|
Samstag 17. März wurde Marx auf dem Friedhof zu Highgate zur Ruhe gelegt, im selben Grabe, in dem seine Frau vor fünfzehn Monaten beerdigt worden.
Am Grabe legte G. Lemke zwei Kränze mit roten Schleifen auf den Sarg, im Namen der Redaktion und Expedition des »Sozialdemokrat« und in dem des Londoner Kommunistischen Arbeiterbildungsvereins.
Dann sprach F. Engels ungefähr folgendes in englischer Sprache:
»Am 14. März, nachmittags ein Viertel vor drei, hat der größte lebende Denker aufgehört zu denken. Kaum zwei Minuten allein gelassen, fanden wir ihn beim Eintreten in seinem Sessel ruhig entschlummert – aber für immer.
Was das streitbare europäische und amerikanische Proletariat, was die historische Wissenschaft an diesem Mann verloren haben, das ist gar nicht zu ermessen. Bald genug wird sich die Lücke fühlbar machen, die der Tod dieses Gewaltigen gerissen hat.
Wie Darwin das Gesetz der Entwicklung der organischen Natur, so entdeckte Marx das Entwicklungsgesetz der menschlichen Geschichte: die bisher unter ideologischen Überwucherungen verdeckte einfache Tatsache, daß die Menschen vor allen Dingen zuerst essen, trinken, wohnen und sich kleiden müssen, ehe sie Politik, Wissenschaft, Kunst, Religion usw. treiben können; daß also die Produktion der unmittelbaren materiellen Lebensmittel und damit die jedesmalige ökonomische Entwicklungsstufe eines Volkes oder eines Zeitabschnitts die Grundlage bildet, aus der sich die Staatseinrichtungen, die Rechtsanschauungen, die Kunst und selbst die religiösen Vorstellungen der betreffenden Menschen entwickelt haben, und[335] aus der sie daher auch erklärt werden müssen – nicht, wie bisher geschehen, umgekehrt.
Damit nicht genug. Marx entdeckte auch das spezielle Bewegungsgesetz der heutigen kapitalistischen Produktionsweise und der von ihr erzeugten bürgerlichen Gesellschaft. Mit der Entdeckung des Mehrwerts war hier plötzlich Licht geschaffen, während alle früheren Untersuchungen, sowohl der bürgerlichen Ökonomen wie der sozialistischen Kritiker, im Dunkel sich verirrt hatten.
Zwei solche Entdeckungen sollten für ein Leben genügen. Glücklich schon der, dem es vergönnt ist, nur eine solche zu machen. Aber auf jedem einzelnen Gebiet, das Marx der Untersuchung unterwarf, und dieser Gebiete waren sehr viele und keines hat er bloß flüchtig berührt – auf jedem, selbst auf dem der Mathematik, hat er selbständige Entdeckungen gemacht.
So war der Mann der Wissenschaft. Aber das war noch lange nicht der halbe Mann. Die Wissenschaft war für Marx eine geschichtlich bewegende, eine revolutionäre Kraft. So reine Freude er haben konnte an einer neuen Entdeckung in irgendeiner theoretischen Wissenschaft, deren praktische Anwendung vielleicht noch gar nicht abzusehen – eine ganz andere Freude empfand er, wenn es sich um eine Entdeckung handelte, die sofort revolutionär eingriff in die Industrie, in die geschichtliche Entwicklung überhaupt. So hat er die Entwicklung der Entdeckungen auf dem Gebiet der Elektrizität, und zuletzt noch die von Marc Deprez, genau verfolgt.
Denn Marx war vor allem Revolutionär. Mitzuwirken, in dieser oder jener Weise, am Sturz der kapitalistischen Gesellschaft und der durch sie geschaffenen Staatseinrichtungen, mitzuwirken an der Befreiung des modernen Proletariats, dem er zuerst das Bewußtsein seiner eigenen Lage und seiner Bedürfnisse, das Bewußtsein der Bedingungen seiner Emanzipation gegeben hatte – das war sein wirklicher Lebensberuf. Der Kampf war sein Element. Und er hat gekämpft mit einer Leidenschaft, einer Zähigkeit, einem Erfolg wie wenige. Erste ›Rheinische Zeitung‹ 1842, Pariser ›Vorwärts‹! 1844, ›Brüsseler Deutsche Zeitung‹ 1847, ›Neue Rheinische Zeitung‹ 1848-1849, ›New-York Tribune‹ 1852-1861 – dazu Kampfbroschüren die Menge, Arbeit in Vereinen in Paris, Brüssel und London, bis endlich die große Internationale Arbeiterassoziation als Krönung des Ganzen entstand – wahrlich, das war wieder ein Resultat, worauf sein Urheber stolz sein konnte, hätte er sonst auch nichts geleistet.
