Vorrede

[15] Das Buch, dessen erste Hälfte ich hier veröffentliche, verknüpft ein historisches mit einem systematischen Verfahren, um die Frage nach den philosophischen Grundlagen der Geisteswissenschaften mit dem höchsten mir erreichbaren Grad von Gewißheit zu lösen. Das historische Verfahren folgt dem Gang der Entwicklung, in welcher die Philosophie bisher nach einer solchen Begründung gerungen hat; es sucht den geschichtlichen Ort der einzelnen Theorien innerhalb dieser Entwicklung zu bestimmen und über den vom historischen Zusammenhang bedingten Wert derselben zu orientieren; ja aus der Versenkung in diesen Zusammenhang der bisherigen Entwicklung will es ein Urteil über den innersten Antrieb der gegenwärtigen wissenschaftlichen Bewegung gewinnen. So bereitet die geschichtliche Darstellung die erkenntnistheoretische Grundlegung vor, welche Gegenstand der anderen Hälfte dieses Versuchs sein wird.

Da historische und systematische Darlegung so einander ergänzen sollen, erleichtert es wohl die Lektüre des geschichtlichen Teils, wenn ich den systematischen Grundgedanken andeute.

Am Ausgang des Mittelalters begann die Emanzipation der Einzelwissenschaften. Doch blieben unter ihnen die der Gesellschaft und Geschichte noch lange, bis tief in das vorige Jahrhundert hinein, in der alten Dienstbarkeit der Metaphysik. Ja die anwachsende Macht der Naturerkenntnis hatte für sie ein neues Unterwürfigkeitsverhältnis zur Folge, das nicht weniger drückend war als das alte. Erst die historische Schule – dies Wort in einem umfassenderen Sinne genommen – vollbrachte die Emanzipation des geschichtlichen Bewußtseins und der geschichtlichen Wissenschaft. In derselben Zeit, da in Frankreich das im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert entwickelte System der gesellschaftlichen Ideen als Naturrecht, natürliche Religion, abstrakte Staatslehre und abstrakte politische Ökonomie in der Revolution seine praktischen Schlüsse zog, da die Armeen dieser Revolution das alte, sonderbar verbaute und vom Hauch tausendjähriger Geschichte umwitterte Gebäude des deutschen Reiches besetzten und zerstörten, hatte sich in unserem Vaterlande eine Anschauung von geschichtlichem[15] Wachstum, als dem Vorgang in dem alle geistigen Tatsachen entstehen, ausgebildet, welche die Unwahrheit jenes ganzen Systems gesellschaftlicher Ideen erwies. Sie reichte von Winckelmann und Herder durch die romantische Schule bis auf Niebuhr, Jakob Grimm, Savigny und Böckh. Sie wurde durch den Rückschlag gegen die Revolution verstärkt. Sie verbreitete sich in England durch Burke, in Frankreich durch Guizot und Tocqeville. Sie traf in den Kämpfen der europäischen Gesellschaft, mochten sie Recht, Staat oder Religion angehen, überall mit den Ideen des achtzehnten Jahrhunderts feindlich zusammen. Eine rein empirische Betrachtungsweise lebte in dieser Schule, liebevolle Vertiefung in die Besonderheit des geschichtlichen Vorgangs, ein universaler Geist der Geschichtsbetrachtung, welcher den Wert des einzelnen Tatbestandes allein aus dem Zusammenhang der Entwicklung bestimmen will, und ein geschichtlicher Geist der Gesellschaftslehre, welcher für das Leben der Gegenwart Erklärung und Regel im Studium der Vergangenheit sucht und dem schließlich geistiges Leben an jedem Punkte geschichtliches ist. Von ihr ist ein Strom neuer Ideen durch unzählige Kanäle allen Einzelwissenschaften zugeflossen.

