Charakter der so entstehenden Systeme

[317] Aus der Vereinigung zweier Ströme, deren einer in Europa entsprungen war, der andere im Morgenlande, ist die mittelalterliche Metaphysik hervorgegangen. Indem sie in diesem Stadium ihre Aufgabe vollständiger umfaßte, machte sich in ihr die Antinomie zwischen der inneren Erfahrung und dem Vorstellen, dem Erkennen viel gründlicher als vorher geltend. Diese Antinomie erscheint nun als Widerspruch zwischen dem Zusammenhang der Natur, deren Begriff von der äußeren Wahrnehmung aus festgestellt wird, und der moralisch-religiösen Weltordnung, deren Gewißheit von den inneren Erfahrungen des Willens aus in der Menschheit entstanden ist und unzerstörbar aus ihnen immer neu hervorwächst. Die Antinomie war auf dem Standpunkt der natürlichen Weltansicht, wie ihn Aristoteles begründet hatte und die Scholastik einnahm, nach welchem die eine wie die andere Weltordnung ein objektiver Zusammenhang ist, unauflösbar. Bald bewirkte sie die Ausbildung von Satz und Gegensatz in den verschiedenen Schulen, bald arbeitete sie in den einzelnen Systemen selber, dieselben durch Widersprüche zersetzend. Sie gesellte sich nun zu den Widersprüchen, an denen die Wissenschaft vom Kosmos und die Theologie bereits litten, und so trat der allgemeine durch Antinomien bestimmte Charakter der mittelalterlichen Metaphysik immer klarer hervor. Er äußerte sich in der Form ihrer Darstellung und löste jedes System in Quästionen auf, in denen Satz und Gegensatz sich in allen Stellen bekämpften. Und der Hauptwiderspruch kam an ganz verschiedenen Punkten des mittelalterlichen Systems wie ein geheimer Schaden im Blute zum Vorschein, in dem Streit zwischen dem Willen Gottes und seinem Verstande, zwischen der ewigen Welt und der Schöpfung aus Nichts, zwischen den ewigen Wahrheiten und der Ökonomie des Heils. Ja er erstreckte sich in seinen Wirkungen schließlich in die Konstruktion des großen gesellschaftlichen Dualismus der mittelalterlichen Welt.

Quelle:
Wilhelm Dilthey: Gesammelte Schriften. Band 1, Leipzig u.a. 1914 ff, S. 317.
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