Fortschritt der metaphysischen Methode

[179] Der Fortschritt ist in der sokratischen Schule vollzogen; Wissenschaft, damals sagte man: Philosophie, ist nun nicht mehr Ableitung von Erscheinungen aus einem Prinzip, sondern ein Gedankenzusammenhang, in welchem der Satz durch seinen Erkenntnisgrund gewährleistet ist. Diesem logischen Bewußtsein Platos erscheinen alle Denker vor Sokrates wie Märchenerzähler. »Jeder, scheint es,[179] hat uns sein Geschichtchen erzählt, wie Kindern. Der eine: dreierlei wäre das Seiende, bisweilen einiges davon untereinander im Streit, dann wieder alles sich befreundet, da es dann Hochzeiten gibt und Zeugungen und Auferziehen des Erzeugten. Ein anderer nimmt der Dinge zwei an, feucht und trocken oder warm und kalt, macht ihnen ein gemeinsames Bett und verheiratet sie. Unser eleatisches Volk aber vom Xenophanes und noch früher her trägt seine Geschichte so vor, als ob das, was wir alles nennen, nur eines wäre.«129 Im Gegensatz hierzu ist dem Schüler des Sokrates das Merkmal wirklicher Erkenntnis der Zusammenhang des Satzes mit dem Erkenntnisgrund und die durch ihn bedingte Denknotwendigkeit.130 Dieser Erkenntniszusammenhang nach Grund und Folge gelangt daher nun als das die Wissenschaft Konstituierende zum Bewußtsein. Und zwar richtet der organisatorische Geist Platos nicht wie Sokrates an die, welche er auf dem Markte findet, sondern an die Märchenerzähler der vergangenen Tage insgemein, »als ob sie selbst zugegen wären«, die sokratische Frage nach dem Zusammenhang der von ihnen behaupteten Sätze mit dem in dem Bewußtsein Feststehenden.131 Er fragt kraft der sokratischen Methode: der Dialog ist daher seine Kunstform, die Dialektik seine Methode; Sokrates ist der Führer des Gesprächs, den seine Feinde töteten, um seine Fragen verstummen zu machen, und den nun Plato an diesen Feinden rächt.

Ja indem dieser organisatorische Geist die Mathematik der Zeit in seiner Schule zusammenfaßt und diese Schule zu einem Mittelpunkt der mathematischen Gedankenarbeit macht, indem er die mathematische Naturwissenschaft, insbesondere die Astronomie in bezug auf ihren theoretischen Wert und ihre Evidenz prüft: bringt der Begriff einer Rechenschaft über unser Wissen die erste Einsicht in die zusammenhängende Organisation der Wissenschaften vom Kosmos hervor. Die Philosophie empfängt nun die Aufgabe, von den Voraussetzungen, welche in jenen Wissenschaften noch ohne Rechenschaft über ihre Gültigkeit eingeführt werden, zu den ersten Erkenntnisgründen zurückzugehen, welche diese Rechenschaft enthalten.132 Und so entsteht in Plato ein klares Bewußtsein über das Problem, dessen[180] Lösung nach der formalen Seite die griechische Wissenschaftslehre, nach der realen die griechische Metaphysik gewesen ist. Diese beiden grundlegenden philosophischen Wissenschaften sind in dem Geiste Platos noch ungetrennt, und sie sind auch für Aristoteles nur zwei Seiten desselben Erkenntniszusammenhangs. Plato bezeichnet diesen Erkenntniszusammenhang als Dialektik.

So tritt diese Rechenschaft über das Wissen in die bisherige Forschung ein, welche auf die ersten Ursachen gerichtet war. Das Erkennen sucht die tatsächlichen Bedingungen, unter deren Annahme das Sein wie das Wissen, der Kosmos wie das sittliche Wollen gedacht werden können. Diese Bedingungen liegen für Plato in den Ideen und ihren Beziehungen zueinander; die Ideen stehen nicht unter der Relativität der sinnlichen Wahrnehmung und werden nicht von den Schwierigkeiten einer Erkenntnis der veränderlichen Welt berührt; sie treten vielmehr neben die Erkenntnis der ruhenden, sich immer gleichen und typischen räumlichen Gebilde und ihrer Beziehungen sowie der Zahlen und ihrer Verhältnisse. Gleich ihnen werden sie in der Veränderlichkeit der Welt nirgend als einzelne äußere Objekte gesehen, sind aber in ihrem typischen Bestande die für den Verstand darstellbaren, einer streng wissenschaftlichen Behandlung zugänglichen Bedingungen, welche Dasein und gleicherweise Erkenntnis der Welt möglich machen.133

Die revolutionäre Erschütterung der europäischen Wissenschaft hat so zu einer höheren Stufe des methodischen Denkens geführt; wir bezeichnen das Verhältnis dieser Stufe zu den älteren Versuchen, welche wir nunmehr hinter uns lassen.