Aber die historische Schule hat bis heute die inneren Schranken nicht durchbrochen, welche ihre theoretische Ausbildung wie ihren Einfluß auf das Leben hemmen mußten. Ihrem Studium und ihrer Verwertung der geschichtlichen Erscheinungen fehlte der Zusammenhang mit der Analysis der Tatsachen des Bewußtseins, sonach Begründung auf das einzige in letzter Instanz sichere Wissen, kurz eine philosophische Grundlegung. Es fehlte ein gesundes Verhältnis zu Erkenntnistheorie und Psychologie. Daher kam sie auch nicht zu einer erklärenden Methode, und doch vermögen geschichtliches Anschauen und vergleichendes Verfahren für sich weder einen selbständigen Zusammenhang der Geisteswissenschaften aufzurichten noch auf das Leben Einfluß zu gewinnen. So verblieb es, als nun Comte, St. Mill, Buckle von neuem das Rätsel der geschichtlichen Welt durch Übertragung naturwissenschaftlicher Prinzipien und Methoden zu lösen versuchten, bei dem unwirksamen Protest einer lebendigeren und tieferen Anschauung, die sich weder zu entwickeln noch zu begründen vermochte, gegen eine dürftige und niedere, die aber der Analyse Herr war. Die Opposition eines Carlyle und anderer lebensvoller Geister gegen die exakte Wissenschaft war in der Stärke des Hasses wie in der Gebundenheit der Zunge und Sprache ein Zeichen dieser Lage. Und in solcher Unsicherheit über die Grundlagen der Geisteswissenschaften zogen sich die Einzelforscher bald auf bloße Deskription zurück, bald fanden sie in subjektiver geistreicher Auffassung Genüge, bald warfen sie sich wieder einer Metaphysik in die Arme, welche dem[16] Vertrauensvollen Sätze verspricht, die das praktische Leben umzugestalten die Kraft haben.

Aus dein Gefühl dieses Zustandes der Geisteswissenschaften ist mir der Versuch entstanden, das Prinzip der historischen Schule und die Arbeit der durch sie gegenwärtig durchgehends bestimmten Einzelwissenschaften der Gesellschaft philosophisch zu begründen und so den Streit zwischen dieser historischen Schule und den abstrakten Theorien zu schlichten. Mich quälten bei meinen Arbeiten Fragen, die wohl Jeder nachdenkliche Historiker, Jurist oder Politiker auf dem Herzen hat. So erwuchsen in mir von selber Bedürfnis und Plan einer Grundlegung der Geisteswissenschaften. Welcher ist der Zusammenhang von Sätzen, der gleicherweise dem Urteil des Geschichtschreibers, den Schlüssen des Nationalökonomen, den Begriffen des Juristen zugrunde liegt und deren Sicherheit zu bestimmen ermöglicht? Reicht derselbe in die Metaphysik zurück? Gibt es etwa eine von metaphysischen Begriffen getragene Philosophie der Geschichte oder ein solches Naturrecht? Wenn das aber widerlegt werden kann: wo ist der feste Rückhalt für einen Zusammenhang der Sätze, der den Einzelwissenschaften Verknüpfung und Gewißheit gibt?

Die Antworten Comtes und der Positivsten, St. Mills und der Empiristen auf diese Fragen schienen mir die geschichtliche Wirklichkeit zu verstümmeln, um sie den Begriffen und Methoden der Naturwissenschaften anzupassen. Die Reaktion hiergegen, deren geniale Vertretung der Mikrokosmos Lotzes ist, schien mir die berechtigte Selbständigkeit der Einzelwissenschaften, die fruchtbare Kraft ihrer Erfahrung smethoden und die Sicherheit der Grundlegung einer sentimentalischen Stimmung zu opfern, welche die für immer verlorene Befriedigung des Gemüts durch die Wissenschaft sehnsüchtig zurückzurufen begehrt. Ausschließlich in der inneren Erfahrung, in den Tatsachen des Bewußtseins fand ich einen festen Ankergrund für mein Denken, und ich habe guten Mut, daß kein Leser sich der Beweisführung in diesem Punkte entziehen wird. Alle Wissenschaft ist Erfahrungswissenschaft, aber alle Erfahrung hat ihren ursprünglichen Zusammenhang und ihre hierdurch bestimmte Geltung in den Bedingungen unseres Bewußtseins, innerhalb dessen sie auftritt, in dem Ganzen unserer Natur. Wir bezeichnen diesen Standpunkt, der folgerecht die Unmöglichkeit einsieht, hinter diese Bedingungen zurückzugehen, gleichsam ohne Auge zu sehen oder den Blick des Erkennens hinter das Auge selber zu richten, als den erkenntnistheoretischen; die moderne Wissenschaft kann keinen anderen anerkennen. Nun aber zeigte sich mir weiter, daß die Selbständigkeit der Geisteswissenschaften eben von diesem Standpunkte aus eine Begründung findet, wie die historische[17] Schule sie bedarf. Denn auf ihm erweist sich unser Bild der ganzen Natur als bloßer Schatten, den eine uns verborgene Wirklichkeit wirft, dagegen Realität, wie sie ist, besitzen wir nur an den in der inneren Erfahrung gegebenen Tatsachen des Bewußtseins. Die Analysis dieser Tatsachen ist das Zentrum der Geisteswissenschaften, und so verbleibt, dem Geiste der historischen Schule entsprechend, die Erkenntnis der Prinzipien der geistigen Welt in dem Bereich dieser selber, und die Geisteswissenschaften bilden ein in sich selbständiges System.

