Dialektik

[348] (Allgemeine Natur der Dialektik als Wissenschaft von den Zusammenhängen im Gegensatz zur Metaphysik zu entwickeln.)


Es ist also die Geschichte der Natur wie der menschlichen Gesellschaft, aus der die Gesetze der Dialektik abstrahiert werden. Sie sind eben nichts andres als die allgemeinsten Gesetze dieser beiden Phasen der geschichtlichen Entwicklung sowie des Denkens selbst. Und zwar reduzieren sie sich der Hauptsache nach auf drei:

das Gesetz des Umschlagens von Quantität in Qualität und umgekehrt;

das Gesetz von der Durchdringung der Gegensätze;

das Gesetz von der Negation der Negation.

Alle drei sind von Hegel in seiner idealistischen Weise als bloße Denkgesetze entwickelt: das erste im ersten Teil der »Logik«, in der Lehre vom Sein; das zweite füllt den ganzen zweiten und weitaus bedeutendsten Teil seiner »Logik« aus, die Lehre vom Wesen; das dritte endlich figuriert als Grundgesetz für den Aufbau des ganzen Systems. Der Fehler liegt darin, daß diese Gesetze als Denkgesetze der Natur und Geschichte aufoktroyiert, nicht aus ihnen abgeleitet werden. Daraus entsteht dann die ganze gezwungene und oft haarsträubende Konstruktion: Die Welt, sie mag wollen oder nicht, soll sich nach einem Gedankensystem einrichten, das selbst wieder nur das Produkt einer bestimmten Entwicklungsstufe des menschlichen Denkens ist. Kehren wir die Sache um, so wird alles einfach und die in der idealistischen Philosophie äußerst geheimnisvoll aussehenden dialektischen Gesetze werden sofort einfach und sonnenklar.[348]

Wer übrigens seinen Hegel nur einigermaßen kennt, der wird auch wissen, daß Hegel an Hunderten von Stellen aus Natur und Geschichte die schlagendsten Einzelbelege für die dialektischen Gesetze zu geben versteht.

Wir haben hier kein Handbuch der Dialektik zu verfassen, sondern nur nachzuweisen, daß die dialektischen Gesetze wirkliche Entwicklungsgesetze der Natur, also auch für die theoretische Naturforschung gültig sind. Wir können daher auf den innern Zusammenhang jener Gesetze unter sich nicht eingehn.


I. Gesetz vom Umschlagen von Quantität in Qualität und umgekehrt. Dies können wir für unsern Zweck dahin ausdrücken, daß in der Natur, in einer für jeden Einzelfall genau feststehenden Weise, qualitative Änderungen nur stattfinden können durch quantitativen Zusatz oder quantitative Entziehung von Materie oder Bewegung (sog. Energie).

Alle qualitativen Unterschiede in der Natur beruhen entweder auf verschiedner chemischer Zusammensetzung oder auf verschiednen Mengen resp. Formen von Bewegung (Energie) oder, was fast immer der Fall, auf beiden. Es ist also unmöglich, ohne Zufuhr resp. Hinwegnahme von Materie oder von Bewegung, d.h. ohne quantitative Änderung des betreffenden Körpers, seine Qualität zu ändern. In dieser Form erscheint also der mysteriöse Hegelsche Satz nicht nur ganz rationell, sondern selbst ziemlich einleuchtend.

Es ist wohl kaum nötig, darauf hinzuweisen, daß auch die verschiednen allotropischen und Aggregatzustände der Körper, weil auf verschiedner Molekulargruppierung, auf größeren oder geringeren dem Körper mitgeteilten Mengen von Bewegung beruhen.

Aber der Formwechsel der Bewegung oder sog. Energie? Wenn wir Wärme in mechanische Bewegung verändern, oder umgekehrt, da wird doch die Qualität verändert und die Quantität bleibt dieselbe? Ganz richtig. Aber Formwechsel der Bewegung ist wie Heines Laster: Tugendhaft kann jeder für sich sein, zum Laster gehören immer zwei. Formwechsel der Bewegung ist immer ein Vorgang, der zwischen mindestens zwei Körpern erfolgt, von denen der eine ein bestimmtes Quantum Bewegung dieser Qualität (z.B. Wärme) verliert, der andre ein entsprechendes Quantum Bewegung jener Qualität (mechanische Bewegung, Elektrizität, chemische Zersetzung) empfängt. Quantität und Qualität entsprechen sich hier also beiderseits und gegenseitig. Bisher ist es noch nicht gelungen, innerhalb eines einzelnen isolierten Körpers Bewegung aus einer Form in eine andre zu verwandeln.[349]

Es ist hier zunächst nur die Rede von leblosen Körpern; für lebende gilt dasselbe Gesetz, geht aber unter sehr verwickelten Bedingungen vor sich, und die quantitative Messung ist uns heute oft noch unmöglich.

