin Olga Kroß oder wie üblich in Rußland mit Vornamen und dem Vornamen des Vaters Olga Alexandrowna genannt, eine anmutige schlanke Blondine, welche mir so gut gefiel, daß ich sie ohne weiteres in das Register meiner sogenannten Flammen aufnahm.[187] Ich sagte mir, daß der einzige Punkt, welcher einem längeren Aufenthalt in Rußland zur Ansammlung eines größeren Vermögens im Wege steht, das begründete Bedenken sei, daß es dann zu einer Heirat zu spät sein werde und ich auf die Belehrungen, welche das Leben in der Ehe gebe, ein für allemal verzichten müsse. Anders würde die Sache liegen, wenn es möglich sein sollte, Olga Alexandrowna zu heiraten und mit ihr zusammen die Stelle in der Familie zu behalten. Dazu ließ sich auch alles an. Olga zeigte sich sehr liebenswürdig, schenkte mir auf Bitten ihr Porträt und so ging ich, das Herz voll Zukunftshoffnungen, gegen Abend zum alten treuen Kantschin. Er war ganz allein und lud mich ein, mit ihm zu speisen. Mit Befriedigung vernahm er mein neues Engagement, lehnte mein Anerbieten, auf die 200 Mark Monatsgehalt, die mir, da wir monatliche Kündigung hatten, noch zukamen, zu verzichten, mit Entschiedenheit ab und übergab mir ebenfalls ein Billett von 1000 Franken, um definitiv unsere Rechnungen und die Aachener Verbindlichkeiten damit zu regeln. Ich zeigte ihm Olgas Porträt und fragte ihn, ob er es für möglich halte, als Erzieher mit ihr als Erzieherin verheiratet zu sein. »Das ist gar nicht unmöglich,« versetzte er, »Sie müssen nur suchen, sich der Familie unentbehrlich zu machen. Dann können Sie alles fordern, und es wird keine Schwierigkeiten machen, in Ihrem Schlafzimmer noch ein zweites Bett aufzustellen.« Dies leuchtete mir ein; ich nahm mir fest vor, mich in Rußland in jeder Weise unentbehrlich zu machen, wir werden sehen, inwieweit mir dies gelungen ist. Am Karfreitagmorgen, dem 11. April, reiste ich von Paris ab und kehrte nach Aachen zurück und beschäftigte mich in dem noch übrigen Monat mit meiner Ausrüstung für Rußland und mit dem Studium des Russischen. Zuerst war mir die Grammatik nach Almdorfs Methode in die Hände gefallen. Sie ist so unmethodisch angelegt und die Beispiele sind so dumm, daß sie vom Studium abschreckt und verdiente, polizeilich verboten zu werden. Besser gefiel mir schon die Grammatik von Bolz, der eine reizende Erzählung von Puschkin zugrunde legt, in jeder Lektion einige Zeilen derselben analysiert und so Deklination, Konjugation und Wortschatz spielend beibringt, auch zahlreiche interessante Parallelen aus dem Sanskrit[188] und den andern verwandten Sprachen anführt. Leider ist sie aber nicht sehr korrekt, und so verfiel ich endlich auf das richtige, indem ich die in jeder Hinsicht vortreffliche Grammatik von Alexejew entdeckte und an ihrer Hand im Laufe des Jahres 1879 mein Russisch gelernt habe. De 11. Mai kam heran und mit ihm mein Abschied von Aachen. Am Bahnhof war Herr Zeidler mit Georges. Meinen Zögling sollte ich nie wiedersehen. Ich ging mit ihm auf dem Perron auf und ab, sprach in herzlichen Ermahnungen auf ihn ein und schenkte ihm einen Rubel, damit er doch etwas Geld habe, welches er nicht sogleich ausgeben könne. Diesen Rubel hat Herr Zeidler, als Georges ihn umsetzen wollte, von ihm eingelöst und nach seinem Tode dem Vater gesandt, der ihn mir zum Andenken schenkte. Ich besitze ihn noch. Der Zug setzte sich in Bewegung und ich las in Herrn Zeidlers Mienen deutlich die Worte: »Wir sind froh, daß wir dich Quälgeist endlich los sind.« Von nun an brauchten sie nicht mehr zu fürchten, ihre Arbeit von mir wie bisher kontrolliert zu sehen. So schloß meine Aachener Zeit, nachdem sie von Oktober 1874 bis Mai 1879 viereinhalb Jahr gedauert und mir viele Not, viel Geld, viele reiche Lebenserfahrungen und viele Freude durch meine Vorlesungen und meine Elemente eingetragen hatte. Um mir eine mögliche Rückkehr an das Polytechnikum offenzuhalten, ersuchte ich durch Direktor v. Kaven um Urlaub auf unbestimmte Zeit. Die Antwort aus dem Ministerium, die mir nach Rußland nachgeschickt wurde, lautete etwa wie folgt:
Nachdem der Dr. Deussen in den Dienst eines ausländischen Fürsten getreten ist, so ist nach Paragraph soundso seine Privatdozentenschaft als erledigt anzusehen und er aus dem Album der Hochschule zu löschen. – Auch hier war man froh, den Quälgeist loszuwerden.
