Erstes Kapitel
Die aus dem Ergebnis des ersten Buchs entspringende Aufgabe

[123] Das erste einleitende Buch hat zunächst das Objekt dieses Werkes in einem Überblick dargestellt: die geschichtlich-gesellschaftliche Wirklichkeit, in dem Zusammenhang, in welchem sie innerhalb der natürlichen Gliederung des Menschengeschlechts aus Individualeinheiten sich aufbaut, sowie die Wissenschaften von dieser Wirklichkeit, d.h. die Geisteswissenschaften, in der Sonderung und den inneren Beziehungen, in welchen sie aus dem Ringen des Erkennens mit dieser Wirklichkeit entstanden sind: damit der in diese Einleitung Eintretende zuvörderst das Objekt selber in seiner Realität gewahr werde.

Dies war durch den leitenden wissenschaftlichen Gedanken des vorliegenden Werkes geboten. Denn in demselben ist jede von den bisherigen Ergebnissen des philosophischen Nachdenkens abweichende Erkenntnis ein Ausfluß des einen Grundgedankens, die Philosophie sei zunächst eine Anleitung, die Realität, die Wirklichkeit in reiner Erfahrung zu erfassen und in den Grenzen, welche die Kritik des Erkennens vorschreibt, zu zergliedern. Dem mit den Geisteswissenschaften Beschäftigten will dasselbe sonach gleichsam die Organe für die Erfahrung der geschichtlich-gesellschaftlichen Welt ausbilden. Denn dies ist die gewaltige Seele der gegenwärtigen Wissenschaft: ein unersättliches Verlangen nach Realität, welches sich, nachdem es die Naturwissenschaften umgestaltet hat, nunmehr der geschichtlich-gesellschaftlichen Welt bemächtigen will, um, wenn möglich, das Ganze der Welt zu umfassen und die Mittel zu gewinnen, in den Gang der menschlichen Gesellschaft einzugreifen.

Diese ganze, volle, unverstümmelte Erfahrung ist aber bisher noch niemals dem Philosophieren zugrunde gelegt worden. Vielmehr ist der Empirismus nicht minder abstrakt als die Spekulation. Der Mensch, welchen einflußreiche empiristische Schulen aus Empfindungen und[123] Vorstellungen, wie aus Atomen, zusammensetzen, steht mit der inneren Erfahrung, aus deren Elementen doch die Vorstellung vom Menschen gewonnen ist, in Widerspruch: diese Maschine hätte nicht für einen Tag die Fähigkeit, sich in der Welt zu erhalten. Der Zusammenhang der Gesellschaft, welcher aus dieser empiristischen Auffassung gefolgert wird, ist nicht minder als der, den die spekulativen Schulen aufgestellt haben, eine von abstrakten Elementen aus entworfene Konstruktion. Die wirkliche Gesellschaft ist weder ein Mechanismus noch, wie andere sie vornehmer vorstellen, ein Organismus. Nur zwei verschiedene Seiten desselben Standpunktes der Erfahrung sind die den strengen Anforderungen der Wissenschaft entsprechende Analysis der Wirklichkeit und das Anerkenntnis der über diese Analysis hinausreichenden Realität der Wirklichkeit. »Im Betrachten wie im Handeln«, bemerkt Goethe, »ist das Zugängliche von dem Unzugänglichen zu unterscheiden; ohne dies läßt sich im Leben wie in der Wissenschaft wenig leisten.«

Im Gegensatz gegen den herrschenden Empirismus wie gegen die Spekulation mußte also zunächst die geschichtlich-gesellschaftliche Wirklichkeit in ihrer vollen Realität sichtbar gemacht werden; auf diese Wirklichkeit beziehen sich alle folgenden Untersuchungen. Im Gegensatz gegen die Entwürfe einer den ganzen Zusammenhang dieser Wirklichkeit umspannenden Wissenschaft mußte das Ineinandergreifen der Leistungen der geschichtlich gewordenen, fruchtbaren Einzelwissenschaften gezeigt werden; in ihnen vollzieht sich der große Prozeß einer zwar relativen, aber fortschreitenden Erkenntnis des gesellschaftlichen Lebens. Und da wir den Leser mit den Einzelwissenschaften beschäftigt oder in der mit ihnen verknüpften Technik des Berufslebens tätig vorfinden, so mußte, im Gegensatz gegen diese Vereinzelung, die Notwendigkeit einer grundlegenden Wissenschaft nachgewiesen werden, welche die Beziehungen der Einzelwissenschaften zu dem fortschreitenden Erkenntnisvorgang entwickelt; in eine solche Grundlegung führen alle Geisteswissenschaften zurück.

Zu dieser Grundlegung selber wenden wir uns nunmehr. Sie entnimmt für ihren Aufbau aus dem Bisherigen nur den Beweis der Notwendigkeit einer die Geisteswissenschaften begründenden allgemeinen Wissenschaft. Dagegen muß sie für die im ersten Buch entwickelte Anschauung der geschichtlich-gesellschaftlichen Wirklichkeit und des Vorgangs, in welchem deren Erkenntnis stattfindet, soweit diese Anschauung mehr als eine Zusammenordnung von Tatsachen ist, nun erst die strenge Begründung darlegen.