Und deswegen war Marx der bestgehaßte und bestverleumdete Mann seiner Zeit. Regierungen, absolute wie republikanische, wiesen ihn aus, Bourgeois, konservative wie extrem-demokratische, logen ihm um die Wette[336] Verlästerungen nach. Er schob das alles beiseite wie Spinnweb, achtete dessen nicht, antwortete nur, wenn äußerster Zwang da war. Und er ist gestorben , verehrt, geliebt, betrauert von Millionen revolutionärer Mitarbeiter, die von den sibirischen Bergwerken an über ganz Europa und Amerika bis Kalifornien hin wohnen, und ich kann es kühn sagen: Er mochte noch manchen Gegner haben, aber kaum noch einen persönlichen Feind.
Sein Name wird durch die Jahrhunderte fortleben und so auch sein Werk!«
Marx' Schwiegersohn, Longuet, verlas dann folgende, in französischer Sprache eingegangene Adressen:
I. Auf das Grab von Karl Marx gelegt von den russischen Sozialisten:
»Im Namen aller russischen Sozialisten sende ich einen letzten Scheidegruß dem hervorragenden Meister unter allen Sozialisten unserer Zeit. Einer der größten Kopfe ist entschlafen, einer der energischsten Kämpfer gegen die Ausbeuter des Proletariats ist gestorben.
Die russischen Sozialisten neigen sich vor dem Grabe des Mannes, der mit ihren Bestrebungen sympathisiert hat im Verlauf aller Wandlungen ihres schrecklichen Kampfs; eines Kampfs, den sie fortführen werden, bis die Grundsätze der sozialen Revolution endgültig werden triumphiert haben. Die russische Sprache war die erste, die eine Übersetzung des ›Kapitals‹ besaß, dieses Evangeliums des zeitgenössischen Sozialismus. Die Studenten der russischen Universitäten waren die ersten, denen es zuteil wurde, eine sympathische Darlegung anzuhören der Theorien des gewaltigen Denkers, den wir jetzt verloren haben. Selbst diejenigen, die sich mit dem Gründer der Internationalen Arbeiter-Assoziation im Gegensatz befanden in bezug auf praktische Organisationsfragen, mußten sich doch stets beugen vor der umfassenden Wissenschaft und der hohen Denkkraft, die das Wesen des modernen Kapitals, die Entwicklung der ökonomischen Gesellschaftsformen und die Abhängigkeit der gesamten Menschheitsgeschichte von diesen Entwicklungsformen zu ergründen verstanden. Und selbst die leidenschaftlichsten Gegner, die er unter den Reihen der revolutionären Sozialisten fand, konnten nicht anders, als dem Ruf gehorchen, den er vor 35 Jahren zusammen mit dem Freunde seines Lebens in die Welt hinausgerufen hatte:
›Proletarier aller Länder, vereinigt euch!‹
Der Tod von Karl Marx wird betrauert von allen, die seinen Gedanken zu erfassen und seinen Einfluß auf unsere Zeit zu schätzen verstanden.
Und ich erlaube mir hinzuzufügen, daß er noch schmerzlicher betrauert wird von denen, die Marx im intimen Verkehr gekannt, besonders von denen, die ihn als Freund geliebt haben.
Paris, 15. März 1883
P. Lawrow«
[337] II. Telegramm.
»Die Pariser Genossenschaft der französischen Arbeiterpartei drückt ihren Schmerz aus beim Verlust des Denkers, dessen materialistische Geschichtsauffassung und dessen Analyse der kapitalistischen Produktion den wissenschaftlichen Sozialismus und die gegenwärtige revolutionäre kommunistische Bewegung geschaffen haben. Sie drückt ferner aus ihre Verehrung für den Menschen Marx und ihre vollständige Einstimmung mit seinen Lehren.
Paris, 16. März 1883
Der Sekretär: Lépine«
III. Telegramm.
»In meinem eignen Namen und als Delegierter der spanischen Arbeiterpartei (Genossenschaft von Madrid) beteilige ich mich an dem ungeheuren Schmerz der Freunde und Töchter von Marx bei dem so grausamen Verlust des großen Sozialisten, der unser aller Meister war.
Paris, 16. März 1883
José Mesa y Leompart«
Hierauf sprach Liebknecht, wie folgt, in deutscher Sprache:
»Ich bin aus der Mitte Deutschlands gekommen, um dem unvergeßlichen Lehrer und treuen Freund meine Liebe und Dankbarkeit auszudrücken. Dem treuen Freund! Sein ältester Freund und Mitstreiter hat Karl Marx soeben den bestgehaßten Mann dieses Jahrhunderts genannt. Wohl. Er war der bestgehaßte, er ist aber auch der bestgeliebte gewesen. Bestgehaßt von den Unterdrückern und Ausbeutern des Volks, bestgeliebt von den Unterdrückten und Ausgebeuteten, soweit sie sich ihrer Lage bewußt sind. Das Volk der Unterdrückten und Ausgebeuteten liebt ihn, weil er es geliebt hat. Denn der Tote, dessen Verlust wir beklagen, war groß in seiner Liebe wie in seinem Haß. Sein Haß war der Liebe entsprungen. Er war ein großes Herz, wie er ein großer Geist war. Das wissen alle, die ihn kannten.