Da Fürst Zscherbatoff bei meinem Besuch in Paris erklärt hatte, daß man mich erst Ende Mai in Rußland erwartete, so nahm ich mir für meine Reise Zeit, fuhr zunächst nach Heinsberg, um, wie ich scherzend sagte, Rußland schon ein Stück näherzukommen, dann zu Onkel Wilm Heinrich nach Jüchen und weiter nach Oberdreis. Auch Tübingen berührte ich, wo Marie, die dort mit dem von mir sehr verehrten früheren Hauslehrer meiner[189] jüngeren Brüder, Braitmaier, verheiratet war, mir mit ihrem Erstgeborenen Siegfried entgegenkam und das Knäblein ohne Umstände auf das Bett warf, unbekümmert um sein Schreien, um sich mir zu widmen. Braitmaier holte aus dem Keller einen Krug Wein; alles war damals noch in bester Harmonie. Von Tübingen gelangte ich über Ulm zum erstenmal in meinem Leben nach München, wo ich einen Vormittag lang Aufenthalt hatte. Ich hatte die Wahl, entweder die Glyptothek und Pinakothek oder das Hofbräuhaus zu sehen, entschied mich für das letztere und wurde dafür dadurch bestraft, daß ich im Hofbräuhaus nichts als leere Tische und Bänke sah, denn es war gerade Putztag. Weiter ging die Fahrt über Linz nach Wien und sogleich auf der Südbahn hinauf zu Bruder Werner, der dort als Ingenieur in einem Eisenwerk arbeitete und sich eben mit dem Gedanken trug, seine Kinderchen Nenna und Willy aus der Heimat herüberbringen zu lassen. Da ich nach Rußland mit dem Gefühle ging wie ein Mönch, der ins Kloster geht, so suchte ich mich in der Geschwindigkeit noch dadurch schadlos zu halten, daß ich jedem hübschen Mädchen stark die Kur machte und von Bruder Werner wiederholt deswegen getadelt wurde. In den nächsten Tagen fuhren wir nach Gloggnitz und wanderten von dort den Semmering hinauf, wobei wir die kolossalen Windungen bewundern konnten, welche die Bahn macht, um die Paßhöhe zu ersteigen. Weiter begleitete Werner mich noch nach Wien, wo ich große Umstände hatte wegen hundert Zigarren, die in meinem Koffer sich befanden, bis ich es endlich erreichte, sie als Transitgut nach Volociska, der ersten russischen Station, gehen zu lassen. Da ich auf Kosten des Fürsten reiste und manche unnötige Umwege gemacht hatte, so beschloß ich, den weiteren Weg in der dritten Klasse zurückzulegen, und fuhr nach Abschied von Werner die Nacht durch von Wien nach Krakau. Selten habe ich eine schlechtere Nacht verbracht; der Wagen war ganz gefüllt, die Leute in Essen und Kleidung sehr unappetitlich, die einzige anziehende Erscheinung war eine hübsche Jüdin namens Jetty Hirsch. Den ganzen folgenden Tag fuhr ich durch Galizien, sah im Süden die schneebedeckten Karpathen und war betroffen über den Gegensatz der reichen blühenden Landschaft und der armseligen Bewohner und ihrer Hütten. Spät[190] abends war ich in Lemberg (Lwow) und am Morgen früh an der russischen Grenze, da, wo das österreichische Podwolociska und das russische Wolociska einander gegenüberliegen. Man hatte mir viel erzählt von der Bestechlichkeit der russischen Zollbeamten und empfohlen, einen Rubel obenauf in den Koffer zu legen. Zum Glück habe ich es nicht getan, denn dem würdigen Offizier, der mein Gepäck revidierte, hätte ich unmöglich etwas anbieten können. Ich erklärte, daß ich im Koffer 100 Zigarren, einen silbernen Becher und viele neue Kleider hätte und empfing die ruhige Antwort: »Das können Sie alles haben, ohne einen Zoll zu zahlen.« Weiter ging es auf eingeleisiger Bahn immer tiefer hinein in das heilige Rußland, und hier waren die Verhältnisse auch in der dritten Klasse durchaus erträglich, in auffallendem Gegensatz zu der Fahrt durch das polnische Galizien. Spät am Abend stieg ich in Voroschba aus, und der erste Eindruck war, daß sich zwei Kerle darum prügelten, wer mein Gepäck zu dem Wagen des Fürsten Zscherbatoff tragen sollte, der telegraphisch bestellt war und vor der Station mich erwartete. Ich stieg ein und nun ging es vier Stunden lang durch eine laue Frühlingsnacht, bis ich endlich um 4 Uhr morgens das Schloß des Fürsten erreichte und leise in das für mich bestimmte Zimmer schlich, um zunächst einmal auszuschlafen. Am andern Morgen wurde ich von Fürst und Fürstin, der Erzieherin Olga Alexandrowna, dem russischen Hilfslehrer, dem Hausarzt und den Kindern, welche ich alle schon in Paris kennengelernt hatte, in der liebenswürdigsten Weise begrüßt. Gleich am Nachmittag wurde mit Fürst und Kindern ein längerer Spazierritt unternommen. Jedes