[248] Der deutsche Sozialismus datiert von lange vor 1848. Er wies anfangs zwei unabhängige Strömungen auf. Einerseits eine reine Arbeiterbewegung, Abzweigung des französischen Arbeiterkommunismus; aus ihr ging, als eine ihrer Entwicklungsstufen, der utopische Kommunismus Weitlings hervor. Dann eine theoretische Bewegung, entsprungen aus dem Zerfall der Hegelschen Philosophie; diese Richtung wird gleich von vornherein beherrscht durch den Namen Marx. Das »Kommunistische Manifest« vom Januar 1848 bezeichnet die Verschmelzung beider Strömungen, eine Verschmelzung, vollendet und besiegelt im Glutofen der Revolution, wo sie alle, Arbeiter wie Ex-Philosophen, ihren Mann redlich gestanden haben.
Nach der Niederlage der europäischen Revolution 1849 mußte der Sozialismus in Deutschland sich auf eine geheime Existenz beschränken. Erst 1862 pflanzte Lassalle, ein Schüler von Marx, von neuem die sozialistische Fahne auf. Aber das war nicht mehr der kühne Sozialismus des »Manifests«; was Lassalle im Interesse der Arbeiterklasse forderte, das war die Errichtung von Kooperativ-Produktionsgenossenschaften vermittelst des Staatskredits – eine Neuauflage des Programms der Pariser Arbeiterfraktion, die vor 1848 dem rein republikanischen »National« von Marrast anhing, also eines Programms, das die reinen Republikaner der »Organisation der Arbeit« von Louis Blanc entgegenstellten. Der lassallesche Sozialismus, wie man sieht, war sehr bescheiden. Und dennoch bezeichnet er den Ausgangspunkt der zweiten Entwicklungsstufe des Sozialismus in Deutschland. Denn es gelang dem Talent, dem Feuereifer, der unbezähmbaren Energie Lassalles, eine Arbeiterbewegung ins Leben zu rufen, an welche sich durch positive oder negative, freundliche oder feindliche Bande alles knüpft, was während zehn Jahren das deutsche Proletariat Selbständiges getan hat.[248]
In der Tat: Konnte der reine Lassalleanismus, wie er ging und stand, den sozialistischen Ansprüchen der Nation genügen, die das »Manifest« erzeugt hatte? Das war unmöglich. Und so entstand bald, dank vor allem den Bemühungen Liebknechts und Bebels, eine Arbeiterpartei, die die Prinzipien des 1848er »Manifests« offen proklamierte. Dann, 1867, drei Jahre nach Lassalles Tod, erschien »Das Kapital« von Marx, und vom Tag seines Erscheinens datiert der Verfall des spezifischen Lassalleanismus. Die Anschauungen des »Kapitals« wurden mehr und mehr Gemeingut aller deutschen Sozialisten, der Lassalleaner nicht minder als der andern. Mehr als einmal gingen ganze Gruppen Lassalleaner mit fliegenden Fahnen und klingendem Spiel zur neuen »Eisenacher« Partei über. Diese nahm fortwährend an Stärke zu, so daß es bald zu öffnen Feindseligkeiten zwischen ihr und den Lassalleanern kam; und man schlug sich am heftigsten, selbst mit Knüppeln, grade in dem Augenblick, wo kein wirklicher Streitpunkt zwischen den Kämpfenden mehr vorlag, wo die Prinzipien, die Argumente und selbst die Kampfmittel der einen in allen wesentlichen Punkten zusammenfielen mit denen der andern.
Und das war grade der Augenblick, wo Abgeordnete beider Richtungen im Reichstag nebeneinander saßen und die Notwendigkeit gemeinsamen Handelns sich doppelt fühlbar machte. Gegenüber den Ordnungsparteien wurde die gegenseitige Befehdung der Sozialisten einfach lächerlich. Die Lage wurde gradezu unerträglich. Da, im Jahr 1875, vollzog sich die Verschmelzung. Und seitdem haben die ehemals feindlichen Brüder ununterbrochen eine einzige, innig vereinte Familie ausgemacht. Und wäre noch die geringste Aussicht gewesen, sie zu entzweien, so war Bismarck so freundlich, dem vorzubeugen, indem er 1878 den deutschen Sozialismus rechtlos erklärte durch sein berüchtigtes Ausnahmegesetz. Die unparteiisch fallenden Hammerschläge der Verfolgung schmiedeten Eisenacher und Lassalleaner endgültig in eine einzige gleichartige Masse. Und heute veröffentlicht die Sozialdemokratische Partei mit der einen Hand eine amtliche Ausgabe der Werke Lassalles, während sie gleichzeitig mit der andern – und unter Beihilfe der alten Lassalleaner – die letzten Spuren des spezifischen Lassalleanismus aus ihrem Programm austilgt.
