Viertes Kapitel
Die Entstehung der Wissenschaft in Europa

[142] Der geschichtliche Verlauf, in welchem dies geschah, in welchem aus mythischem Vorstellen die wissenschaftliche Erklärung des Kosmos entstand, ist uns nach seinem ursächlichen Zusammenhang nur sehr unvollkommen bekannt. Mindestens über drei Jahrhunderte liegen zwischen den Homerischen Gedichten, nach den Ansätzen der namhaftesten Forscher der alexandrinischen Zeit, und der Geburt des ersten, welcher nach der Überlieferung eine wissenschaftliche Erklärung der Welt versuchte: des Thales. Ein Zeitgenosse des Solon, lebte er in der zweiten Hälfte des siebenten Jahrhunderts und in der ersten Zeit des sechsten vor Christus. In diesem langen und dunklen Zeitraum von den Homerischen Gedichten bis auf Thales schritt, soviel können wir urteilen, die Entwicklung des aufklärenden Geistes in zwei Richtungen voran.

Die Erfahrung, welche in den Aufgaben des Lebens, insbesondere der Industrie und dem Handel erwuchs, unterwarf einen immer zunehmenden, räumlichen Bezirk der Erde und innerhalb desselben einen immer anwachsenden Kreis von Tatsachen ihrer Herrschaft, d.h. der Einwirkung, der Voraussage sowie der Einsicht in die Notwendigkeit des Zusammenhangs. Und sie benutzte hierbei den Erwerb von Völkern älterer Kultur, mit welchen die Griechen in Verbindung standen. Die Frage ist transzendent, ob es je eine Zeit gab, in welcher nicht in irgendeinem Umfange, irgendeiner Gestalt die Absonderung eines Bezirks von Erfahrung von dem des mythischen Vorstellens stattfand. Aber der Fortschritt ist eine feststellbare Tatsache, welcher in dem weiteren Verlauf des mythischen Vorstellens sichtbar ist und einerseits die Wissenschaft vorbereitete, andererseits die mythische Welt in ihrem Inneren umgestaltete:[142] die lebendigen Kräfte, welche der affektiv bewegte Mensch als die Hand des Unendlichen auf ihm empfand, fürchtete, liebte, wurden immer mehr an den Horizont des sich erweiternden Umkreises von natürlichem Geschehen gedrängt; von wo sie sich in das Dunkel verloren.

Schon in der Homerischen Dichtung finden wir die mythische Welt im Zurückweichen begriffen. Die göttlichen Gewalten bilden eine Ordnung für sich, einen göttlichen Familienzusammenhang mit staatlichem Gefüge der Willensverhältnisse; ihre eigentlichen Sitze sind von dem Bezirk der gewöhnlichen Arbeit eines damaligen Griechen in Ackerbau, Industrie und Handel getrennt; sie verweilen nur zeitweilig in diesem Bezirk, vornehmlich in vorübergehendem Besuch in ihren Tempeln, und ihre Einwirkung auf das dem Erfahren und dem Gedanken unterworfene Gebiet wird zum supranaturalen Eingriff. Auch werden keine Vermählungen zwischen den olympischen Göttern und den Menschen mehr aus der Zeit der troischen und nachtroischen Ereignisse in den Homerischen Dichtungen berichtet. Ja es findet sich in diesen Dichtungen ein bestimmtes Bewußtsein über die Abnahme des Verkehrs zwischen Göttern und Menschen. So breitete die fortschreitende Aufklärung den Umkreis, den die natürliche Erklärung beherrscht, immer weiter aus und machte die Geister immer mehr skeptisch gegenüber der Annahme von supranaturalen Eingriffen.