der Kinder hatte einen seiner Größe entsprechenden Pony, während ich bei meiner bis dahin geringen Übung im Reiten wohl eine schlechte Figur machte, so daß der Fürst bestimmte, daß ich zunächst bei seinem ungarischen Stallmeister Reitstunde erhielt. Von da an wurde täglich nachmittags nach dem Diner ausgeritten, und ich brachte es in kurzer Zeit so weit, daß der Fürst erklärte, ich müsse jetzt ein besseres Pferd haben; ein junges, munteres Tier wurde mir zugewiesen, welches für mich allein bestimmt war, und mich so gut kannte, daß es auf mich zukam, sobald es mich sah. Auf diesem konnte ich mich bald in jeder Gangart, Trab wie Galopp, vor allen,[191] namentlich auch vor Olga Alexandrowna mit Ehre zeigen. Ein feierlicher Tag war es, an welchem mein Pferdchen die ersten Hufeisen erhielt, und ich dichtete eine Ode in alzäischem Versmaß und in russischer Sprache auf meine Mascha (Mariechen), wie ich, nicht ohne einigen Anstoß bei der frommen Familie zu erregen, mein Tier getauft hatte. In Erinnerung sind mir noch die Zeilen, wo es hieß: Gdje mayei Maschi oni podkovali neschnija noschki, Heute ist der Tag, wo sie behuften meiner zarten Mascha zierliche Füßchen.
Am zweiten Pfingsttage 1879, kurze Zeit nach meiner Ankunft, hatte ich das Schauspiel des größten Gewitters, welches ich je erlebte. Am Nachmittag umzogen schwarze Wolken den Himmel, unaufhörlich blitzte und donnerte es von allen Seiten, und von der Höhe, auf welcher das Schloß des Fürsten lag, konnte man nicht weniger als sieben Feuerbrände in den verschiedenen Richtungen beobachten. Auch in einen der Pferdeställe des Fürsten war der Blitz eingeschlagen, und da am Pfingstnachmittag niemand zur Hand war, um die Tiere herauszulassen, so sind alle vierzehn Pferde, die im Stalle eingeschlossen waren, in dem Stalle erstickt. Auch ich war mit den Kindern hingeeilt und hatte so zum ersten Male Gelegenheit, bei den Rettungsversuchen die Bevölkerung, in deren Mitte ich lebte, näher zu beobachten.
Kleinrußland, Malorossia, in welchem unser Terny lag, ist ein ganz eigenes Land. Wir haben auch Berge, sagte man mir, aber sie liegen nach unten. In der Tat war das Terrain ein Hochland, mit tief eingeschnittenen Flußtälern, teils herrliche Waldungen enthaltend, teils Felder von größter Fruchtbarkeit. Alles was Wald hieß, jeder Stock von Holz war Eigentum des Fürsten, ebenso bei weitem das meiste Feld, nur daß man den Bauern nach Aufhebung der Leibeigenschaft kleine Stücke Land zugeteilt hatte, welche hinreichten, die Bevölkerung zu ernähren, da der Boden von höchster Fruchtbarkeit war. Wenn ich gelegentlich mit den Kindern Erdarbeiten machte, so konnte ich mich überzeugen, daß überall einen Meter tief alles schwarzer Humusboden war. Steine gab es überhaupt nicht, und hätte man nicht einige Steine hier und da von auswärts herbeigebracht, man hätte den Kindern in der Schule keinen Begriff davon geben können, was ein Stein ist.[192]
Unser Schloß mit dreizehn Fenstern Front stand auf einer Anhöhe, von welcher man über den Park weg zwischen den bewaldeten Teilen hindurch Fernblicke nach den verschiedenen Seiten genoß. Unten im Tale zog sich im Halbkreise über eine Stunde lang ein großes Dorf hin, welches, wie man mir sagte, 10000 Einwohner ohne Weiber und Kinder zählte. Zwei Kirchen, eine halbe Stunde voneinander entfernt, ragten aus dem Meere von kleinen Häusern und Hütten hervor, eine dritte Kirche stand auf unserer Anhöhe in nächster Nähe des Schlosses. Hier war, kurz nach meiner Ankunft, ein Tapezierer mit Ausbesserungen beschäftigt. Ich beauftragte ihn, einen größeren Globus, der den Kindern gehörte und auf der Reise in zwei Stücke gebrochen war, wieder zusammenzuflicken. Er führte diese Arbeit ganz geschickt aus, ich war aber nicht wenig erschrocken, als er für diese Leistung 25 Rubel, etwa 50 Mark, forderte, weit mehr als der Globus neu gekostet hatte. In meiner Verlegenheit wandte ich mich an den Fürsten, und dieser zeigte mir, wie man solche Leute zu behandeln habe. Er ließ den Mann kommen, welcher schon aus der Ferne mit tiefen Verbeugungen herankam und sofort noch ungefragt seine Forderung auf 20 Rubel herabstimmte. Aber der Fürst, ohne ein Wort zu verlieren, zog seine Brieftasche hervor, gab dem Manne einen jener blauen Scheine von 5 Rubeln an Wert und befahl ihm, sich zu trollen. Er entfernte sich dankend unter abermaligen tiefen Verbeugungen.