Die Mittel zu den bisherigen intellektuellen Fortschritten lagen, wie die Entwicklung seit Thales zeigt, in der Erweiterung der Erfahrung und der Anpassung von Erklärungen an deren Tatbestand. Das Verfahren des Denkens, welches die Geschichte der Wissenschaften hierbei gewahren läßt, ist ein Einsetzen von Voraussetzungen (Substitution), alsdann eine versuchsweise Benutzung derselben; unvollkommene Erklärungen gehen beständig in großer Zahl zugrunde, wie[181] wir denn diese Grausamkeit des Zweckzusammenhangs gegenüber der mühsamen Arbeit der Individuen beständig um uns ausgeübt sehen und selber von ihr bedroht sind; lebensfähige dagegen passen sich den Anforderungen an Erkenntnis der Wirklichkeit schrittweise an und bilden sich so fort. So haben sich die Atomtheorie und die Lehre von den substantialen Formen allmählich entwickelt. Und als Grundlage dieser Einordnung der Erfahrungen unter lebensfähige Erklärungen wird, wenn auch noch in bescheidenem Umfang, die Mathematik bereits benutzt. – Nun bestehen die Erklärungen der Wissenschaft bis zu der in Plato vollzogenen Umwälzung nur in einem unmethodischen Schlußverfahren auf Ursachen, auf einen ursächlichen kosmischen Zusammenhang. Von Plato ab ist Erklärung der methodische Rückgang auf die Bedingungen, unter welchen eine Wissenschaft vom Kosmos möglich ist. Diese Methode geht von der Korrespondenz des Erkenntniszusammenhangs mit dem realen Zusammenhang im Kosmos aus. Daher sie, auf der Basis der natürlichen Ansicht, diese Bedingungen zugleich in irgendeiner Weise als Ursachen (sonach als Voraussetzungen, Prinzipien) betrachtet. – Wird diese Form des wissenschaftlichen Verfahrens für sich dargestellt, so sondert sich die Logik von dem metaphysischen System selber, wenn auch beide vermittels der Voraussetzung der Korrespondenz miteinander in innerer Verbindung bleiben. Diesen Schritt sollte erst Aristoteles tun, und damit verschaffte er dieser auf dem Boden der natürlichen Weltansicht errichteten Metaphysik erst volle Klarheit über ihr Verfahren. Seine Logik ist demgemäß nur die Darstellung der Form der eben dargelegten vollkommeneren Methode der Metaphysik.

129

Plato, Sophistes 242 CD. Vgl. die verwandte Schilderung Theätet 180 f. und den entsprechenden Übergang zu der Aufgabe, von den Behauptungen der älteren Schulen auf die Erkenntnisgründe derselben zurückzugehen.

130

Timäus 51 E. Meno 97 f. Politie VI, 506.

131

Sophistes 243 ff. Theätet 181 ff.

132

Politie VI, 511 entwirft, zum erstenmal in der Geschichte der Wissenschaften, dieses Problem der Wissenschaftslehre; alsdann wird Politie VII, 523-534 eine Übersicht dieser positiven Wissenschaften gegeben, und aus ihr das Problem der Dialektik abgeleitet: »die dialektische Methode allein geht, die Voraussetzungen (hypotheseis) aufhebend, gerade zum Anfang selbst, damit dieser fest werde« (533 c).

133

Politie VII, 527 B wird die Meßkunst als eine »Wissenschaft des immer Seienden« bezeichnet und dementsprechend neben die Entwicklung der Ideen gestellt. Die rein theoretische Gedankenarbeit Platos ist von der Mathematik als der damals schon konstituierten Wissenschaft geleitet. Ist ihm zunächst die Zahl das sinnliche Schema des rein Begrifflichen, so drängte die Konsequenz seines Systems zu einer Unterordnung der mathematischen Größen und der Ideen unter einen gemeinsamen Begriff, welcher dann der allgemeinste Aasdruck der Bedingungen für die Denkbarkeit der Welt wäre. Diesen fand er später in einem abstrakteren Begriff von Zahl: dementsprechend unterschied er zwischen Zahlen im engeren Verstande, welche aus gleichartigen Einheiten bestehen, so daß jede dieser Zahlen von der anderen nur der Größe nach verschieden ist, und den Idealzahlen, deren jede von der anderen der Art nach unterschieden ist.

Quelle:
Wilhelm Dilthey: Gesammelte Schriften. Band 1, Leipzig u.a. 1914 ff, S. 179-182.
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