I. Absicht dieser Einleitung in die Geisteswissenschaften

[3] Seit Bacons berühmtem Werke sind Schriften, welche Grundlage und Methode der Naturwissenschaften erörtern und so in das Studium derselben einführen, insbesondere von Naturforschern verfaßt worden, die bekannteste unter ihnen die von Sir John Herschel. Es erschien als ein Bedürfnis, denen, welche sich mit der Geschichte, der Politik, Jurisprudenz oder politischen Ökonomie, der Theologie, Literatur oder Kunst beschäftigen, einen ähnlichen Dienst zu leisten. Von den praktischen Bedürfnissen der Gesellschaft, von dem Zweck einer Berufsbildung aus, welche der Gesellschaft ihre leitenden Organe mit den für ihre Aufgabe notwendigen Kenntnissen ausrüstet, pflegen diejenigen, welche sich den bezeichneten Wissenschaften widmen, an sie heranzutreten. Doch wird diese Berufsbildung nur in dem Verhältnis den einzelnen zu hervorragenderen Leistungen befähigen, als sie das Maß einer technischen Abrichtung überschreitet. Die Gesellschaft ist einem großen Maschinenbetrieb vergleichbar, welcher durch die Dienste unzähliger Personen in Gang erhalten wird: der mit der isolierten Technik seines Einzelberufs innerhalb ihrer Ausgerüstete ist, wie vortrefflich er auch diese Technik inne habe, in der Lage eines Arbeiters, der ein Leben hindurch an einem einzelnen Punkte dieses Betriebs beschäftigt ist, ohne die Kräfte zu kennen, welche ihn in Bewegung setzen, ja ohne von den anderen Teilen dieses Betriebs und ihrem Zusammenwirken zu dem Zweck des Ganzen eine Vorstellung zu haben. Er ist ein dienendes Werkzeug der Gesellschaft, nicht ihr bewußt mitgestaltendes Organ. Diese Einleitung möchte dem Politiker und Juristen, dem Theologen und Pädagogen die Aufgabe erleichtern, die Stellung der Sätze und Regeln, welche ihn leiten, zu der umfassenden Wirklichkeit der menschlichen Gesellschaft kennen zu lernen, welcher doch, an dem Punkte, an welchem er eingreift, schließlich die Arbeit seines Lebens gewidmet ist.

Es liegt in der Natur des Gegenstandes, daß die Einsichten, deren es zur Lösung dieser Aufgabe bedarf, in die Wahrheiten zurückreichen, welche der Erkenntnis sowohl der Natur als der geschichtlich gesellschaftlichen Welt zugrunde gelegt werden müssen. So gefaßt begegnet[3] sich diese Aufgabe, die in den Bedürfnissen des praktischen Lebens gegründet ist, mit einem Problem, welches der Zustand der reinen Theorie stellt.

Die Wissenschaften, welche die geschichtlich-gesellschaftliche Wirklichkeit zu ihrem Gegenstand haben, suchen angestrengter als je zuvor geschah ihren Zusammenhang untereinander und ihre Begründung. Ursachen, die in dem Zustande der einzelnen positiven Wissenschaften liegen, wirken in dieser Richtung zusammen mit den mächtigeren Antrieben, die aus den Erschütterungen der Gesellschaft seit der Französischen Revolution entspringen. Die Erkenntnis der Kräfte, welche in der Gesellschaft walten, der Ursachen, welche ihre Erschütterungen hervorgebracht haben, der Hilfsmittel eines gesunden Fortschritts, die in ihr vorhanden sind, ist zu einer Lebensfrage für unsere Zivilisation geworden. Daher wächst die Bedeutung der Wissenschaften der Gesellschaft gegenüber denen der Natur; in den großen Dimensionen unseres modernen Lebens vollzieht sich eine Umänderung der wissenschaftlichen Interessen, welche der in den kleinen griechischen Politien im 5. und 4. Jahrhundert vor Christo ähnlich ist, als die Umwälzungen in dieser Staatengesellschaft die negativen Theorien des sophistischen Naturrechts und ihnen gegenüber die Arbeiten der sokratischen Schulen über den Staat hervorbrachten.

Quelle:
Wilhelm Dilthey: Gesammelte Schriften. Band 1, Leipzig u.a. 1914 ff, S. 3-4.
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Ausgewählte Ausgaben von
Einleitung in die Geisteswissenschaften
Gesammelte Schriften, Bd.1, Einleitung in die Geisteswissenschaften (Wilhelm Dilthey. Gesammelte Schriften)
Wilhelm Dilthey Gesammelte Schriften, Bd.18: Die Wissenschaften vom Menschen, der Gesellschaft und der Geschichte: Vorarbeiten zur Einleitung in die Geisteswissenschaften
Einleitung in Die Geisteswissenschaften: Versuch Einer Grundlegung Für Das Studium Der Gesellschaft Und Der Geschichte (German Edition)
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