Ein interessanter Tag gewährte mir einen Einblick in das Leben der Bauern. Eine Bäuerin, die früher auf dem Schlosse gedient hatte und jetzt im Dorfe verheiratet war, feierte Kindtaufe. Hierzu wurde am Tag nach dem eigentlichen Feste die ganze fürstliche Familie eingeladen. Fürst und Fürstin lehnten dankend ab, erlaubten aber den drei ältesten Kindern, geleitet von mir und der Erzieherin Olga Alexandrowna, hinzugehen. Wir betraten das kleine Haus, aus Flechtwerk mit Lehm getüncht, bestehend aus einem Vorraume, in welchem einige Weiber auf der Erde um eine Bowle herumhockten, und einem einzigen großen Zimmer, von dem ein Viertel von dem mächtigen Ofen aus Lehm nach Art unserer Backöfen eingenommen wurde. Auf diesem und einer daranschließenden hölzernen Pritsche pflegte die[193] Familie zu schlafen. Auf dieser Holzpritsche lag auch in Decken gehüllt die Wöchnerin mit ihrem Baby. Betten kennen die Bauern dort nicht, sie verschmähen diesen Luxus, auch wo ihre Mittel ihn erlauben würden. Rings um das Zimmer an der Wand entlang lief eine hölzerne Bank in dem ohne Diesen aus festgestampfter Erde bestehenden Fußboden befestigt. An einer Seite war ein Tisch auf vier in den Boden eingerammten Pfählen. Im Gegensatze zu dieser primitiven Einrichtung war der Tisch auf das reichste bedeckt mit allerlei Braten, Kuchen und weinartigem Getränke. Da es Hochsommer war, der dort zuweilen sehr heiß ist, bedurfte es keiner Heizung. In Winter, wo alles mit Schnee bedeckt ist und 10 Grad Kälte die Regel sind, wird, in Ermangelung von Holz und Kohlen der große Ofen, von außen mit Stroh geheizt. Dann kniet, wie ich es oft beobachten konnte, jemand vor dem Ofen und schiebt eine Garbe nach der andern hinein. Eine ungeheure Glut entsteht, und sobald die letzten Flammen verflammt sind, wird der Ofen mit zwei Deckeln verschlossen, worauf er dann zwei Tage lang die Hitze hält und den Raum ausreichend erwärmt, zumal die Wände dicht und die Fenster nur ganz klein sind. Im Winter trägt alles lange Stulpenstiefel, darüber bis zum Knie reichende Röcke, auch die Weiber, welche in dieser Vermummung von den Männern kaum zu unterscheiden sind. Im Sommer gehen die Weiblein durchweg barfuß, die Beine bis zum Knie nackend, was ihnen ein anmutiges Aussehen und einen sehr graziösen Gang gibt.
In dem großen Dorfe, welches sich um den Schloßberg in weitem Halbkreise herumzog, gab es auch eine Anzahl besserer Familien von kleinen Gutsbesitzern, welche unter sich zusammenhingen und auch zum Schloß einige Beziehungen unterhielten. Wiederholt waren wir, d.h. ich und der russische Unterlehrer Wasili Iwanowitsch, bei ihnen eingeladen und revanchierten uns, indem wir ihnen in einem geräumigen Saal des Dorfes ein Tanzfest gaben. Wasili Iwanowitsch war der Arrangeur, da er sich auf dergleichen sehr gut verstand. Unter den Geladenen befand sich ein anmutiges Mädchen namens Tatiana Nikolajewna, und als eine Tour an der Reihe war, wo ein Herr mit verbundenen Augen in der Mitte steht, von den Damen im Kranz[194] umgeben wird, dann auf eine zugeht, ihren Namen zu raten sucht und mit ihr tanzt, da fragte ich Wasili Iwanowitsch, ob er es einrichten könne, daß ich Tatiana zu greifen bekäme. Er sagte es zu, und als ich weiter fragte, ob ich es auch wagen dürfe, die Dame zu küssen, erklärte der Filou dieses für einen glücklichen und unter den obwaltenden Verhältnissen wohl ausführbaren Gedanken. Die Reihe kam an mich, mit verbundenen Augen stand ich im Kreise, auf ein gegebenes Zeichen ging ich auf eine Dame zu, faßte sie, und ehe sie sich dessen versah, drückte ich auf ihre zarten Lippen einen Kuß. Nun riß ich die Binde von den Augen, sah aber statt Tatiana, welche beschämt entflohen war, nur einen leeren Raum vor mir. An dem Eindruck, den die Sache auf die Anwesenden machte, konnte ich wohl bemerken, daß ich auch für russische Verhältnisse etwas zu weit gegangen war, aber Wasili Iwanowitsch wußte sogleich die Stimmung wieder herzustellen, indem der Taugenichts den Anwesenden kurzweg erklärte, daß dieses so der Brauch in Deutschland sei.
