VII. Aussonderung der Einzelwissenschaften aus der geschichtlich – gesellschaftlichen Wirklichkeit

[27] Die Zwecke der Geisteswissenschaften, das Singulare, Individuale der geschichtlich-gesellschaftlichen Wirklichkeit zu erfassen, die in seiner Gestaltung wirksamen Gleichförmigkeiten zu erkennen, Ziele und Regeln seiner Fortgestaltung festzustellen, können nur vermittels der Kunstgriffe des Denkens, vermittels der Analysis und der Abstraktion erreicht werden. Der abstrakte Ausdruck, in welchem von bestimmten Seiten des Tatbestandes abgesehen wird, andere aber entwickelt werden, ist nicht das ausschließliche letzte Ziel dieser Wissenschaften, aber ihr unentbehrliches Hilfsmittel. Wie das abstrahierende Erkennen nicht die Selbständigkeit der anderen Zwecke dieser Wissenschaften in sich auflösen darf: so kann weder die geschichtliche, die theoretische Erkenntnis noch die Entwicklung der die Gesellschaft tatsächlich leitenden Regeln dieses abstrahierenden Erkennens entraten. Der Streit zwischen der historischen und der abstrakten Schule entstand, indem die abstrakte Schule den ersten, die historische den anderen Fehler beging. Jede Einzelwissenschaft entsteht nur durch den Kunstgriff der Herauslösung eines Teilinhaltes aus der geschichtlich-gesellschaftlichen[27] Wirklichkeit. Selbst die Geschichte sieht von den Zügen im Leben der einzelnen Menschen und der Gesellschaft, welche in der von ihr darzustellenden Epoche denen aller anderen Epochen gleich sind, ab; ihr Blick ist auf das Unterscheidende und Singulare gerichtet. Hierüber kann sich der einzelne Geschichtschreiber täuschen, da aus einer solchen Richtung des Blickes schon die Auswahl der Züge in seinen Quellen entspringt; aber wer die wirkliche Leistung desselben mit dem ganzen Tatbestand der gesellschaftlich-geschichtlichen Wirklichkeit vergleicht, muß es anerkennen. Hieraus ergibt sich der wichtige Satz, daß jede einzelne Wissenschaft des Geistes nur relativ, in ihrer Beziehung zu den anderen Wissenschaften des Geistes mit Bewußtsein erfaßt, die gesellschaftlich-geschichtliche Wirklichkeit erkennt. Die Gliederung dieser Wissenschaften, ihr gesundes Wachstum in ihrer Besonderung ist sonach an die Einsicht in die Beziehung jeder ihrer Wahrheiten auf das Ganze der Wirklichkeit, in der sie enthalten sind, sowie an das stete Bewußtsein der Abstraktion, vermöge deren diese Wahrheiten da sind, und des begrenzten Erkenntniswertes, der ihnen gemäß ihrem abstrakten Charakter zukommt, gebunden.

Nun kann vorgestellt werden, welche die fundamentalen Zerlegungen sind, vermöge deren die einzelnen Wissenschaften des Geistes ihren ungeheuren Gegenstand zu bewältigen versucht haben.

Quelle:
Wilhelm Dilthey: Gesammelte Schriften. Band 1, Leipzig u.a. 1914 ff, S. 27-28.
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Einleitung in die Geisteswissenschaften
Gesammelte Schriften, Bd.1, Einleitung in die Geisteswissenschaften (Wilhelm Dilthey. Gesammelte Schriften)
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Einleitung in Die Geisteswissenschaften: Versuch Einer Grundlegung Für Das Studium Der Gesellschaft Und Der Geschichte (German Edition)
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