Erstes Kapitel
Verschiedene metaphysische Standpunkte werden erprobt und erweisen sich als zur Zeit nicht entwicklungsfähig

[150] In dem Zweckzusammenhang der Erkenntnis wird eine neue Stufe erreicht; der fortschreitende Geist sucht, in der Generation des Heraklit und Parmenides, die allgemeine Beschaffenheit des Zusammenhangs im Kosmos sowie die eines Prinzips dieses Zusammenhangs zu bestimmen. Er entwickelt die Eigenschaften eines Prinzips, die es zur Erklärung von Naturphänomenen benutzbar machen. Dies setzt voraus, daß er sich nunmehr seine bisherigen Versuche, die Erscheinungen des Kosmos abzuleiten, gegenständlich macht.

Ein Jahrhundert hindurch hatte die neuentstandene Wissenschaft vermittels der Anschauungen von Umwandlung und Bewegung die Phänomene der Außenwelt zu verbinden und zu erklären gesucht. Sie hatte hierzu den Begriff des Prinzips ausgebildet, d.h. eines Ersten, welches zeitlicher Anfangszustand und erste Ursache der Phänomene ist, und von welchem dieselben abgeleitet werden können. Dieser Begriff war der Ausdruck des Willens der Erkenntnis selber. Viele Ursachen drängten nunmehr zum Nachdenken über die allgemeinsten Eigenschaften eines solchen Prinzips, überhaupt aber des Weltzusammenhangs: der Wechsel in den Prinzipien, die Unmöglichkeit, eines dieser Prinzipien zu beweisen, die Schwierigkeiten in der Anschauung von Umwandlung, welche dem bisherigen Verfahren zugrunde gelegen hatte, die nicht minder großen Schwierigkeiten in den einzelnen Vorstellungen, wie sie eine solche Erklärung zu ihrer Verwendung hatte. Wir nennen das Nachdenken, welches solchergestalt einzelne Erklärungen zur Voraussetzung hat und die allgemeinen Bestimmungen eines jeden aufstellbaren Weltzusammenhangs ableitet, ein metaphysisches.

Dies metaphysische Nachdenken zergliederte an der Außenwelt den Zusammenhang der Wirklichkeit. Wohl war dieser Zusammenhang[150] in letzter Instanz im Bewußtsein begründet, er bildete mit der geschichtlichen Welt erst das Ganze der Wirklichkeit, jedoch hat das metaphysische Denken der Griechen diesen Zusammenhang an dem Studium der Außenwelt aufgefaßt. Dies hatte zur Folge, daß die metaphysischen Begriffe an die räumliche Anschauung gebunden blieben. Das vernunftmäßig bildende Prinzip war schon den Pythagoreern ein Begrenzendes, es hat bei den Eleaten und Plato einen analogen Charakter. Die Erklärung des Kosmos löste alles, bis in den höchsten Begriff, zu welchem der griechische Geist gelangte, den des unbewegten Bewegers, in Bewegungen und Erscheinungen im Räume auf.