Auch mit den Popen des Dorfes unterhielten wir einige Beziehungen und kamen gelegentlich in ihre Häuser. Die Ausstattung derselben und der Bildungsgrad ihrer Bewohner entsprach weniger dem der deutschen Pastorsfamilien, als vielmehr dem unserer Elementarlehrer auf den Dörfern.
Im ganzen kamen wir nur selten in das Dorf. Einmal ging ich mit den Kindern hinunter, um den Jahrmarkt zu sehen. Hier bemerkte ich, wie zwischen den Buden und der sie umdrängenden Bevölkerung eine Reihe von Menschen sich angefaßt hielten, der Folgende immer am Gewand des Vorhergehenden, und so wie eine Schlange sich durchwanden, der vorderste mit hochgehobenen Händen und alle eine klägliche Litanei anstimmend. Verwundert fragte ich nach dem Sinn dieses Aufzuges und wurde bedeutet, daß es die Blinden des Ortes seien, welche in dieser Weise den Jahrmarkt bettelnd durchzogen. Sofort fiel mir die Stelle aus der Kathakauphanischad ein, welche die Menschen mit Blinden vergleicht, die von einem Blinden geleitet werden, sowie das Wort Jesu von den blinden Blindenleitern, und ich möchte annehmen, daß beides auf einem ähnlichen Brauche in Indien und Palästina beruht, wie ich ihn auf jenem Jahrmarkte[195] in Terny und sonst niemals wieder zu beobachten Gelegenheit hatte. Nachdem ich mit den Kindern das Treiben des Jahrmarktes genugsam genossen hatte, kehrte ich, um ihnen einige Ruhe zu gönnen, in ein Wirtshaus ein und bestellte ein Glas Tee. Da ich auf meine Frage, wieviel zu bezahlen sei, nur eine undeutliche Antwort erhielt und nicht noch einmal fragen mochte, gab ich einen grünen Dreirubelschein hin und war erstaunt, aus dem zurückgegebenen Gelde zu ersehen, daß das Glas Tee mit Zucker und Zitrone nur 3 Kopeken (= 6 Pf.) kostete. Auch sonst war alles auf dem Lande in Rußland sehr billig, indem man, wie ich hörte, für eine Kopeke zwei Eier kaufen konnte usw.
Interessanter und jedenfalls wichtiger für mich war das Leben auf dem Schlosse und dessen Bewohner.
Der Fürst Zscherbatoff, ein durchaus edler Charakter, aber geistig etwas beschränkt, hatte zur Seite eine kluge und welterfahrene Gemahlin, welche in ihrer Weise den Gatten zu lenken wußte. Dies trat so wenig hervor, daß ich mich lange Zeit täuschte und glaubte, daß der Fürst, weil er die Gelder auszahlte, auch der herrschende Teil sei. Er hatte ein gewisses faible für junge anmutige Weiber, wie die Erzieherin der Kinder Olga Alexandrowna und noch mehr für deren besuchsweise längere Zeit auf dem Schlosse weilende Schwester Alexandra Alexandrowna, welche keine andern Vorzüge hatte als ein angenehmes Äußere und ein allzu häufiges Lachen, welches den Fürsten zu faszinieren schien. Mit Hilfe dieser Weiblein wußte die Fürstin ihren Gatten ganz nach ihrem Willen zu lenken.