Und zwar steht dieser Fortgang in Zusammenhang mit einer Veränderung des Lebensgefühls. Die Lebensordnung des heroischen Königtums verfiel, die epische Dichtung, die ihr Ausdruck gewesen war, erstarrte. Das Lebensgefühl, welches den veränderten politischen und sozialen Ordnungen entsprach, verkündete sich in der Elegie und dem Jambus mit freier Macht: das bewegte Innere der Person wurde zum Mittelpunkt des Interesses. In der lyrischen Dichtung sind, wenigstens aus der Zeit des Thales, sogar Spuren, welche das Vertrauen auf die Götter zurücktretend hinter diesem selbständigen Lebensgefühl zeigen.81 Und an die Blüte der Gefühlsdichtung schloß sich die Sittenbetrachtung, in welcher der Geist den Bezirk der sittlichen Erfahrungen sich unterwarf.

Die andere Richtung, in welcher der erklärende Geist voranschritt, ist noch in den Überresten der Literatur von Theogonien sichtbar. Die uns erhaltene Theogonie des Hesiod, unter ihnen die wichtigste, lag, mindestens in ihrem Kern, schon den ersten Philosophen vor. Die erklärende Richtung gestaltete in diesen Theogonien aus dem Stoff des mythischen Vorstellungskreises einen inneren, durch[143] Zeugungen voranschreitenden Zusammenhang des Weltprozesses. Und zwar spielt sich dieser Weltprozeß weder als eine bloße Beziehung von Willensgewalten noch als ein aus allgemeinen Naturvorstellungen geknüpfter Zusammenhang ab. Nacht, Himmel, Erde, Eros sind Vorstellungen, welche zwischen Naturtatsache und persönlicher Macht in dämmernden Zwielicht stehen. Aus dem Persönlichen wanden allgemeine Vorstellungen von einem natürlichen Zusammenhang sich los.

Diese beiden Richtungen des Geistes zerstörten den Zusammenhang der Welt, welchen das mythische Denken entworfen hatte. Das andere, welches wir unserem Selbst als Natur gegenüberstellen, empfängt seinen lebendigen Zusammenhang aus dem Selbstbewußtsein, in welchem es da ist. Dieser Zusammenhang wird in voller Lebendigkeit von dem mythischen Denken erfaßt, aber vor dem Gedanken hält seine Wahrheit nicht stand; die Erfahrung der Regelmäßigkeit in der Umwandlung der Stoffe, in der Abfolge der Weltzustände, in dem Spiel der Bewegungen verlangt eine andere Erklärung; ein anderer Zusammenhang der Natur, als welcher in den Beziehungen der Willen von Personen gelegen ist, wird notwendig. Und so beginnt die Arbeit, diesen Zusammenhang gedankenmäßig, der Wirklichkeit entsprechend, zu entwerfen. Die Dinge, in Wirken und Leiden miteinander verkettet, Veränderung an Veränderung gebunden, Bewegung im Raum: dies alles ist der Anschauung gegeben, und es soll nun in seinem Zusammenhang erkannt werden.

Ein langer und mühsamer Weg erfahrenden und versuchenden Denkens beginnt, und, an seinem Ende angekommen, werden wir sagen: Dies andere, welches Natur ist, kann sowenig in Gedankenelemente aufgelöst und durch sie gänzlich erkannt werden als es im mythischen Vorstellen durchdrungen wurde. Es bleibt undurchdringbar, da es eine in der Totalität unserer Gemütskräfte gegebene Tatsächlichkeit ist. Es gibt keine metaphysische Erkenntnis der Natur.