Vermögen wir nun das innere Gesetz auszudrücken, welches in diesem Stadium von Erkenntnis der Zergliederung des Zusammenhangs von Wirklichkeit die Richtung gab? – Die Welt zeigte zunächst dem beginnenden wissenschaftlichen Denken eine Vielheit einzelner Dinge, in Tun und Leiden veränderlich verbunden, im Räume beweglich, wachsend und abnehmend, ja entstehend und vergehend. Die Hellenen, dies bemerkte einer der neuauftretenden Metaphysiker, sprachen irrtümlich von Entstehen und Vergehen. In der Tat beweist schon die Sprache, daß diese Vorstellungen die einfache Naturauffassung beherrschten. Wolken scheinen sich zu bilden und in der Luft zu zergehen, so die einzelnen Dinge. Selbst die Götter des griechischen Mythos waren in der Zeit entstanden. – Das abgelaufene Jahrhundert griechischer Wissenschaft hatte nun durch die Vorstellung eines ersten bildungskräftigen Stoffes und Seiner Umwandlungen, in Unteritalien durch den Gegensatz der begrenzenden, bildenden Kraft und des Unbegrenzten, einen Zusammenhang unter diesen Anschauungen hergestellt. Wir können die intellektuelle Verfassung eines gebildeten Griechen jener Tage, welcher an den Göttern zu zweifeln begann und sich nun in diesem Wirbel der Stoffumwandlungen sah, schwer nachfühlen. Denn Religion und positive Wissenschaft geben einem heutigen Menschen feste Anhaltspunkte für seine Weltvorstellung. In dem Spiel der Phänomene besaß ein Grieche jener Zeit nunmehr keinen festen Punkt. Weder die mythische Religion konnte ihm einen solchen gewähren, noch bestand positive Wissenschaft, welche ihm Haltepunkte darbieten konnte. – Nun wird der Mensch jeder Zeit inne, daß seine Handlungen und Zustände in seinem Ich begründet sind. Er kann sich nicht vorstellen, daß dies Ich Zustand oder Tun von etwas sei, das hinter dem Ich liege. Das ist sein Lebensgefühl. Und das andere, das Außen, welches er seinem Willen gegenüber findet, ist ihm ebenso in allen Veränderungen Zustand und Äußerung einer Unterlage, welche nicht selber wieder Zustand oder Tun von etwas hinter ihr ist. Gleichviel ob diese selbständige[151] Unterlage an dem einzelnen Ding gefunden wird oder an der einen spinozistischen Substanz oder an den Atomen: das Außen, das uns im Selbstbewußtsein gegeben ist, hat unweigerlich diesen Charakter. Definieren wir Substanz als das, was Subjekt für alle prädikativischen Bestimmungen, Unterlage für alle Zustände und Tätigkeiten ist, so blickt der Mensch sozusagen durch den Wirbel und das Farbenspiel der Phänomene in das Substanziale, was dahinter ist; er kann nicht anders. Auch die Vorstellung des Wirkens, der Begriff der Kausalität wird diesem Substanzialen untergeordnet. Und in sich, in dem Wechsel seiner Antriebe, Regungen, Zwecke muß er ebenfalls nach einem festen Punkt suchen, der sein Handeln regele. So sind in ihm und in dem, was außer ihm seiner Person gegenübertritt, dies die beiden festen Punkte, welche die natürlichen Ziele seines Nachdenkens bilden: die substanziale Unterlage des Außen und in seinem Handeln der Zweck, der nicht Mittel ist, das höchste Gut seines Willens.

Dieser Tatbestand erklärt, warum für die Philosophie der Alten das wahrhafte Sein und das höchste Gut die beiden zentralen Fragen bilden. Diese Fragen sind nicht abgeleitet. Nicht die subjektive Festigkeit der Aussage, die Notwendigkeit der Gedanken ist es, was das menschliche Erkennen zuerst sucht. Diese Festigkeit des Aussagens ist sozusagen die subjektive, logische Seite der objektiven Festigkeit des Zweckes in uns selber, der Substanz außer uns. Dies zeigt sich geschichtlich darin, daß erst die Unsicherheit und der Zweifel, welche die Denkgewißheit stören, die Frage nach dem logischen Zusammenhang von Grund und Folge, nach dem Grunde, der in sich fest ist, hervorgetrieben haben.

Und zwar ringt sich in dem Vorgang, den wir nun mehr darzustellen haben, das Erkennen der Weltsubstanz auch jetzt noch nicht los von dem Zusammenhang, welcher vordem in der Totalität der menschlichen Gemütskräfte das Erkennen gleichsam gebunden hielt. Die Götter hatten in der Welt der ionischen Physiker sowie der Pythagoreer noch Platz gefunden. Indem nun der Zusammenhang des Kosmos nach seinen allgemeinsten Eigenschaften bestimmt wurde, fand sich in demselben für sie im Grunde keine Stelle mehr. Xenophanes, Heraklit, Parmenides, Anaxagoras, die leitenden Geister der neuen Zeit, entwickelten einen Weltzusammenhang, welcher durch das klare Bewußtsein seines allgemeinen Charakters, seines alle Phänomene einschließenden Umfangs gleichsam das ganze Terrain der Wirklichkeit okkupierte. Das war in der Welt des Anaximander oder Pythagoras noch nicht der Fall gewesen. Auch war es für die so eintretende Veränderung gleichgültig, daß die Götter in dem[152] persönlichen Bedürfnis des einen oder anderen dieser Männer noch fortbestanden, wie dies z.B. augenscheinlich bei Xenophanes der Fall war. Aber was war nun die Folge dieser Veränderung für die metaphysische Konzeption der Weltordnung? Der ganze Inbegriff der höheren Gefühle, das religiöse Leben, das sittliche Bewußtsein, das Gefühl der Schönheit und des unendlichen Wertes der Welt waren nun in diesem Weltzusammenhang selber gegenwärtig. Alle Eigenschaften, welche das religiöse und sittliche Leben den Göttern zugeschrieben hatte, fielen nun in diese kosmische Ordnung. Das höchste Gut selber, der Zweck, der kein Mittel mehr ist, wurden auf ihn zurückgeführt. So lag in diesem die Erscheinungen Zusammenhaltenden das Vollkommne, Gute, Schöne, dem Unzureichenden der Wirklichkeit gegenüber das Vollendete, ihrer Unreife gegenüber das Feste und innen Selige.

Xenophanes bestimmt das eine Sein, das ihm dieser Zusammenhang ist, theologisch. Das Gesetz, das nach Heraklit im Fluß der Erscheinungen herrscht, ist nicht nur durch die Gegensätze oder den Weg aufwärts und abwärts bestimmt, sondern es hat einen tief religiösen Hintergrund. Der Beginn des Parmenideischen Lehrgedichts kündigt in altertümlicher Erhabenheit eine mit dem religiösen Glauben zusammenhängende Wahrheit an. Die Pythagoreer zeigen denselben Charakter.

So entspricht es dem Zusammenhang der intellektuellen Entwicklung sowie dem Geiste dieser altertümlichen Zeit, daß die tiefere Besinnung über das Prinzip des Kosmos aus dem religiösen Leben kam und dementsprechend sich als Anforderung an den Gedanken der Gottheit geltend machte. – In der Pythagoreischen Schule war die Trennung zwischen dem in der Wahrnehmung Gegebenen und einer metaphysischen Weltordnung vorbereitet. Der Kosmos wurde in zwei Erklärungsgründe in bezug auf seinen Ursprung zerlegt; dem Unbegrenzten trat das, was Gestalt ist und gestaltet, gegenüber, das Prinzip der Form; dieses wurde von den Pythagoreern mathematisch gefaßt, in den Beziehungen zwischen Zahl und Raumgröße dargestellt, in die reale Welt der Töne sowie in die harmonischen Verhältnisse der kosmischen Massen verfolgt. – Xenophanes erwies aus dem religiösen Bewußtsein das Prinzip des einen Seins. Die Vorstellung vom Tode der Götter ist unfromm; was aber in der Zeit entstanden ist, das ist auch vergänglich; daher ist der Gottheit ewiger und unveränderlicher Bestand zuzuschreiben. Ebenso ist mit dem Bewußtsein von der Macht und Vollkommenheit der Gottheit eine Mehrheit von Göttern nicht verträglich; die ewige Gottheit ist also eine. So ist in Xenophanes mit der Besinnung über die Eigenschaften[153] des Prinzips des Weltalls der Beginn einer durchgreifenden Polemik gegen das mythische Vorstellen verbunden, das eine Vielheit von Göttern annimmt, die geboren werden und sterben; er bereits durchschaut das Anthropomorphistische im Götterglauben und dessen Unhaltbarkeit.

Die strengere Entwicklung dieses Prinzips des All-Einen scheint dadurch gefördert worden zu sein, daß Heraklit aus der Naturanschauung der ionischen Physiker, abschließend, als die Grundlage derselben die Formel von der allgemeinen Wandelbarkeit ableitete. – Das Bewußtsein des Unterschieds des ihm aufgehenden metaphysischen Bewußtseins von aller bisherigen Forschung erfüllt ihn mit herbem Stolz und vernichtender Kritik. Dieses metaphysische Bewußtsein bezieht sich nach der tiefen Einsicht des Heraklit gerade auf das, was den Menschen beständig umgibt, was er beständig hört und sieht: während der gewöhnliche Zustand des Menschen ist, da und doch nicht dabei zu sein, faßt diese metaphysische Besonnenheit eben das überall Wiederkehrende in wachem Bewußtsein auf und spricht es aus. Und so tritt sie wie zu dem vulgären Dahinleben, das dem Schlaf gleicht, auch zu der Empirie in Gegensatz, welche sich in einzelner Kunde und Orientierung über dem Kosmos ausbreitet, und die doch den Sinn nicht belehrt, zu der falschen Kunst, deren Typen ihm Pythagoras, Xenophanes, Hekatäos unter seinen Zeitgenossen und Vorgängern sind. – Diesem metaphysischen Bewußtsein geht nun das Weltgesetz der Abwandlung auf, welches an jedem Punkte des All gleichmäßig wirksam ist. Das sich abwandelnde All-Eine ist nicht nur als dasselbe in den Gegensätzen gegenwärtig, in jeder einzelnen Erscheinung selber ist schon ihr Gegensatz enthalten, in unsrem Leben ist der Tod, in unsrem Tod das Leben. – In diesen Gedanken, die alles Sein auflösen, lag dann der Grund für die Abwendung Heraklits von der positiven Wissenschaft der Zeit. Heraklit hat auch seine Physik dem Grundgedanken der Abwandlung unterworfen, und er hat selbst die Sonne in seine Rhythmik des Umsatzes hineingezogen: täglich sollte sie neu entstehen.

Dieser Gedanke, welchem gemäß Konstanz nur in dem Gesetz der Veränderungen besteht, enthielt zweifellos einen wichtigen Ansatzpunkt wahrer Einsichten; aber in der damaligen Lage der Wissenschaften mußte Heraklit dem Gedanken wie den Tatsachen Gewalt antun, und seine Schule, die Gesellschaft der »Fließenden«, verfiel naturgemäß dem Skeptizismus. Denn besteht nur der Fluß der Dinge, d.h. der Umsatz eines Zustandes der Materie in den andern, fällt sonach die Konstanz nur in das Gesetz dieses Umsatzes: alsdann kann ein Prinzip, welches Träger dieser Umsatzbewegung wäre, nicht unterschieden werden. Wenn also Heraklit auch nur symbolisch das Feuer als ein solches Prinzip bezeichnete, so verfiel sein System damit dem inneren[154] Widerspruch. Auch wurden ferner die regelmäßigen und konstanten Kreisbewegungen der Gestirne einer Erklärung aus dem Prinzip der Umwandlung unterworfen, und hierbei mußte sich zeigen, daß die stetige, unveränderliche Ursache, welche sie fordern, mit der Rhythmik der Umsätze in Widerspruch steht. So geriet Heraklit mit den astronomischen Vorstellungen seiner Zeit notwendig in Streit; so gelangte er zu seinen eigenen, paradoxen astronomischen Behauptungen, die nur als ein Rückschritt gedeutet werden können.

An dem Gegensatz gegen die Formeln des Heraklit hat wahrscheinlich Parmenides den Gedanken des Xenophanes zu voller metaphysischer Klarheit entwickelt. Er arbeitet, wie Heraklit, sich den Gehalt der Weltvorstellung tiefer bewußt zu machen. Auch er will nicht mehr in erster Linie sich im Weltall orientieren oder den tatsächlichen Zusammenhang der Bewegungen seiner großen Massen feststellen. Wohl war Parmenides der erste, der die große Entdeckung von der Kugelgestalt der Erde als Schriftsteller vertrat, wenn er auch nicht als der Entdecker selber bezeichnet werden kann; denn es ist nicht ausgeschlossen, daß er diese in der Astronomie epochemachende Einsicht in seiner unteritalischen Heimat schon bei den Pythagoreern, vorfand. Aber der Anfang seines Lehrgedichts zeigt, daß eine metaphysische Besinnung über die allgemeinsten Eigenschaften des Weltzusammenhangs auch ihm als die große Aufgabe seines Lebens erschien. Derselbe Anfang macht zugleich sichtbar, daß dieser Weltzusammenhang für ihn allen religiösen Tiefsinn des mythischen Zeitalters in sich schloß, ganz wie dies auch bei Heraklit der Fall war. Aller Glanz der mythischen Welt, der Sitz der Gottheiten und ihre strahlenden Gestalten sind nun in diese metaphysische Welt zusammengegangen. So ist es auch ein göttlicher Mund, der an diesem Beginne seines Gedichts den ganzen Gegensatz von Wahrheit und Irrtum in folgenden Sätzen zusammenfaßt: das Seiende ist, das Nichtseiende ist nicht; der Irrtum ist in der entgegengesetzten Annahme begründet, daß das Nichtseiende Existenz habe, daß das Sein nicht bestehe.

Die Fragmente sind nicht ausreichend, den genauen Sinn festzustellen, welchen seine Erläuterung und Begründung dieses seines Hauptsatzes gehabt hat.85 Es ist zweifellos, daß er diesen Satz dadurch begründete, daß das Sein nicht von dem Denken getrennt zu werden vermag; das Nichtseiende kann weder erkannt noch ausgesprochen werden. Diese Beweisführung enthält augenscheinlich in sich, daß das Vorstellen, in welchem die Wirklichkeit gegenwärtig ist, nicht[155] mehr übrigbleibt, sobald man die in ihm gegebene Wirklichkeit aufhebt. Doch ist ein solcher moderner Ausdruck freilich in Gefahr, nicht den einfachen und ganzen Sinn dieses altertümlichen Denkens aufzufassen. Etwas einfacher und dem Sprachgebrauch des Parmenides näher sagen wir: ist das Sein nicht da (eine abstrakte Bezeichnung für das »ist«, welches die im Vorstellen gegebene Gegenständlichkeit ausdrückt), alsdann kann ja auch kein Denken vorhanden sein. – Da also nichts anderes außer dem Sein existiert, so ist auch das Denken gar nicht etwas von dem Sein Unterschiedenes. Denn außer dem Sein ist überhaupt nichts; es ist gleichsam der Ort, in welchem auch die Aussage stattfindet. Denken und Sein sind darum dasselbe. Nichtseiendes ist also ein Ungedanke, ein Nonsens in strengstem Verstande.86

Diese Sätze enthalten allerdings das Denkgesetz des Widerspruchs in metaphysischer Fassung im Keime; aber ihre Tragweite reicht hierüber hinaus. In ihnen ist der Befund des Bewußtseinszusammenhangs, in welchem mit dem Subjekt das Objekt untrennbar verbunden ist und das Objekt den Charakter substantialer Festigkeit besitzt, in unentwickeltem Tiefsinn ausgesprochen.

Und so sind diese Sätze einerseits die zureichende Grundlage für Wahrheiten, welche nun das griechische Denken zunächst den mathematischen hinzufügte und welche den Übergang von den letzteren zu einer wissenschaftlichen Betrachtung des Kosmos ermöglichten; sie sind andererseits in der Dunkelheit, in welcher sie dem Bewußtsein zuerst aufgehen, der Ausgangspunkt für überspannte Anforderungen des Denkens an die allgemeinsten Eigenschaften des Weltzusammenhangs.

Diese in den oben angegebenen Sätzen des Parmenides implicite enthaltenen Wahrheiten sind einfach. Die erste liegt in der Auffassung der Eigenschaft unsres Bewußtseinszusammenhangs, welche Aristoteles in seiner Formel vom Satze des Widerspruchs in eine genauer bestimmte und dadurch haltbar gewordene Gestalt brachte. Die andere liegt in dem physischen Satze: es gibt kein Entstehen und keinen Untergang87; von dem wahrhaft Seienden ist Entstehen und Untergang auszuschließen; denn aus dem Nichtseienden[156] kann Sein nicht entstehen, da dasselbe eben nicht ist, das Seiende aber würde nichts anderes als sich selber erzeugen. Auch dieser Satz hat erst später, zunächst durch Anaxagoras und Demokrit, eine genauer eingeschränkte, haltbare Gestalt empfangen. Die beiden Sätze, von der Unbestimmtheit und den Übertreibungen befreit, die ihnen bei Parmenides anhaften, traten zu den Wahrheiten der Mathematik und ermöglichten so einen festen Ansatz für die Erkenntnis der Natur.

Jedoch gelangte Parmenides von diesen Wahrheiten, infolge der unvollkommenen, unbestimmten Art, in welcher er sie auffaßte, zu Folgerungen, welche auch diese Weltansicht unbenutzbar für positive Forschung machten und ihr darum schließlich nur Anwendbarkeit für die Beweisführungen des Skeptizismus übrigließen. Die moderne Naturwissenschaft, indem sie von der Erhaltung des Stoffs und der Kraft ausgeht, verlegt die ganze Veränderlichkeit und Mannigfaltigkeit der Prädikate in die Relationen. Parmenides überspannt die Tragweite des als Grundsatz des Naturerkennens gültigen ex nihilo nihil fit und konstruiert ein ewiges, kontinuierlich im Räume sich erstreckendes, jede Veränderung und Bewegung ausschließendes Sein, in welches ihm alle Vollkommenheit der göttlichen Weltordnung aufgeht. Er verneint von ihm aus die wirkliche, veränderliche, mannigfaltige Welt, und so wird ihm dann selbst ihr Schein unerklärlich.

So hoben denn Parmenides, Zeno, Melissus die ganze Welterklärung aus den Angeln, welche die ihnen vorausgegangene physische Wissenschaft geschaffen hatte. Diese ältere Physik hatte den Kosmos von einem bildenden Prinzip aus, welches eine unbestimmte Veränderlichkeit in sich hat, mit den Hilfsmitteln der Vorstellungen von Bewegung des Stoffes im Räume, qualitativer Veränderung, Entstehung des Vielen aus dem Einen erklärt. Nun wurden alle konstruktiven Prinzipien, mit welchen diese Physik arbeitete, in Frage gestellt. – Was eine Größe hat, ist teilbar; so gelange ich nie zu dem Einfachen, aus welchem das Zusammengesetzte besteht, wenn ich nicht das Gebiet des Räumlichen verlasse. Verlasse ich aber dieses, so kann ich aus unräumlich Einfachem nie das Räumliche zusammensetzen. Entsprechend kann jeder Zwischenraum zwischen zwei räumlichen Größen ins Unendliche geteilt werden. – Andererseits wird jede Raumgröße von einer anderen umfaßt. – Der Weg, den ein bewegter Körper durchläuft, ist ins Unendliche teilbar.

In der Tat sind die Schwierigkeiten, welche diese Denker solchergestalt an dem Räume, der Bewegung, dem Vielen aufzeigten, innerhalb der Metaphysik selber unüberwindlich; nur der erkenntnistheoretische Standpunkt, welcher auf den Ursprung der Begriffe zurückgeht, kann diese Widersprüche auflösen. Er erkennt, wie die Wirklichkeit in[157] der Anschauung gegeben ist, und wie die unendliche Freiheit des Willens diese Wirklichkeit beliebig teilen und zusammensetzen, wie sie vermittels der Abstraktion das reale Kontinuum und die Bewegung durch Punkte, durch Zerlegung der Bahn der Bewegung in solche Punkte nachbilden kann, ohne damit doch jemals die Realität der Anschauungstatsache selber zu erreichen.

Jedem metaphysischen Theorem folgt als sein Schatten das Bewußtsein des dunklen Rests von aus ihm nicht ableitbaren Tatsachen. Heraklits Werden widersprach seiner Konzeption von dem Feuer als lebendigem Substrat, an welchem das Werden haftet; dem Sein des Parmenides widersprach die veränderliche Welt. Der Fortgang der Metaphysik ist naturgemäß der zu immer komplizierteren Annahmen, welche in demselben Verhältnis geeigneter sind, die Tatsachen zu erklären, andererseits aber auch eine wachsende Zahl von inneren Schwierigkeiten enthalten.

85

Nach der Beschaffenheit unserer Nachrichten über Parmenides kann die Erörterung seiner hervorragenden Stellung in der Geschichte der Metaphysik leider nur vermittels einer Art von subjektiver Reproduktion stattfinden, die sonst nicht gestattet sein würde.

86

So erklärt sich wohl der Sinn des vieldiskutierten Satzes; to gar auto noein estin te kai einai (bei Mullach fr. phil. graec. I, 118, v. 40). Wenn Zeller (I4, 512) estin liest und übersetzt: »denn dasselbe kann gedacht werden und sein«, so wäre noeisthai zu erwarten, das »Können« entspricht aber auch kaum dem Gedanken des Parmenides. Und der Sinn des Ausspruches wird sichergestellt durch v. 94 tôuton d'esti noein te kai houneken esti noêma und die sich anschließende Begründung.

87

Wir verzeichnen die älteste Fassung dieses Gedankens, welcher für die Naturwissenschaft so wichtig wurde, Parmenides v. 77 (bei Mullach fr. phil. graec. I, 121) tôs genesis men apesbestai kai apistos olethros und v. 69 touneken oute genesthai out' ollysthai anêke dikê.

Quelle:
Wilhelm Dilthey: Gesammelte Schriften. Band 1, Leipzig u.a. 1914 ff, S. 150-158.
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