Von den sechs, später sieben Kindern hatte ich nur die drei ältesten unter mir. Sie sollten weder Latein noch Griechisch lernen, so daß ich nur dem ältesten einige Stunden im Deutschen gab, im übrigen aber mich darauf beschränkte, das Ganze zu dirigieren. Ich schlief mit den drei Knaben in einem Zimmer, ging mit ihnen jeden Morgen baden in einem 20 Minuten entfernten Teich, frühstückte mit ihnen und überwachte die von Olga Alexandrowna und dem russischen Unterlehrer gegebenen Stunden. Um 1 Uhr folgte ein opulentes Frühstück, von 2 bis 4 waren Stunden, von 4 bis 5 turnte ich mit den Knaben an den nach meiner Angabe verfertigten Geräten, dann folgte das Diner und nach[196] demselben eine Promenade zu Pferd. So verging der Sommer in einer von Morgen bis Abend anhaltenden und nicht unangenehmen Tätigkeit; was mir an Zeit noch übrigblieb, verwendete ich auf das Russische, in welchem ich bald reißende Fortschritte machte. Mein Plan, mich unentbehrlich zu machen, schien zu gelingen; man lobte mein Turnen, bei dem die Gäste des Hauses meist zugegen waren, lobte mein Russisch und spendete mir in jeder Hinsicht reiche Anerkennung. Im Herbste kam die Großmutter der Fürstin an, um den Winter über zu bleiben. Sie nahm bald im Hause die herrschende Stellung ein. Infolge meines Heiratsprojektes war eine zarte Neigung zu Olga in mir aufgekeimt und steigerte sich bald zu einer mühsam verheimlichten Liebe; sie lieb, wie ich an Blicken und Worten merken konnte, nicht unerwidert, ohne daß es unter den obwaltenden Verhältnissen zu einer Aussprache gekommen wäre oder auch nur hätte kommen können.
Im Oktober setzte der Winter ein. Die Erde bedeckte sich mit einer immer höher werdenden Schneehülle, welche, einen Meter hoch, nur da eine Bewegung im Freien gestattete, wo eine Schlittenbahn sich gebildet hatte. Jetzt wurde der Kreis unseres Daseins bedeutend verengt. Das Reiten, Baden und Turnen im Freien hörte auf. Nur Zimmergymnastik mit Hanteln wurde täglich betrieben. Unser beständiger Zuschauer war ein kleiner Papagei, welcher die Bewegungen nachmachte und sich dermaßen in mich verliebte, daß er schon frühmorgens vor dem Schlafzimmer darauf wartete, daß der Diener die Tür öffnete, und dann saß er den ganzen Tag auf meiner Schulter. Zwei Unterhaltungen anspruchslosester Art füllten die langen Winterabende aus, das Lottospiel, bei dem man einige Rubel gewinnen oder verlieren konnte, und das Tanzen, welches mit großem Ernst betrieben wurde. Ein Ball, zu dem die Gutsherren der Nachbarschaft erschienen, wurde im Schlosse gegeben und bildete schon wochenlang vorher fast das einzige Tagesgespräch. Im Tanzen war ich nur mäßig geübt, und die Großmutter schleuderte mir das harte Wort entgegen: »Vous n'avez pas de grâce«, welches mich verdroß und nicht unerwidert blieb. So verlor ich teilweise ihre mir anfänglich in reichem Maße zugewendete Gunst,[197] während sich der russische Unterlehrer, so wenig er auch als Charakter bedeutete, als trefflicher Tänzer und maître de plaisir den Damen empfahl und in jedem Sinne einzuschmeicheln wußte. Die Situation fing an, für mich unbehaglich zu werden. Olga, so nett sie äußerlich war, ließ doch immer deutlicher einen Mangel an innerem Gehalt erkennen; dies kühlte mich ab und meine veränderte Stimmung blieb wohl von der andern Seite nicht unbemerkt. Auch bei der Fürstin stieß ich an, sie liebte nur allzusehr ein Gespräch über religiöse Fragen, und ich war nur allzu bereit, darauf einzugehen. Dann mochte es geschehen, daß sie erregt aufsprang und das Gespräch mit den Worten abbrach: »Mit einem Worte, ich bin eine Christin und Sie sind ein Buddhist.« So zog sich eine Wolke über mir zusammen. Dazu kam, daß unter dem Einfluß der Großmutter der Plan heranreifte, die Kinder einem Kadettenhaus zu übergeben, so daß ich fürchten mußte, daß sie mir entzogen würden, gerade dann, wenn ich ihnen durch meine wissenschaftliche Bildung von Nutzen hätte werden können. Alles dies zusammen mochte wohl im andern Lager den Wunsch zeitigen, mich auf gute Art loszuwerden. Der Fürst war zu Anfang des Jahres 1880 schwer erkrankt, und kaum war er genesen und zum erstenmal wieder abends im Salon erschienen, als sich die folgende Szene abspielte, bei der er offenbar von den Weiberchen seiner Umgebung wie an unsichtbaren Fäden gelenkt wurde. Es war das Fest der Wasserweihe am 7. bis 9. Januar. Ein großes Kreuz aus Eis wurde aus dem Teiche ausgesägt und aufgestellt. Die Kinder wünschten es zu sehen, aber der Schlittenweg zum Teich war 40 Minuten lang, und hätte ich ihn, wie auf dem Hinwege, so auch zurück wieder eingeschlagen, so würde ich die Kinder länger als die dem Spaziergang bestimmte Stunde im Freien bei 10 Grad Kälte aufgehalten haben. Um dies zu vermeiden, beschloß ich, vom Teich nach dem Schloß auf dem Fußweg zurückzukehren, auf welchem der Schnee nicht so sehr wie auf dem Fahrwege niedergetreten war, so daß die Kinder vielleicht einen Zentimeter tief im Schnee gingen. Als am Abend die Familie im Salon versammelt war und der Fürst zum ersten Male wieder unter uns erschien, entbot er mich in sein Privatkabinett. »Sie sind«, sagte er zu mir, »mit den Kindern heute durch den Schnee[198] gegangen, und Sie wissen doch, wie sehr Serioschas Gesundheit in acht genommen werden muß.