Doch ich stehe hier nicht bloß als Schüler und Freund; ich stehe hier auch als Vertreter der deutschen Sozialdemokratie, die mich beauftragt hat, den Gefühlen Ausdruck zu geben, welche sie für ihren Lehrer empfindet, für den Mann, der unsere Partei geschaffen hat, soweit man in dieser Beziehung von Schaffen reden kann.
Es würde sich nicht schicken, wollte ich hier mich in Schönreden ergehen. War doch niemand ein leidenschaftlicherer Feind der Phrase als Karl Marx. Das gerade ist sein unsterbliches Verdienst, daß er das Proletariat, die Partei des arbeitenden Volkes von der Phrase befreit und ihr die feste, durch nichts zu erschütternde Basis der Wissenschaft gegeben hat. Revolutionär der Wissenschaft, Revolutionär durch die Wissenschaft, hat er den höchsten Gipfel der Wissenschaft erklommen, um herabzusteigen zum Volk und die Wissenschaft zum Gemeingut des Volkes zu machen.
Die Wissenschaft ist die Befreierin der Menschheit.
Die Naturwissenschaft befreit uns von Gott. Doch der Gott im Himmel lebt fort, auch wenn die Wissenschaft ihn getötet hat.
[338] Die Gesellschaftswissenschaft, welche Marx dem Volke erschlossen hat, tötet den Kapitalismus und mit ihm die Götzen und Herren der Erde, welche, solange sie leben, den Gott nicht sterben lassen.
Die Wissenschaft ist nicht deutsch. Sie kennt keine Schranken, vor allem nicht die Schranken der Nationalität. Und so mußte der Schöpfer des ›Kapital‹ naturgemäß auch der Schöpfer der Internationalen Arbeiter-Assoziation werden.
Die Basis der Wissenschaft, welche wir Marx verdanken, setzt uns in den Stand, allen Angriffen der Feinde zu trotzen und den Kampf, welchen wir unternommen haben, mit stets wachsenden Kräften fortzusetzen.
Marx hat die Sozialdemokratie aus einer Sekte, aus einer Schule zu einer Partei gemacht, zu der Partei, welche jetzt schon unbesiegt kämpft und den Sieg erringen wird.
Und das gilt nicht bloß von uns Deutschen. Marx gehört dem Proletariat. Den Proletariern aller Länder war sein ganzes Leben gewidmet. Die denkfähigen, denkenden Proletarier aller Länder sind ihm in dankbarer Verehrung zugetan.
Es ist ein schwerer Schlag, der uns getroffen hat. Doch wir trauern nicht. Der Tote ist nicht tot. Er lebt in dem Herzen, er lebt in dem Kopf des Proletariats. Sein Andenken wird nicht verblassen, seine Lehre wird in immer weiteren Kreisen wirksam sein.
Statt zu trauern, wollen wir im Geiste des großen Toten handeln, mit aller Kraft streben, daß möglichst bald verwirklicht werde, was er gelehrt und erstrebt hat. So feiern wir am besten sein Gedächtnis.
Toter, lebender Freund! Wir werden den Weg, den Du uns gezeigt hast, wandeln bis zum Ziel. Das geloben wir an Deinem Grabe!«
Am Grabe waren außer den schon Genannten noch gegenwärtig u.a. der andere Schwiegersohn von Marx, Paul Lafargue, Friedrich Leßner, 1852 im Kölner Kommunistenprozeß zu fünf Jahren Festung verurteilt, G. Lochner, ebenfalls altes Mitglied des Bundes der Kommunisten. Die Naturwissenschaft war vertreten durch zwei Zelebritäten ersten Ranges, den Zoologen Professor Ray Lankester und den Chemiker Professor Schorlemmer, beide Mitglieder der Londoner Akademie der Wissenschaften (Royal Society).
Fr. Engels[339]
Buchempfehlung
Noch in der Berufungsphase zum Schulrat veröffentlicht Stifter 1853 seine Sammlung von sechs Erzählungen »Bunte Steine«. In der berühmten Vorrede bekennt er, Dichtung sei für ihn nach der Religion das Höchste auf Erden. Das sanfte Gesetz des natürlichen Lebens schwebt über der idyllischen Welt seiner Erzählungen, in denen überraschende Gefahren und ausweglose Situationen lauern, denen nur durch das sittlich Notwendige zu entkommen ist.
230 Seiten, 9.60 Euro
Buchempfehlung
Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Nach den erfolgreichen beiden ersten Bänden hat Michael Holzinger sieben weitere Meistererzählungen der Romantik zu einen dritten Band zusammengefasst.
456 Seiten, 16.80 Euro