Dies alles stand bevor; aber wir verfolgen zunächst, wie, durch die beiden bezeichneten Richtungen allmählich vorbereitet, nunmehr die große Tatsache einer wissenschaftlichen Erklärung des Kosmos hervortrat. Im sechsten Jahrhundert ist diese Tatsache entstanden, indem in den ionischen und italischen Kolonien der Griechen zu dieser Zeit elementare mathematische und astronomische Einsichten und Verfahrungsweisen auf das Problem angewandt wurden, welches auch das mythische Vorstellen beschäftigt hatte: die Entstehung des Kosmos. Die ionischen Kolonialstädte waren in rapider Entwicklung zu demokratischen Verfassungen und zur Entfesselung aller Kräfte vorangeschritten. Durch die Organisation ihres Kultusrechtes war die geistige Bewegung in ihnen weniger von dem Priestertum[144] abhängig, als in den sie umgebenden, alten orientalischen Kulturstaaten. Und nun gab der in ihnen aufgehäufte Reichtum unabhängigen Männern die Muße und die Mittel der Forschung. Denn die selbständige Entwicklung der einzelnen Zweckzusammenhänge in der menschlichen Gesellschaft ist an die Verwirklichung derselben durch eine besondere Klasse von Personen gebunden. Nun war aber erst mit dem Anwachsen des Reichtums die Bedingung dafür geschaffen, daß einzelne Personen sich ganz und in geschichtlicher Kontinuität dem Erkennen der Natur widmeten. Diesen unabhängigen, weltbewanderten Männern öffneten sich durch eine weltgeschichtliche Fügung seltenster Art zu derselben Zeit die uralten Stätten der Kultur im Orient, insbesondere während der zweiten Hälfte des siebenten Jahrhunderts Ägypten. Die Geometrie, wie sie sich als eine praktische Kunst und eine Summe einzelner Sätze in Ägypten entwickelt hatte, und die Tradition langer astronomischer Beobachtung und Aufzeichnung, wie sie auf den Sternwarten des Ostens bestand, wurden nun von ihnen zu einer Orientierung in dem Weltraume benutzt, dessen Bild das mythische Vorstellen überliefert hatte.

Damit traten die Griechen in eine geistige Bewegung ein, deren größerer, in den Orient zurückreichender Zusammenhang uns bis jetzt unzureichend bekannt ist. Sie ist aber durch den Zweckzusammenhang des Erkennens bedingt. Die Wirklichkeit kann nur durch Aussonderung einzelner Teilinhalte sowie durch die abgesonderte Erkenntnis derselben dem Gedanken unterworfen werden; denn in der komplexen Form ist sie für denselben nicht anfaßbar. Die erste Wissenschaft, welche durch dies Verfahren entstand, ist die Mathematik gewesen. Raum und Zahl sind von der Wirklichkeit früh abgesondert worden, und sie sind einer rationalen Behandlung ganz zugänglich. Die Betrachtung begrenzter Flächen und Körper wird leicht aus der Anschauung der wirklichen Dinge abstrahiert; von solchen abgeschlossenen Gebilden ging die geometrische Untersuchung aus; Geometrie und Zahlenlehre waren gemäß der Natur ihres Gegenstandes die ersten Wissenschaften, welche zu klaren Wahrheiten gelangten. Dieser Gang der Analysis der Wirklichkeit war vor dem Eintreten der Griechen in den Zusammenhang des Erkennens schon eingeschlagen, nun kam ihm die Eigentümlichkeit des griechischen Geistes entgegen. Anschauungskraft und Formsinn bildeten die auszeichnenden Eigentümlichkeiten dieses Geistes; dies zeigt sich höchst auffallend in dem anschaulich klaren und folgerichtigen Bilde des Weltalls, das bereits die Homerischen Epen enthalten. So löste nun die beginnende griechische Wissenschaft, insbesondere in der Pythagoreischen Schule, die Untersuchung der räumlichen und Zahlenverhältnisse ganz los von den praktischen[145] Aufgaben und untersuchte dieselben ohne jede Rücksicht auf Anwendbarkeit. Entsprechend ging die beginnende Astronomie von der Konstruktion der Weltkugel aus und begann Linien auf ihr zu ziehen. Mathematik, insbesondere Geometrie sowie deskriptive Astronomie, in einem späteren Zeitraum hinzutretend Logik, als Theorien, welche gewissermaßen in der Region reiner und angewandter Formen anschauend verweilen, bilden die vollkommensten intellektuellen Leistungen des griechischen Geistes.

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Mimnermus fragm. 2. Bergk II4, 26.

Quelle:
Wilhelm Dilthey: Gesammelte Schriften. Band 1, Leipzig u.a. 1914 ff, S. 142-146.
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