« Ich wollte mich rechtfertigen, aber der Fürst ging gar nicht darauf ein, sondern erklärte mir, daß wir uns trennen müßten. Er ließ denn auch sogleich den nichtigen Vorwand fallen und sagte: »Wir lieben Sie alle sehr und haben eine schöne Zeit mit Ihnen verlebt, aber wir haben eingesehen, daß es ein Fehler war, einen Gelehrten, wie Sie, zu engagieren, dessen Vorzüge bei unsern Kindern gar nicht zur Geltung kommen. Wir bedürfen für unsere Kinder neben der Erzieherin und dem russischen Lehrer nicht noch einen erstklassigen Erzieher, sondern nur jemanden, der mit ihnen reitet, turnt und spazieren geht, was auch der Gärtner leisten kann.«
Bei diesen Worten fiel ich aus den Wolken. Also das hatte ich mit meiner Absicht, mich unentbehrlich zu machen, erreicht, daß man mir jetzt in sanfter Art den Stuhl vor die Tür setzte.
Ich war klug genug, auf die Eröffnung des Fürsten nur zu erwidern:
»Sie haben sich mir gegenüber ausgesprochen, erlauben Sie, daß ich Ihnen morgen abend die Antwort darauf gebe.«
In einer fast schlaflosen Nacht überlegte ich, was zu tun sei. Dem Entschluß der Familie gegenüber fühlte ich mich machtlos, und das einzige, was mir übrigblieb, war, aus der gegenwärtigen Situation möglichst ohne Schaden hervorzugehen. Am folgenden Abend war ich es, der den Fürsten in sein Kabinett bat. »So sehr ich auch bedaure, aus Ihrem vortrefflichen Hause zu scheiden« – hub ich an. Er unterbrach mich, weil er fürchtete, ich wolle einlenken, aber ich ließ ihn nicht zu Wort kommen und wiederholte: »So sehr ich auch bedaure, aus Ihrem trefflichen Haus zu scheiden, so muß ich doch annehmen, daß Sie für Ihren Entschluß triftige Gründe haben, und nehme somit Ihre Kündigung an.« Hier fiel ihm offenbar ein Stein vom Herzen und er war durchaus geneigt, auf alles, was ich billigerweise fordern konnte, einzugehen. Ich fuhr fort: »Ihre Kündigung nehme ich an, aber einer Schuld bin ich mir nicht bewußt, und da wir drei Monate Kündigungsfrist haben, so sehe ich keinen Grund, Sie vorher zu verlassen; wir haben heute den 7. Januar, meine Stelle geht also mit dem 7. April zu Ende.« Nach diesen Worten[199] fürchtete er sichtlich, ich wolle noch drei Monate bleiben, was durchaus gegen meine Wünsche war. Ich fuhr fort: »Wenn Sie Gründe haben, mich früher gehen zu lassen, so füge ich mich dem, muß aber für diese drei Monate, die ich nötig habe, um mir eine neue Stelle zu suchen, mein Gehalt sowie eine Entschädigung für Kost und Logis beanspruchen. Letztere mag 75 Rubel monatlich betragen.« – »Sagen wir lieber 100 Rubel«, versetzte er entgegenkommend. Ebenso wurde eine Summe für Rücksendung meiner Bibliothek festgesetzt, das Papier hervorgeholt, auf dem der Fürst meine monatlichen Einnahmen, die ich zu acht Prozent Zinsen bei ihm stehen ließ, zu notieren pflegte. Bereitwillig wurden alle meine Forderungen bewilligt und gebucht, und es kam eine so stattliche Summe heraus, daß ich nach achtmonatlichem Aufenthalte vierzehn Tage später das Haus mit einem Wechsel auf Berlin von 4000 Mark und 312 Rubel in barem Gelde verlassen konnte. Die letzten Wochen im Haus Zscherbatoff, wo ich alles so genau kannte und ich mich als abgesägten Ast fühlte, mußten ertragen werden. Wie die andern machte auch ich mir die nötige Körperbewegung, indem ich im Garten eine großen von Tag zu Tag anwachsenden Schneekegel aufschaufelte, welcher mein Andenken, bis er geschmolzen war, noch monatelang perpetuierte. Im übrigen machte ich Reisepläne. Zeit war da und das nötige Geld gleichfalls. Ich dachte an Ägypten, Palästina, Griechenland, aber stärker als alle diese Lockungen war das Verlangen, einmal ordentlich Sanskrit zu arbeiten, und so beschloß ich, alle diese Pläne zurückzustellen und direkt vier Nächte und drei Tage durch nach Berlin zu fahren. Am 13. Februar teilte mir der Fürst mit, daß der Wechsel und das Geld angekommen seien, und so stand meiner Abreise am 14. Februar nachmittags nichts entgegen. Ich nahm von allen Abschied, auch von Olga, welche krank oben in ihrem Zimmer lag, dankte herzlich für alles erwiesene Gute, schied mit Umarmung und Kuß von dem Fürsten und Kindern und bestieg den bereitstehenden Schlitten. Noch einmal blickte ich abfahrend auf das Haus und seine mir nachsehenden Bewohner zurück, sagte mir, daß ich diese Orte, diese Personen, mit denen ich so vertraut war, noch ein letztes Mal und nie wieder sehen sollte; dann machte der Schlitten[200] eine Wendung, und verschwunden war ein Stück meines Lebens, um nur noch in der Erinnerung fortzudauern.
