I

[40] Die deutsche sozialistische Literatur wird von Monat zu Monat schlechter. Sie beschränkt sich immer mehr auf die breiten Expektorationen jener wahren Sozialisten, deren ganze Weisheit sich auf ein Amalgam deutscher Philosophie und deutsch-biedermännischer Sentimentalität mit einigen verkümmerten kommunistischen Stichwörtern beläuft. Sie trägt eine Friedlichkeit zur Schau, die ihr sogar möglich macht, unter Zensur ihre tiefste Herzensmeinung zu sagen. Selbst die deutsche Polizei findet wenig an ihr auszusetzen – Beweis genug, daß sie nicht zu den progressiven, revolutionären, sondern zu den stabilen, reaktionären Elementen der deutschen Literatur gehört.

Zu diesen wahren Sozialisten gehören nicht nur diejenigen, die sich par excellence Sozialisten nennen, sondern auch der größte Teil der Schriftsteller in Deutschland, die den Parteinamen Kommunisten akzeptiert haben. Letztere sind sogar womöglich noch schlimmer.

Es versteht sich unter diesen Umständen von selbst, daß diese soi-disant kommunistischen Schriftsteller die Partei der deutschen Kommunisten keineswegs vertreten. Weder sind sie von der Partei als ihre literarischen Repräsentanten anerkannt, noch repräsentieren sie ihre Interessen. Sie nehmen im Gegenteil ganz andre Interessen wahr, sie verteidigen ganz andre Prinzipien, die denen der kommunistischen Partei in jeder Beziehung entgegengesetzt sind.

Die wahren Sozialisten, wozu wie gesagt auch die meisten deutschen soi-disant kommunistischen Schriftsteller gehören, haben von den französischen Kommunisten gelernt, daß der Übergang von der absoluten Monarchie zum modernen Repräsentativstaat keineswegs die Not der großen Masse des Volks[40] aufhebt, sondern nur eine neue Klasse, die Bourgeoisie, zur Herrschaft bringt. Sie haben ferner von ihnen gelernt, daß gerade diese Bourgeoisie vermittelst ihrer Kapitalien am meisten auf die Masse des Volks drückt und deshalb der Gegner par excellence der Kommunisten, resp. Sozialisten, als der Repräsentanten der Masse des Volks ist. Sie haben sich nicht die Mühe gegeben, die gesellschaftliche und politische Entwicklungsstufe Deutschlands mit der von Frankreich zu vergleichen oder die in Deutschland faktisch vorliegenden Bedingungen zu studieren, von denen alle weitere Entwicklung abhängt; sie haben die im Fluge erworbenen Kenntnisse flugs und ohne langes Besinnen nach Deutschland übertragen. Wären sie Parteimänner gewesen, die auf ein praktisches, handgreifliches Resultat hinarbeiteten, die bestimmte, einer ganzen Klasse gemeinsame Interessen vertreten, so hätten sie wenigstens beachtet, wie die Gegner der Bourgeoisie in Frankreich, von den Redakteuren der »Réforme« bis zu den Ultrakommunisten, wie namentlich der anerkannte Repräsentant der großen Masse der französischen Proletarier, der alte Cabet, sich in seiner Polemik gegen die Bourgeoisie benimmt. Es hätte ihnen schon auffallen müssen, daß diese Parteirepräsentanten sich nicht nur fortwährend auf die Tagespolitik einlassen, sondern selbst politische Maßregeln, z.B. Wahlreformvorschläge, die oft für das Proletariat kein direktes Interesse haben, dennoch ganz anders als mit souveräner Verachtung behandeln. Aber unsre wahren Sozialisten sind keine Parteimänner, sondern deutsche Theoretiker. Es handelt sich für sie nicht um praktische Interessen und Resultate, sondern um die ewige Wahrheit. Die Interessen, die sie zu vertreten streben, sind die »des Menschen«, die Resultate, denen sie nachjagen, beschränken sich auf philosophische »Errungenschaften«. So brauchten sie ihre neuen Aufklärungen nur mit ihrem eignen philosophischen Gewissen in Einklang zu bringen, um alsdann vor ganz Deutschland auszuposaunen, daß politischer Fortschritt wie alle Politik vom Übel sei, daß namentlich die konstitutionelle Freiheit die dem Volk gefährlichste Klasse, die Bourgeoisie, auf den Thron erhebe und daß die Bourgeoisie überhaupt nicht genug angegriffen werden könne.

