Die Lehre von den substantialen Formen des Kosmos tritt in die monotheistische Metaphysik ein

[182] Und welches sind nun die Prinzipien, welche diese Rechenschaft über unser Wissen auffindet und deren Entwicklung das letzte Ziel der platonischen Wissenschaft ist?

Die Metaphysik Europas tut nun auch in Rücksicht ihres Inhaltes einen weiteren entscheidenden Schritt. Die konstanten Bedingungen der veränderlichen Welt konnten in der damaligen Lage der Wissenschaft, in welcher Vorstellungen, wie die von der Ursprünglichkeit und Vollkommenheit kreisförmiger Bewegungen am Himmel oder von dem Streben jedes durch Stoß bewegten Körpers auf der Erde nach seinem Ruhezustand noch nicht durch eine beharrliche, vom Versuch unterstützte Arbeit der Zerlegung komplexer Zusammenhänge in die einzelnen Verhältnisse von Abhängigkeit verbessert worden waren, keineswegs mit wirklichem Nutzen für die Erkenntnis in Atomen und deren[182] Eigenschaften aufgesucht werden. Denn zwischen diesen Atomen und dem Formenzusammenhang des Kosmos fehlte jede Verbindung. In dem System der Formen selber und in demselben entsprechenden psychischen Ursachen mußte der europäische Geist den metaphysischen Zusammenhang der Welt sehen, welcher ihren letzten Erklärungsgrund enthalte.

Wer empfände nicht in dem bestrickenden Glanz der schönsten Werke Platos, daß die Ideen nicht nur als Bedingungen für das Gegebene in seiner reichen dichterischen, ethisch gewaltigen Seele Bestand hatten! Seine Ausgangspunkte sind die sittliche Person, der Enthusiasmus, die Liebe, die schöne, gedankenmäßige, in Maßen geordnete Welt, sein Ideal ist das wahrhaft Seiende, welches alle Vollkommenheit in sich schließt, die seine erhabene Geistesrichtung forderte. Er schaute die Ideen in diesem Tatbestand, dachte sie nicht nur als die Bedingungen desselben. An dieser Stelle muß aber jede Erörterung ausgeschlossen bleiben, welche den Ursprung dieser großen Lehre zum Gegenstand hat. Wir haben es mit dem Zusammenhang seiner Gedanken zu tun, sofern dieser in der Beweisführung auftritt und in dieser systematischen Form den weiteren Fortgang der europäischen Metaphysik bestimmte.

Das Seiende, welches dem Werden und Vergehen entnommen ist, findet die von Plato ausgehende Richtung des metaphysischen Geistes in dem Hintergrund der in Raum und Zeit auftretenden Erscheinungen, den unsere Allgemeinvorstellungen ausdrücken oder zu dem sie sich emporleiten. Die Metaphysik setzt damit nur fort, was die Sprache begonnen hat. Diese bereits hat in den Namen für Allgemeinvorstellungen, insbesondere für die Gattungen und Arten, Wesenheiten aus den einzelnen Erscheinungen herausgehoben. Die Anwendung der Worte führt unvermeidlich mit sich, daß dies immer Wiederkehrende, welches das Vorstellen als einen Typus an die Dinge heranbringt, wie eine Macht über sie empfunden wird, welche die Dinge ein Gesetz zu verwirklichen zwingt. Die Allgemeinvorstellung, welche in dem Sprachzeichen einen abgeschlossenen Ausdruck empfängt, enthält schon ein Wissen von dem sich Gleichbleibenden im Kommen und Gehn der Eindrücke, soweit dieses ohne Analysis der Erscheinungen, sonach aus der bloßen Anschauung derselben hergestellt werden kann. Jedoch vollzieht sich in der Sprache dieser Vorgang ohne Bewußtsein des Wertes seiner Erzeugnisse für die Erkenntnis des Zusammenhangs der Erscheinungen. Indem nun das Bewußtsein hiervon aufgeht, sonach diese Allgemeinvorstellungen in ihrer Beziehung zu den Tatsachen, welche durch sie vorgestellt werden, sowie zu den anderen neben-, über- oder untergeordneten[183] Allgemeinvorstellungen bestimmt, berichtigt und definiert werden, entsteht der Begriff und der Zusammenhang der Begriffe. Und indem die Philosophie den Inhalt und den Zusammenhang der Welt in dem System dieser Begriffe festzustellen unternimmt, entsteht diejenige Form der Metaphysik, welche als Begriffsphilosophie bezeichnet werden kann; dieselbe hat so lange das europäische Denken beherrscht, bis sozusagen von der tieferliegenden Gleichförmigkeit des Weltzusammenhangs der Vorhang weggezogen worden ist.