Im Terny war ich von einem Kreise wenig bedeutender, aber edler und liebevoller Elemente umgeben gewesen und eigentlich tat es mir leid, von dort zu scheiden. Indessen war es auch für mich so das beste. Ich war fünfunddreißig Jahre alt, und es war höchste Zeit, wissenschaftliche Arbeiten in größerem Umfange zu unternehmen. Mit Befriedigung blickte ich während der vierstündigen Fahrt durch endlose Schneefelder auf mein Gepäck, einen Koffer mit den nötigen Kleidern und zwei Kisten, deren eine vedische Sanskrittexte, deren andere das Petersburger Sanskritwörterbuch enthielt. Mit der Dämmerung war endlich Woroschbar, unsere Bahnstation, erreicht, und mit Entzücken sah ich nach achtmonatlicher Trennung zum erstenmal wieder Eisenbahn und Lokomotive und bestieg den Zug, der mich nach dem Westen bringen sollte. Am andern Morgen langte ich wohlbehalten in Kiew an. Unser Zug hatte den Anschluß versäumt, ich mußte bis zum Abend warten, aber das war mir gar nicht leid. Ich sah die Stadt, ließ mich im Schlitten überall herumfahren und freute mich der wiedergewonnenen Freiheit. Die nächste Nacht brachte mich von Kiew nach Kassiatin, dem Knotenpunkt für Odessa, Wien und Berlin. Und nun ging es durch unendliche Schneefelder von Kassiatin den ganzen Tag vorwärts bis nach Brest-Litowsk. Auf den russischen Bahnen fährt es sich sehr angenehm. Die Wagen sind breiter als die unsern, haben Doppelfenster und gute Heizvorrichtungen, und auf größeren Stationen findet man eine ganze Batterie von Teegläsern, deren Inhalt dem deutschen Biere weit vorzuziehen ist. Die dritte Naht war weniger erquicklich, denn es ging von Brest-Litowsk nach Polen hinein und auf Warschau zu. Das Kupee war ziemlich besetzt und die Reinlichkeit läßt in Polen zu wünschen übrig. Am Morgen sah ich vor mir den mächtigen Weichselstrom und gegenüber Warschau; es erinnerte mich lebhaft an den Blick, den man von Deutz aus über den Rhein auf Köln genießt. Ich übergab mein Gepäck einem Dienstmann und wanderte im Pelz über die Weichselbrücke und in Warschau umher, dessen Mittelpunkt der Saxonski Sad, der sächsische Garten, bildet; auch dieser war wie alles andere noch[201] mit Schnee bedeckt. Um 2 Uhr war ich am Berliner Bahnhof und nahm mein Billett nach Berlin. Unaufhaltsam raste der Zug nach Westen, passierte die Grenzstation Alexandrowo und war gegen Abend auf deutschem Boden in Thorn, wo nun alles wieder heimatlich mich anmutete. Deutsches Geld, deutsches Bier und das übliche Schnitzel mit Bratkartoffeln. Nochmals fauste der Zug die Nacht durch auf Berlin zu. Wenn ich aus dem Halbschlaf erwachend durch das Fenster blickte, sah ich im hellen Mondschein weit ausgedehnt felsige Flächen und Seen. Um 6 Uhr früh wurden die Wagentüren aufgerissen; wir waren in Berlin. Hatte ich schon in Kiew die größte Lust zu bleiben, mich häuslich einzurichten und ruhig zu arbeiten, so war dies alles doch in Berlin leichter zu haben. Hier, sagte ich mir, im Weichbilde dieser Stadt hoffe ich das Wesen zu finden, welches als Gattin an meiner Seite durchs Leben wandeln wird; aber ich sollte noch sechs Jahre auf sie warten, sechs einsame Jahre, denn nirgendwo kann man einsamer leben, als in einer Stadt von mehreren Millionen.
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