In Frankreich herrscht die Bourgeoisie seit siebzehn Jahren so vollständig wie in keinem andern Lande der Welt. Die Angriffe der französischen Proletarier, ihrer Parteichefs und literarischen Repräsentanten auf die Bourgeoisie waren also Angriffe auf die herrschende Klasse, auf das bestehende politische System, sie waren entschieden revolutionäre Angriffe. Wie gut die herrschende Bourgeoisie dies weiß, beweisen die zahllosen Preßprozesse und Verbindungsprozesse, die Aufhebungen von Versammlungen und Banketts, die hundert Polizeischikanen, womit sie die Reformisten und Kommunisten verfolgt.[41] In Deutschland ist das alles anders. In Deutschland ist die Bourgeoisie nicht nur nicht an der Herrschaft, sie ist sogar die gefährlichste Feindin der existierenden Regierungen. Diesen kam die Diversion der wahren Sozialisten gerade recht. Der Kampf gegen die Bourgeoisie, der den französischen Kommunisten nur zu oft Gefängnis oder Exil zuzog, zog unsern wahren Sozialisten nichts anders zu als das Imprimatur. Die revolutionäre Hitze der französischen Proletarierpolemik schwand in der kühlen Brust der deutschen Theoretiker zur lauen Zensurmäßigkeit herab und war in diesem Zustande der Entmannung den deutschen Regierungen ein ganz willkommener Bundesgenosse gegen die andrängende Bourgeoisie. Der wahre Sozialismus hatte es fertiggebracht, die revolutionärsten Sätze, die je aufgestellt wurden, zu einem Schutzwall für den Morast des deutschen Status quo zu verwenden. Der wahre Sozialismus ist durch und durch reaktionär.

Die Bourgeoisie hat diese reaktionäre Tendenz des wahren Sozialismus längst gemerkt. Sie hat aber diese Richtung ohne weiteres für die literarische Repräsentantin auch des deutschen Kommunismus genommen und den Kommunisten öffentlich und privatim vorgeworfen, daß sie mit ihrer Polemik gegen Repräsentativverfassung, Geschwornengerichte, Preßfreiheit, mit ihrem Geschrei gegen die Bourgeoisie nur den Regierungen, der Bürokratie, dem Adel in die Hände arbeiteten.

Es ist hohe Zeit, daß die deutschen Kommunisten endlich diese ihnen zugemutete Verantwortlichkeit für die reaktionären Taten und Gelüste der wahren Sozialisten ablehnen. Es ist hohe Zeit, daß die deutschen Kommunisten, die das deutsche Proletariat mit seinen sehr deutlichen, sehr handgreiflichen Bedürfnissen repräsentieren, sich aufs allerentschiedenste trennen von jener literarischen Clique – denn weiter ist sie nichts –, die selbst nicht weiß, wen sie repräsentiert, und deshalb wider Willen den deutschen Regierungen in die Arme taumelt, die »den Menschen zu realisieren« glaubt und nichts realisiert als die Vergötterung des deutschen Bürgerjammers. In der Tat, wir Kommunisten haben nichts gemein mit den theoretischen Hirngespinsten und Gewissensskrupeln dieser spitzfindigen Gesellschaft. Unsre Angriffe auf die Bourgeoisie unterscheiden sich ebensosehr von denen der wahren Sozialisten, wie sie sich von denen des reaktionären Adels, z.B. der französischen Legitimisten oder des jungen Englands, unterscheiden. Unsre Angriffe kann der deutsche Status quo gar nicht exploitieren, weil sie sich noch viel mehr gegen ihn als gegen die Bourgeoisie richten. Wenn die Bourgeoisie, sozusagen, unser natürlicher Feind, der Feind ist, dessen Sturz unsre Partei zur Herrschaft bringt, so ist der deutsche Status quo noch viel mehr unser Feind, weil er zwischen der Bourgeoisie und uns steht, weil er uns[42] hindert, der Bourgeoisie auf den Leib zu rücken. Darum schließen wir uns auch keineswegs aus von der großen Masse der Opposition gegen den deutschen Status quo. Wir bilden nur ihre avancierteste Fraktion – eine Fraktion, die zugleich durch ihre unverhohlene arrière-pensée gegen die Bourgeoisie eine ganz bestimmte Stellung einnimmt.

Mit der Zusammenkunft des preußischen Vereinigten Landtags tritt in dem Kampf gegen den deutschen Status quo ein Wendepunkt ein. Von dem Auftreten dieses Landtags hängt das Fortbestehen oder der Untergang dieses Status quo ab. Die noch sehr unklaren, durcheinanderwogenden und durch ideologische Spitzfindigkeiten zersplitterten Parteien in Deutsch land sind hiermit in die Notwendigkeit versetzt, sich über die Interessen, die sie repräsentieren, über die Taktik, die sie befolgen müssen, aufzuklären, sich zu sondern und praktisch zu werden. Die jüngste dieser Parteien, die kommunistische, kann sich dieser Notwendigkeit nicht entziehen. Sie ebenfalls muß sich über ihre Stellung, über ihren Feldzugsplan, über ihre Mittel klarwerden, und der erste Schritt dazu ist die Desavouierung der sich an sie herandrängenden reaktionären Sozialisten. Sie kann diesen Schritt um so eher tun, als sie stark genug ist, um den Beistand aller kompromittierlichen Bundesgenossen zurückweisen zu dürfen.

Quelle:
Karl Marx, Friedrich Engels: Werke. Berlin 1959, Band 4, S. 40-43.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Kleist, Heinrich von

Robert Guiskard. Fragment

Robert Guiskard. Fragment

Das Trauerspiel um den normannischen Herzog in dessen Lager vor Konstantinopel die Pest wütet stellt die Frage nach der Legitimation von Macht und Herrschaft. Kleist zeichnet in dem - bereits 1802 begonnenen, doch bis zu seinem Tode 1811 Fragment gebliebenen - Stück deutliche Parallelen zu Napoleon, dessen Eroberung Akkas 1799 am Ausbruch der Pest scheiterte.

30 Seiten, 3.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon