Drittes Kapitel
Die mechanische Weltansicht durch Leukipp und Demokrit begründet. Die Ursachen ihrer vorläufigen Machtlosigkeit gegenüber der monotheistischen Metaphysik

[169] Vergeblich stellte sich damals dieser großen Lehre von der das Weltall zweckmäßig bewegenden Vernunft die atomistische Weltansicht in den Weg, welche Leukipp und Demokrit begründet haben, und die durch Epikur und Lukrez zu Gassendi und den modernen Theorien einer bloßen Mechanik von Massenteilchen hinüberreicht. Unter den Gründen, welche dem Einfluß des Demokrit in seiner Zeit entgegenstanden, befand sich gewiß in erster Linie, daß von seinen Prämissen aus damals eine genauere Erklärung der Bewegungen der Weltkörper ganz unmöglich war.

Es ist dargelegt worden, wie mit der allgemeinen Lage der griechischen Wissenschaft nach dem Auftreten der Parmenideischen Metaphysik die Theorie der Massenteilchen entstand; sie war repräsentiert von Empedokles, Anaxagoras, Leukipp, Demokrit.115 Auch kann noch festgestellt werden, wie die atomistische Theorie der zwei letztgenannten Denker zunächst in metaphysischen Betrachtungen begründet war. Denn Leukipp und Demokrit beweisen ihre Theorie, unter der Voraussetzung der Realität von Bewegung und Teilung, aus dem eleatischen Begriff von dem Sein als einer unteilbaren Einheit sowie aus der mit[169] ihm verbundenen Leugnung von Entstehen und Vergehen116: so leiten sie das Atom und den leeren Raum ab.

Wir suchen die Bedeutung der atomistischen Theorie in ihrer damals von Leukipp und Demokrit erfundenen Gestalt uns deutlich zu machen. Wir sehen dabei ganz von ihrer eben hervorgehobenen metaphysischen Begründung ab und sondern die Betrachtung ihres allgemeinen wissenschaftlichen Wertes von der ihrer Benutzbarkeit in der damaligen Lage der Wissenschaft. Diese atomistische Theorie, wie sie nun Leukipp und Demokrit begründen, ist, nach der scientifischen Brauchbarkeit bemessen, die bedeutendste metaphysische Theorie des ganzen Altertums. Sie ist der einfache Ausdruck der Anforderung des Erkennens an seinen Gegenstand, für das Spiel der Veränderungen, des Entstehens und Vergehens stetige, standhaltende Substrate zu haben. Dies erreicht die atomistische Theorie, indem sie mit natürlichem Sinne den Vorgängen von Teilung und Zusammensetzung der Einzeldinge, von scheinbarem Verschwinden eines Dinges im Wechsel des Aggregatzustandes und dem Wiedersichtbarwerden desselben folgt; so gelangt sie zu kleinen Dingen, Substanzen, welche als stetig raumerfüllend unteilbare Ganze sind. Denn wenn die Zerreißung eines Dinges als darum möglich vorgestellt wird, weil dies Ding aus diskreten Teilen besteht, so bilden die Grenze dieser Zerlegung Teile, welche darum nicht mehr trennbar sind, weil sie nicht mehr aus diskreten Teilen zusammengesetzt sind. Die atomistische Theorie kann alsdann die untrennbaren Einheiten als unveränderlich bestimmen, gleichsam als die wahren Parmenideischen Substanzen; denn Veränderung ist ihr nur durch Verschiebung von Teilen erklärbar. Sie kann endlich, was der wahre Sinn aller echten Atomistik ist, das anschauliche Bild von Bewegungen im Räume, Entfernungen, Ausdehnungen, Massen auf diese Welt des Kleinen, welche sich der Sichtbarkeit entzieht, übertragen. Zu den Bestandteilen dieses anschaulichen Bildes gehört auch der leere Raum; denn bevor wir von der Atmosphäre zureichende Begriffe ausbilden, glauben wir die Dinge in ihn ausweichen zu sehen, und auch nach Berichtigung dieser Vorstellung können wir Bewegung nur vermittels dieses Hilfsbegriffs eines Leeren denken, in welches die Objekte ausweichen. Diese einfache Anschaulichkeit vollendet sich durch zwei weitere Theoreme: Jede Wirkung, die im Kosmos stattfindet, wird auf Berührung, Druck und Stoß zurückgeführt; dementsprechend wird jede Veränderung auf die Bewegung der sich gleichbleibenden Atome im Räume reduziert, und sonach werden alle Eindrücke von Qualitäten[170] außer Dichtigkeit, Härte und Schwere der Sinnesempfindung zugewiesen und den Objekten abgesprochen.117 Eine solche Betrachtungsweise mußte dem mit den sinnlichen Objekten beschäftigten Verstande zusagen, wenn sie auch zunächst nur den Wert einer Metaphysik hatte, solange ihre Anwendbarkeit auf die Probleme der Naturwissenschaft noch eine so geringe war. Daher ist sie, nachdem sie einmal da war, dem griechischen Denken nicht wieder verlorengegangen.

Aber diese atomistische Theorie konnte andererseits zu der Zeit des Leukipp und Demokrit nicht zur Herrschaft gelangen, da die Bedingungen für ihre Verwertung zur Erklärung der Phänomene fehlten. Die Bewegungen der Massen im Weltraum bildeten das Hauptproblem der Naturwissenschaft jener Tage, und seit dem Auftreten des Anaxagoras war immer mehr die Untersuchung der Planeten in den Vordergrund getreten. Trotzdem lehnt sich Demokrit in entscheidenden Punkten der astronomischen Konstruktion noch an Anaxagoras an, dessen Theorie sich doch als nicht ausreichend erweisen mußte. Ja Demokrit besaß überhaupt in seinen Voraussetzungen keine Mittel astronomischer Erklärung.

Nimmt man an118, er habe den Fall der Atome im leeren Räume von oben nach unten infolge ihrer Schwere und das proportionale Verhältnis der Geschwindigkeit dieser ihrer Fallbewegung zu ihrer Masse als Voraussetzungen für die Erklärung des Kosmos betrachtet, demnach eine zusammenhängende mechanische Ansicht entworfen: dann erscheinen die von ihm benutzten Erklärungsgründe als ganz unzureichend; das Mißverhältnis dieser Theorie zu der Erklärung des gedankenmäßig geordneten Kosmos konnte in diesem Falle doch kaum etwas anderes als Lächeln in der mathematischen Schule Platos hervorrufen. Schon die Bahn eines geworfenen Körpers konnte zeigen, wie vorübergehend die Wirkung der einzelnen Anstöße von einander treffenden Atomen gegenüber der beständig abwärtsziehenden Schwere sei.[171]

Jedoch ist diese Auffassung der Nachrichten über Demokrit kaum haltbar. Demokrit blieb dabei stehen, die ewige Bewegung der Atome im leeren Räume sei durch ihre Beziehung zu diesem bedingt. Den ersten Bewegungszustand dachte er als eine kreisende Bewegung aller Atome, als dinos. In diesem Dinos stoßen die Atome aneinander, verbinden sich und aus ihrer Anhäufung bildet sich ein Kosmos, der dann schließlich durch einen aus mächtigeren Massen bestehenden zertrümmert wird. Wo nun eine einzelne Atomverbindung entsteht, existiert innerhalb derselben ein bestimmtes quantitatives Verhältnis der Atommasse zu dem in der Verbindung enthaltenen leeren Räume; hierdurch ist die Verschiedenheit des Gewichts bei gleicher Größe bedingt, das Aufsteigen der einen Atomverbindungen, das Fallen der anderen von oben nach unten, und zwar mit entsprechend verschiedener Geschwindigkeit. Die Unbestimmtheit und Fehlerhaftigkeit dieser Grundvorstellungen mußte eine solche Bewegung der Atome als ganz wertlos für die Welterklärung erscheinen lassen.

Nicht anders verhält es sich auf dem biologischen Gebiet, auf welchem ein originaler Fortschritt Demokrits in bezug auf Naturerkenntnis noch aus den Quellen erkennbar ist: ist hier doch Demokrit augenscheinlich der einzige namhafte Vorgänger des Aristoteles. Soviel der hier noch so ungesichtete Zustand der Fragmente und Nachrichten erkennen läßt, bestand das Verdienst Demokrits in der Ausbildung sorgfältiger beschreibender Wissenschaft, ja er verschmäht hier sogar nicht, den Tatbestand durch Vorstellung eines Verhältnisses von Zweckmäßigkeit zwischen den Organen des tierischen Körpers und den Aufgaben seines Lebens verständlich zu machen.

Hieraus verstehen wir, was sich nun ereignete. Die monotheistische Metaphysik Europas hat nicht nur die pantheistischen Elemente der alten Zeit, die in Diogenes von Apollonia fortwirkten, sondern auch die mechanische Welterklärung als ungenügende Konstruktionen zur Seite geschoben. Jedoch hat sie nicht vermocht, dieselben zu vernichten. Die mechanische Weltansicht sprach eine dem Verstande entsprechende Möglichkeit aus und blieb aufrecht, mit starkem Bewußtsein ihrer im Rechnen mit den sinnlichen Tatsachen wurzelnden Kraft; der Tag ihres Sieges brach freilich erst an, als die experimentellen Methoden sich ihrer bemächtigten. Die pantheistische Weltansicht entsprach einer Gemütslage, welche bald in der stoischen Schule ihre Erneuerung bewirkte. Aber stärker als diese beiden metaphysischen Grundansichten war der skeptische Geist. Er hatte in der eleatischen Schule Widersprüche in den Grundvorstellungen der Physik des Kosmos entwickelt, welche von keiner Metaphysik aufgelöst werden konnten. Er hatte aus der Schule Heraklits vermittels[172] des Widerspruchs im Werden einen Tummelplatz des Skeptizismus gemacht. Dieser skeptische Geist war mit jedem neuen metaphysischen Versuche gewachsen und überflutete nun die ganze griechische Wissenschaft. Er wurde begünstigt durch die Veränderungen in dem sozialen und politischen Leben von Athen, das seit Anaxagoras die griechische Wissenschaft zentralisierte. Er wurde gefördert durch eine Umänderung der wissenschaftlichen Interessen, welche die Beschäftigung mit geistigen Tatsachen, mit Sprache, Redekunst, Staat in den Vordergrund rückte. Der Wissenschaft vom Kosmos trat unter diesen Umständen der Anfang einer Erkenntnistheorie gegenüber.

Blicken wir voraus. Welches wird unter diesen Umständen das Schicksal der monotheistischen Weltansicht sein? Die monotheistische Metaphysik ist auch von der skeptischen Bewegung nicht gestört worden; sie war unabhängig von den einzelnen metaphysischen Positionen in der Anschauung des gedankenmäßigen Zusammenhangs des Kosmos begründet; zudem war sie getragen von einer inneren Entwicklung des religiösen Lebens; so wird sie auf der neuen von den Sophisten und Sokrates geschaffenen Grundlage durch Plato und Aristoteles vollendet werden. Es entsteht der höchste Ausdruck, den der griechische Geist für den Zusammenhang der Welt gefunden hat, welcher in der Anschauung als schön, vor dem Erkennen als gedankenmäßig sich darstellt.

Das wird geschehen, indem sich der monotheistische Grundgedanke mit einer neuen Bestimmung über das Wesenhafte verbindet, in welchem der Zusammenhang des Kosmos gefunden werden kann. Sucht man das wahrhaft Seiende, so bietet sich ein doppelter Weg. Die veränderliche Welt kann einerseits in konstante Bestandteile zerlegt werden, deren Relationen sich ändern, andererseits kann die Konstanz in der Gleichförmigkeit gesucht werden, welche das Denken in dem Wechsel selber auffaßt. Und zwar wird zu nächst diese Gleichförmigkeit in den Inhalten gefunden, wie sie in der Wirklichkeit wiederkehren. Lange Zeiten werden vergehen, in welchen die menschliche Intelligenz vorwiegend auf dieser Stufe des Erkennens verhaart. Dann erst, infolge einer tiefergreifenden Zerlegung der Erscheinungen, findet sie die Regel der Veränderungen in dem Gesetz, und damit ist die Möglichkeit gegeben, für dieses Gesetz in den konstanten Bestandteilen Angriffspunkte zu finden.

Aber was auch geschieht, jeder Gestalt des europäischen Denkens folgt das skeptische Bewußtsein der Schwierigkeiten und Widersprüche in den grundlegenden Voraussetzungen. Immer wieder beginnt die Metaphysik, unermüdlich, an einem tiefergelegenen Punkte der[173] Abstraktion von neuem die Arbeit des Aufbaus. Werden nicht auch da jedesmal die Schwierigkeiten und Widersprüche, welche die Metaphysik begleiten, nur in einer noch verwickelteren Weise wiederkehren?

115

S. 158 ff.

116

S. 156 Anm. 2.

117

An diesem wichtigen Punkte kam Protagoras der genaueren Begründung der Atomistik zu Hilfe.

118

So Zeller I3 779. 791, dessen Auffassung bestimmend gewesen ist (z.B. Lange, Geschichte des Materialismus I2, 38 ff.). Ich kann nur andeuten, warum seine Gründe mich nicht überzeugen. Die Stellen Arist. de caelo IV, 2 p. 308 b 35, Theophrast de sensibus 61. 71 (Diels 516 ff.) erweisen nur die im Text angegebenen Sätze über Atomverbindungen. Aber man ist nicht berechtigt, Gewicht und senkrechten Fall von diesen zusammengesetzten Körpern auf das Verhalten der im dinos kreisenden Atome zu übertragen. Vermeidet man dies, so sind solche Stellen in Einklang mit denen, welche den senkrechten Fall der Atome als Anfangszustand ausschließen und als solchen den dinos statuieren: Arist. de caelo III, 2 p. 300 b 8. Metaph. I, 4 p. 985 b 19. Theophrast bei Simplic. in phys. f. 7 r 6 ff. (Diels 483 f.) Diogenes Laert. IX, 44. 45. Plutarch plac. I, 23 mit Parallelst. (Diels 319) Epicur. ep. 2 bei Diogen. Laert. X, 90. Cicero de fato 20, 46.

Quelle:
Wilhelm Dilthey: Gesammelte Schriften. Band 1, Leipzig u.a. 1914 ff, S. 169-174.
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