Diese Metaphysik der substantialen Formen drückte aus, was das unbewaffnete Auge der Erkenntnis erblickt. Das, was das Spiel der Kräfte im Kosmos stets neu hervorbringt, bildet einen erkennbaren, immer gleichen Inhalt der Welt. Das, was im Wechsel der Orte, Bedingungen und Zeiten stets wiederkehrt, nein vielmehr immer da ist und niemals schwindet, bildet einen Zusammenhang der Ideen, dem Unvergänglichkeit zukommt. Während der einzelne Mensch an einer einzelnen Stelle in Raum und Zeit auftritt und verschwindet, verharrt doch, was in dem Begriff des Menschen ausgedrückt ist. Auch denken wir an nichts anderes zunächst, wenn wir den Gehalt der Welt uns vorzustellen bemüht sind. Wir denken an die Gattungen und Arten, Eigenschaften und Tätigkeiten, welche die Buchstaben der Schrift dieser Welt bilden. Diese sind, in ihren Beziehungen zueinander aufgefaßt, für das natürliche Vorstellen der unveränderliche Bestand der Welt, welchen dies Vorstellen fertig vorfindet, an dem es gar nichts zu ändern vermag und der ihm daher als objektiver zeitloser Bestand gegenübersteht. Wie sie dann zu Begriffen in der Wissenschaft geprägt worden sind, enthielten sie so lange unsere Erkenntnis des Weltinhaltes, als wir nicht die Erscheinungen aufzulösen und durch Zergliederung auf Zusammenwirken von Gesetzen zurückzuführen vermochten. Während dieser ganzen Zeit war die Metaphysik der substantialen Formen das letzte Wort der europäischen Erkenntnis. Und auch nachher fand das metaphysische Denken in der Beziehung des Naturmechanismus zu diesem ideellen und in Zusammenhang hiermit teleologisch aufgefaßten Gehalt des Weltlaufs ein neues Problem.

Jedoch konnte auf dem Standpunkt des natürlichen Systems unserer Vorstellungen, welchen die Metaphysik einnimmt, das Verhältnis dieser Ideen, wie sie den konstanten Inhalt des Weltlaufs bilden, zu diesem selber, zu der Wirklichkeit, nicht auf angemessene Weise bestimmt werden. Einerseits hat erst die Erkenntnistheorie, indem sie das, was im Denken als Erklärungsgrund gegeben ist, nach seinem Ursprung und seiner durch denselben bedingten Geltung von dem sondert, was in der Wahrnehmung als Wirklichkeit gegeben ist,[184] das Verhältnis des Dinges zur Idee richtig auszudrücken vermocht. Daher sehen wir jede metaphysische Theorie dieses Verhältnisses an ihren Widersprüchen zugrunde gehen; jede scheiterte an der Unmöglichkeit, das Verhältnis der Ideen zu den Dingen inhaltlich in Begriffen auszudrücken. Andererseits hat erst die positive Wissenschaft, welche das Allgemeine in dem Gesetz des Veränderlichen aufsuchte, die wahrhaft wissenschaftliche Grundlage geschaffen, durch welche für diese Typen der Wirklichkeit die Grenzen ihrer Geltung und die Unterlage ihres Bestandes festgestellt wurden.

Dies war im allgemeinen die geschichtliche Stellung der Metaphysik der substantialen Formen, deren Schöpfer Plato gewesen ist, innerhalb des Zusammenhangs der intellektuellen Entwicklung.

Innerhalb dieser Metaphysik der substantialen Formen entwickelte nun aber Plato nur eine der Möglichkeiten, das Verhältnis dieser Ideen zu der Wirklichkeit und den Einzeldingen auszudrücken, also ein reales Sein der Ideen mit dem realen Sein der Einzeldinge in einen inneren objektiven Zusammenhang zu bringen. Platos Idee ist der Gegenstand des begrifflichen Denkens; wie dieses an den Dingen die Idee heraushebt als urbildlich, nur in dem Gedanken auffaßbar, vollkommen, so besteht dieselbe, abgesondert von den Einzeldingen, welche zwar teil an ihr haben, aber hinter ihr zurückbleiben: eine selbständige Wesenheit. Das Reich dieser ungewordenen, unvergänglichen, unsichtbaren Ideen erscheint wie durch goldene Fäden mit dem mythischen Glauben im griechischen Geiste verbunden. Wir bereiten die Darlegung der Beweisführung für die Ideenlehre vor, indem wir einige einfache Bestandteile ihres Zusammenhangs herausheben, auf welche die offen daliegenden Schriften überall zurückführen.

Die Kritik der sinnlichen Wahrnehmung sowie der in ihr gegebenen Wirklichkeit hatte zu unwiderleglichen Ergebnissen geführt; so fand sich Plato auf das Denken und eine in diesem gegebene Wahrheit verwiesen. In diesem Zusammenhang sondert er nun das Objekt des Denkens von dem der Wahrnehmung. Denn er erkennt die Subjektivität der Sinneseindrücke vollständig an, dringt jedoch nicht zu der Einsicht vor, daß die Tatsache des Seins selber in diesen Eindrücken, in der Erfahrung mitenthalten ist, und so erfaßt er nicht in dieser durch Erfahrung gegebenen Wirklichkeit zugleich das Objekt des Denkens, betrachtet nicht das Denken in seiner natürlichen Beziehung zum Wahrnehmen; vielmehr ist das Denken ihm Erfassen einer besonderen Realität, eben des Seins. Hierdurch vermied er zwar den inneren Widerspruch, in welchen der Objektivismus des Aristoteles später durch Annahme eines allgemeinen Realen in dem einzelnen geriet, verfiel aber freilich in Schwierigkeiten anderer[185] Natur. – Alsdann nahm in Plato mit den Jahren die Richtung auf die Ausbildung einer strengen Wissenschaft von den Beziehungen dieser Ideen zu. Dem Griechen jener Zeit stand der Vorgang noch nahe genug, in welchem die Mathematik sich von den praktischen Aufgaben als Wissenschaft losgelöst und ihre Sätze miteinander in Verbindung gebracht hatte; Plato wollte in seiner Schule neben, ja über der Mathematik nun auch die Wissenschaft von den Beziehungen der Begriffe konstituieren. – Wie erheblich aber auch diese theoretischen Beweggründe der Ideenlehre waren, dieselbe hatte für Plato einen weiter zurückliegenden Halt in anderen Beweggründen, welche über das Erkennen hinausreichen. Auch nachdem der mythische Zusammenhang dem wissenschaftlichen Denken Platz gemacht hatte, finden wir etwas, was aus der Totalität des Seelenlebens stammt, als den unauflöslichen Hintergrund in allen gedankenmäßigen Erfindungen: in dem Weltgesetz Heraklits wie in dem ewigen Sein der Eleaten; es bildet den Hintergrund in den Zahlen der Pythagoreer wie in der Liebe und dem Hasse des Empedokles und in der Vernunft des Anaxagoras, Ja selbst in dem durch die Welt verbreiteten Seelischen des Demokrit. Das Erlebte, Erfahrene wurde nun durch Sokrates und Plato noch in weiterem Umfang zu philosophischer Besinnung gebracht. Die methodische Selbstbesinnung ließ die großen ethischen Tatsachen hervortreten, welche vordem ebenso da, aber gewissermaßen unter dem Horizont der philosophischen Besinnung geblieben waren. Man kann die Frage aufwerfen, ob nicht die Ideenlehre in der ersten Konzeption, wie sie der Phädrus zeigt, noch auf sittliche Ideen beschränkt war. Gleichviel welche Beantwortung diese Frage finde: das Typische, Urbildliche in den Ideen beweist, welchen Anteil die erhabene Stimmung des Platonischen Geistes, das Sittliche und Ästhetische an der Ausbildung seiner Ideenwelt hatte.

Dies also war es, was der jugendliche Plato aus den Begriffsbestimmungen seines Lehrers mit dem Blick des Genius herauslas. Das wahre, ewige Sein kann in dem System der Begriffe, welche das im Wechsel Beharrende erfassen, dargestellt werden. Diese in Begriffen darstellbaren Bestandteile, die Ideen, und ihre Beziehungen zueinander bilden die denknotwendigen Bedingungen des Gegebenen. Plato bezeichnet in diesem Zusammenhang die Ideenlehre geradezu als »si chere Hypothesis«.134 Die Wissenschaft dieser Ideen, seine Wissenschaft, ist daher, wie man richtig gesagt hat, ontologisch, nicht genetisch.

Das aber, was der Begriff an der Wirklichkeit nicht erfaßt, was sonach nicht aus der Idee begreiflich gemacht werden kann – ist die [186] Materie. Eine gestaltlose, unbegrenzte Wesenheit, Ursache und Erklärungsgrund (sofern sie überhaupt etwas erklärt) für den Wechsel und die Unvollkommenheit der Phänomene, der dunkle Rest, welchen die Wissenschaft des Plato von der Wirklichkeit als gedankenlos, schließlich unfaßbar zurückläßt, ein Wort für einen Unbegriff, d.h. für das x, dessen nähere Erwägung diese ganze Formenlehre später vernichten sollte.

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Phädo 100 f.

Quelle:
Wilhelm Dilthey: Gesammelte Schriften. Band 1, Leipzig u.a. 1914 ff, S. 182-187.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Einleitung in die Geisteswissenschaften
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