Fand ich mich in solchen Punkten vielfach in Übereinstimmung mit der erkenntnistheoretischen Schule von Locke, Hume und Kant, so mußte ich doch eben den Zusammenhang der Tatsachen des Bewußtseins, in dem wir gemeinsam das ganze Fundament der Philosophie erkennen, anders fassen, als es diese Schule getan hat. Wenn man von wenigen und nicht zur wissenschaftlichen Ausbildung gelangten Ansätzen, wie denen Herders und Wilhelm von Humboldts absieht, so hat die bisherige Erkenntnistheorie, die empiristische wie die Kants, die Erfahrung und die Erkenntnis aus einem dem bloßen Vorstellen angehörigen Tatbestand erklärt. In den Adern des erkennenden Subjekts, das Locke, Hume und Kant konstruierten, rinnt nicht wirkliches Blut, sondern der verdünnte Saft von Vernunft als bloßer Denktätigkeit. Mich führte aber historische wie psychologische Beschäftigung mit dem ganzen Menschen dahin, diesen, in der Mannigfaltigkeit seiner Kräfte, dies wollend fühlend vorstellende Wesen auch der Erklärung der Erkenntnis und ihrer Begriffe (wie Außenwelt, Zeit, Substanz, Ursache) zugrunde zu legen, ob die Erkenntnis gleich diese ihre Begriffe nur aus dem Stoff von Wahrnehmen, Vorstellen und Denken zu weben scheint. Die Methode des folgenden Versuchs ist daher diese: jeden Bestandteil des gegenwärtigen abstrakten, wissenschaftlichen Denkens halte ich an die ganze Menschennatur, wie Erfahrung, Studium der Sprache und der Geschichte sie erweisen und suche ihren Zusammenhang. Und so ergibt sich: die wichtigsten Bestandteile unseres Bildes und unserer Erkenntnis der Wirklichkeit, wie eben persönliche Lebenseinheit, Außenwelt, Individuen außer uns, ihr Leben in der Zeit und ihre Wechselwirkung, sie alle können aus dieser ganzen Menschennatur erklärt werden, deren realer Lebensprozeß am Wollen, Fühlen und Vorstellen nur seine verschiedenen Seiten hat. Nicht die Annahme eines starren a priori unseres Erkenntnisvermögens, sondern allein Entwicklungsgeschichte, welche von der Totalität unseres Wesens ausgeht, kann die Fragen beantworten, die wir alle an die Philosophie zu richten haben.

Hier scheint sich das hartnäckigste aller Rätsel dieser Grundlegung, die Frage nach Ursprung und Recht unserer Überzeugung von[18] der Realität der Außenwelt zu lösen. Dem bloßen Vorstellen bleibt die Außenwelt immer nur Phänomen, dagegen in unserem ganzen wollend fühlend vorstellenden Wesen ist uns mit unserem Selbst zugleich und so sicher als dieses äußere Wirklichkeit (d.h. ein von uns unabhängiges andere, ganz abgesehen von seinen räumlichen Bestimmungen) gegeben; sonach als Leben, nicht als bloßes Vorstellen. Wir wissen von dieser Außenwelt nicht kraft eines Schlusses von Wirkungen auf Ursachen oder eines diesem Schluß entsprechenden Vorganges, vielmehr sind diese Vorstellungen von Wirkung und Ursache selber nur Abstraktionen aus dem Leben unseres Willens. So erweitert sich der Horizont der Erfahrung, die zunächst nur von unseren eigenen inneren Zuständen Kunde zu geben schien; mit unserer Lebenseinheit zugleich ist uns eine Außenwelt gegeben, sind andere Lebenseinheiten vorhanden. Doch wieweit ich dies erweisen kann und wieweit es dann ferner überhaupt gelingt, von dem oben bezeichneten Standpunkte aus einen gesicherten Zusammenhang der Erkenntnisse von der Gesellschaft und Geschichte herzustellen, muß dem späteren Urteil des Lesers über die Grundlegung selber anheimgegeben bleiben.

Ich habe nun eine gewisse Umständlichkeit nicht gescheut, um den Hauptgedanken und die Hauptsätze dieser erkenntnistheoretischen Grundlegung der Geisteswissenschaften mit den verschiedenen Seiten des wissenschaftlichen Denkens der Gegenwart in Beziehung zu setzen und dadurch mehrfach zu begründen. So geht dieser Versuch zuerst von der Übersicht über die Einzelwissenschaften des Geistes aus, da in ihnen der breite Stoff und das Motiv dieser ganzen Arbeit liegt, und er schließt von ihnen rückwärts (erstes Buch). Dann führt der vorliegende Band die Geschichte des philosophischen Denkens, das nach festen Grundlagen des Wissens sucht, durch den Zeitraum hindurch, in welchem sich das Schicksal der metaphysischen Grundlegung entschied (zweites Buch). Der Beweis wird versucht, daß eine allgemein anerkannte Metaphysik durch eine Lage der Wissenschaften bedingt war, die wir hinter uns gelassen haben, und sonach die Zeit der metaphysischen Begründung der Geisteswissenschaften ganz vorüber ist. Der zweite Band wird zunächst dem geschichtlichen Verlauf in das Stadium der Einzelwissenschaften und der Erkenntnistheorie nachgehen und die erkenntnistheoretischen Arbeiten bis zur Gegenwart darstellen und beurteilen (drittes Buch). Er wird dann eine eigene erkenntnistheoretische Grundlegung der Geisteswissenschaften versuchen (viertes und fünftes Buch). Die Ausführlichkeit des historischen Teils ist nicht nur aus dem praktischen Bedürfnis einer Einleitung, sondern auch aus meiner Überzeugung von dem Wert der geschichtlichen Selbstbesinnung neben der erkenntnistheoretischen hervorgegangen. Dieselbe[19] Überzeugung spricht sich aus in der seit mehreren Generationen anhaltenden Vorliebe für die Geschichte der Philosophie sowie in Hegels, des späteren Schelling und Comtes Versuchen, ihr System historisch zu begründen. Die Berechtigung dieser Überzeugung wird auf dem entwicklungsgeschichtlichen Standpunkt noch augenscheinlicher. Denn die Geschichte der intellektuellen Entwicklung zeigt das Wachstum desselben Baumes im hellen Lichte der Sonne, dessen Wurzeln unter der Erde die erkenntnistheoretische Grundlegung aufzusuchen hat.

Meine Aufgabe führte mich durch sehr verschiedene Felder des Wissens, so wird mancher Irrtum mir nachgesehen werden müssen. Möchte das Werk auch nur einigermaßen seiner Aufgabe entsprechen können, den Inbegriff von geschichtlichen und systematischen Einsichten zu vereinigen, deren der Jurist und der Politiker, der Theologe und der geschichtliche Forscher als Grundlage für ein fruchtbares Studium ihrer Einzelwissenschaften bedürfen.

Dieser Versuch erscheint, bevor ich eine alte Schuld durch die Vollendung der Biographie Schleiermachers abgetragen habe. Nach dem Abschluß der Vorarbeiten für die zweite Hälfte derselben ergab sich bei der Ausarbeitung, daß die Darstellung und Kritik des Systems von Schleiermacher überall Erörterungen über die letzten Fragen der Philosophie voraussetzten. So wurde die Biographie bis zum Erscheinen des gegenwärtigen Buches zurückgelegt, welches mir dann solche Erörterungen ersparen wird.

Berlin, Ostern 1883.

WILHELM DILTHEY.[20]

Quelle:
Wilhelm Dilthey: Gesammelte Schriften. Band 1, Leipzig u.a. 1914 ff.
Lizenz:
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Einleitung in die Geisteswissenschaften
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Wilhelm Dilthey Gesammelte Schriften, Bd.18: Die Wissenschaften vom Menschen, der Gesellschaft und der Geschichte: Vorarbeiten zur Einleitung in die Geisteswissenschaften
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