Soll ich noch im einzelnen die Wechselfälle, die Kämpfe, die Niederlagen, die Triumphe aufzählen, die unsre Partei in ihrem Lebenslauf durchgemacht? Als das allgemeine Stimmrecht ihr die Tür des Reichstags[249] öffnete, war sie vertreten durch zwei Abgeordnete und hunderttausend Wähler; heute zählt sie fünfunddreißig Abgeordnete und anderthalb Millionen Wähler, mehr Wähler als irgendeine andre Partei in den 90er Wahlen aufzuweisen hat. Elf Jahre Reichsacht und Belagerungszustand haben ihre Stärke vervierfacht und sie zur stärksten Partei Deutschlands gemacht. 1867 konnten die ordnungsparteilichen Abgeordneten ihre sozialistischen Kollegen noch für fremdartige Wesen ansehn, die aus einem andern Planeten herabgefallen; heute, ob's ihnen gefällt oder nicht, müssen sie in ihnen die Vertreter der Macht lehn, der die Zukunft gehört. Die Sozialdemokratische Partei, die einen Bismarck gestürzt, die nach elfjährigem Kampf das Sozialistengesetz gebrochen, die Partei, die wie die ansteigende Flut alle Dämme überbraust, die sich über Stadt und Land ergießt, bis in die reaktionärsten Ackerbaudistrikte, diese Partei steht heute auf dem Punkt, wo sie mit fast mathematisch genauer Berechnung die Zeit bestimmen kann, in der sie zur Herrschaft kommt.
Die Zahl der sozialistischen Stimmen war
1871 . . . 101927 1884 . . . 549990
1874 . . . 351670 1887 . . . 763128
1877 . . . 493447 1890 . . .1427298
Nun hat die Regierung seit den letzten Wahlen ihr Menschenmögliches getan, um die Volksmassen dem Sozialismus zuzutreiben: Sie hat die Fachvereine und die Streiks verfolgt, sie hat, selbst unter der jetzigen Teuerung, die Zölle aufrechterhalten, durch die das Brot und das Fleisch des Armen zum Vorteil der großen Grundbesitzer verteuert wird. Bei den Wahlen von 1895 dürfen wir also auf mindestens 2 1/2 Millionen Stimmen rechnen; diese aber würden um 1900 sich auf 3 1/2 bis 4 Millionen steigern. Ein angenehmer »Jahrhundertschluß« für unsre Bourgeois!
Dieser kompakten und stets anschwellenden Masse von Sozialdemokraten gegenüber lehn wir nur gespaltene bürgerliche Parteien. 1890 hatten die Konservativen (beide Fraktionen zusammen) 1377417 Stimmen; die Nationalliberalen 1177807; die Deutschfreisinnigen 1159915; das Zentrum 1342113. Und das bedeutet eine Lage, wo eine solide Partei, die über 2 1/2 Millionen Stimmen verfügt, jede Regierung zur Kapitulation bringen kann.[250]
Die Hauptstärke der deutschen Sozialdemokratie liegt aber keineswegs in der Zahl ihrer Wähler. Bei uns wird man Wähler erst mit 25 Jahren, aber schon mit 20 Soldat. Und da grade die junge Generation es ist, die unsrer Partei ihre zahlreichsten Rekruten liefert, so folgt daraus, daß die deutsche Armee mehr und mehr vom Sozialismus angesteckt wird. Heute haben wir einen Soldaten auf fünf, in wenig Jahren werden wir einen auf drei haben, und gegen 1900 wird die Armee, früher das preußischste Element des Landes, in ihrer Majorität sozialistisch sein. Das rückt heran, unaufhaltsam wie ein Schicksalsschluß. Die Berliner Regierung sieht es kommen, ebensogut wie wir, aber sie ist ohnmächtig. Die Armee entschlüpft ihr.
Wie oft haben die Bourgeois uns nicht zugemutet, wir sollten unter allen Umständen auf den Gebrauch revolutionärer Mittel verzichten und innerhalb der gesetzlichen Grenzen bleiben, jetzt, da das Ausnahmsgesetz gefallen, das gemeine Recht wiederhergestellt ist für alle, auch für die Sozialisten! Leider sind wir nicht in der Lage, den Herren Bourgeois diesen Gefallen zu tun. Was aber nicht verhindert, daß in diesem Augenblick nicht wir diejenigen sind, die »die Gesetzlichkeit kaputtmacht«. Im Gegenteil, sie arbeitet so vortrefflich für uns, daß wir Narren wären, verletzten wir sie, solange dies so vorangeht. Viel näher liegt die Frage, ob es nicht grade die Bourgeois und ihre Regierung sind, die Gesetz und Recht verletzen werden, um uns durch die Gewalt zu zermalmen? Wir werden das abwarten. Inzwischen: »Schießen Sie gefälligst zuerst, meine Herren« Bourgeois!
Kein Zweifel, sie werden zuerst schießen. Eines schönen Morgens werden die deutschen Bourgeois und ihre Regierung müde werden, der alles überströmenden Springflut des Sozialismus mit verschränkten Armen zuzuschauen; sie werden Zuflucht suchen bei der Ungesetzlichkeit, der Gewalttat. Was wird's nützen? Die Gewalt kann eine kleine Sekte auf einem beschränkten Gebiet erdrücken; aber die Macht soll noch entdeckt werden, die eine über ein ganzes großes Reich ausgebreitete Partei von über zwei oder drei Millionen Menschen auszurotten imstande ist. Die kontrerevolutionäre, momentane Übermacht kann den Triumph des Sozialismus vielleicht um einige Jahre verzögern, aber nur, damit er dann um so vollständiger und endgültiger wird.[251]
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