Wir finden nun in der Literatur der Geisteswissenschaften zwei unterschiedene Gestalten einer solchen Grundlegung. Während[124] die Begründung der Geisteswissenschaften auf die Selbstbesinnung, somit auf Erkenntnistheorie und Psychologie bisher in einer geringen Anzahl von Arbeiten versucht worden ist, welche erst durch die kritische Philosophie des 18. Jahrhunderts hervorgerufen wurden, besteht seit mehr als zweitausend Jahren ihre Begründung auf Metaphysik. Denn seit einer so langen Zeit wurde die Erkenntnis der geistigen Welt auf die Erkenntnis Gottes als ihres Urhebers und auf die Wissenschaft von dem allgemeinen inneren Zusammenhang der Wirklichkeit als von dem Grunde der Natur sowie des Geistes zurückgeführt. Insbesondere bis in das 15. Jahrhundert hat die Metaphysik (den Zeitraum von der Begründung der alexandrinischen Wissenschaft bis zum Aufbau der christlichen Metaphysik ausgenommen) über die einzelnen Wissenschaften gleich einer Königin geherrscht. Ordnet dieselbe sich doch, ihrem Begriff nach notwendig, alle einzelnen Wissenschaften unter, wenn sie überhaupt anerkannt wird. Diese Anerkennung aber war so lange selbstverständlich, als der Geist den inneren und allgemeinen Zusammenhang der Wirklichkeit zu erkennen gewiß war. Denn Metaphysik ist eben das natürliche System, welches aus der Unterordnung der Wirklichkeit unter das Gesetz des Erkennens entspringt. Metaphysik ist also überhaupt die Verfassung der Wissenschaft, unter deren Herrschaft das Studium des Menschen und der Gesellschaft sich entwickelt haben und unter deren Einfluß sie noch heute, wenn auch in vermindertem Umfang und Grade, stehen.

An der Pforte der Geisteswissenschaften tritt uns daher die Metaphysik gegenüber, begleitet von dem Skeptizismus, der von ihr unzertrennlich ist, gleichsam ihr Schatten. Der Beweis ihrer Unhaltbarkeit bildet den negativen Teil der Grundlegung der einzelnen Geisteswissenschaften, welche wir im ersten Buch als notwendig erkannt haben. Und zwar versuchen wir die abstrakte Beweisführung des 18. Jahrhunderts durch die historische Erkenntnis dieses großen Phänomens zu ergänzen. Wohl hat das 18. Jahrhundert die Metaphysik widerlegt. Aber der deutsche Geist lebt, unterschieden von dem englischen und französischen, in dem historischen Bewußtsein der Kontinuität, deren Faden bei uns im 16. und 17. Jahrhundert nicht abriß; hierauf beruht seine historische Tiefe, in welcher das Vergangene einen Moment des gegenwärtigen geschichtlichen Bewußtseins bildet. So hat die Liebe zum großen Altertum einerseits die gebrochene Metaphysik bei uns in edlen Geistern auch im 19. Jahrhundert gestützt; aber eben durch dieselbe gründliche Versenkung in den Geist des Vergangenen, in die Erforschung der Geschichte des Gedankens haben wir nun andererseits die Mittel erworben, die Metaphysik in ihrem Ursprung, ihrer Macht und ihrem Verfall geschichtlich zu erkennen.[125] Denn die Menschheit wird diese große geistige Tatsache, wie jede andere, welche sich überlebt hat, welche aber ihre Tradition mit sich fortschleppt, nur völlig überwinden, indem sie dieselbe begreift.

Indem aber der Leser dieser Darstellung folgt, wird er geschichtlich für die erkenntnistheoretische Grundlegung vorbereitet. Die Metaphysik, als das natürliche System, war, wie die folgende Darstellung begründen wird, ein notwendiges Stadium in der geistigen Entwicklung der europäischen Völker. Daher kann der Standpunkt der Metaphysik von dem, welcher in die Wissenschaften eintritt, gar nicht durch bloße Argumente zur Seite geschoben, sondern er muß von ihm, wo nicht durchlebt, doch ganz durchgedacht und solchergestalt aufgelöst werden. Seine Folgen erstrecken sich durch den ganzen Zusammenhang der modernen Begriffe; die Literatur der Religion und des Staats, des Rechts wie der Geschichte ist zum größten Teil unter seiner Herrschaft entstanden, und auch der übrigbleibende Teil befindet sich meist, selbst gegen seinen Willen, unter seinem Einfluß. Nur wer diesen Standpunkt in seiner ganzen Kraft sich klargemacht, d.h. das Bedürfnis desselben, das in der unveränderlichen Natur des Menschen wurzelt, geschichtlich verstanden, seine lang währende Macht in ihren Gründen erkannt und seine Folgen sich entwickelt hat, vermag seine eigene Denkart von diesem metaphysischen Boden ganz loszulösen und die Wirkungen der Metaphysik in der ihm vorliegenden Literatur der Geisteswissenschaften zu erkennen sowie zu eliminieren. Hat doch die Menschheit selber diesen Gang genommen. Alsdann, nur wer die einfache und harte Form der prima philosophia an ihrer Geschichte erkannt hat, wird die Unhaltbarkeit der gegenwärtig herrschenden Metaphysik durchschauen, welche mit den Erfahrungswissenschaften verbunden oder ihnen angepaßt ist: der Philosophie der naturphilosophischen Monisten, Schopenhauers und seiner Schüler sowie Lotzes. Endlich, nur wer die Gründe der Sonderung von philosophischen und empirischen Geisteswissenschaften, welche in ebendieser Metaphysik gelegen sind, erkannt sowie die Folgen dieser Sonderung in der Geschichte der Metaphysik verfolgt hat, wird in dieser Sonderung in rationale und empirische Wissenschaften das stehengebliebene Gehäuse des metaphysischen Geistes erkennen und es entschlossen wegräumen, um dem gesunden Verständnis des Zusammenhangs der Geisteswissenschaften freien Boden zu schaffen.[126]

Quelle:
Wilhelm Dilthey: Gesammelte Schriften. Band 1, Leipzig u.a. 1914 ff, S. 123-127.
Lizenz:
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