Wenn wir uns einen beliebigen leblosen Körper in immer kleinere Teile zerteilt vorstellen, so tritt zunächst keine qualitative Änderung ein. Aber das hat seine Grenze: Gelingt es uns, wie bei der Verdunstung, die einzelnen Moleküle frei darzustellen, so können wir zwar diese meist auch noch weiter zerteilen, jedoch nur unter vollständiger Änderung der Qualität. Das Molekül zerfällt in seine einzelnen Atome, und diese haben ganz andre Eigenschaften als jene. Bei Molekülen, die aus verschiednen chemischen Elementen zusammengesetzt waren, treten an die Stelle des zusammengesetzten Moleküls Atome oder Moleküle dieser Elemente selbst; bei Elementarmolekülen erscheinen die freien Atome, die ganz verschiedne qualitative Wirkungen ausüben: Die freien Atome des naszenten Sauerstoffs erwirken spielend, was die im Molekül gebundnen des atmosphärischen nie fertigbringen.

Aber auch schon das Molekül ist von der Körpermasse, der es angehört, qualitativ verschieden. Es kann Bewegungen vollführen unabhängig von ihr, und während sie scheinbar in Ruhe bleibt, z.B. Wärmeschwingungen; es kann vermittelst Änderung der Lage und des Zusammenhangs mit den Nachbarmolekülen den Körper in einen andern allotropischen oder Aggregatzustand versetzen usw.

Wir sehn also, daß die rein quantitative Operation der Teilung eine Grenze hat, an der sie in einen qualitativen Unterschied umschlägt: Die Masse besteht aus lauter Molekülen, ist aber etwas wesentlich vom Molekül Verschiednes, wie dieses wieder vom Atom. Es ist dieser Unterschied, auf dem die Trennung der Mechanik, als Wissenschaft von den himmlischen und irdischen Massen, von der Physik, als der Mechanik der Moleküle, und der Chemie, als der Physik der Atome, beruht.

In der Mechanik kommen keine Qualitäten vor, höchstens Zustände wie Gleichgewicht, Bewegung, potentielle Energie, die alle auf meßbarer Übertragung von Bewegung beruhen und selbst quantitativ ausdrückbar sind. Soweit also hier qualitative Änderung stattfindet, soweit ist sie bedingt durch quantitative entsprechende Änderung.

In der Physik werden die Körper chemisch unveränderlich oder indifferent behandelt; wir haben es mit den Veränderungen ihrer Molekularzustände zu tun und mit dem Formwechsel der Bewegung, der in allen Fällen, wenigstens auf einer der beiden Seiten, die Moleküle ins Spiel bringt. Hier ist jede Veränderung ein Umschlagen von Quantität in Qualität, eine[350] Folge quantitativer Veränderung der dem Körper innewohnenden oder mitgeteilten Bewegungsmenge irgendwelcher Form.

»So ist z.B. der Temperaturgrad des Wassers zunächst gleichgültig in Beziehung auf dessen tropfbare Flüssigkeit; es tritt dann aber beim Vermehren oder Vermindern der Temperatur des flüssigen Wassers ein Punkt ein, wo dieser Kohäsionszustand sich ändert und das Wasser einerseits in Dampf und andrerseits in Eis verwandelt wird.« (Hegel »Enzykl.«, Gesamtausg., Bd. VI, S.217.)

So gehört eine bestimmte Minimalstromstärke dazu, den Platindraht des elektrischen Glühlichts zum Glühen zu bringen; so hat jedes Metall seine Glüh- und Schmelzwärme, so jede Flüssigkeit ihren bei bekanntem Druck feststehenden Gefrier- und Siedepunkt – soweit unsre Mittel uns erlauben, die betreffende Temperatur hervorzubringen; so endlich auch jedes Gas seinen kritischen Punkt, wo Druck und Abkühlung es tropfbar flüssig machen. Mit einem Wort: Die sogenannten Konstanten der Physik sind großenteils nichts andres als Bezeichnungen von Knotenpunkten, wo quantitative VeränderungA12 Zufuhr oder Entziehung von Bewegung qualitative Änderung im Zustand des betreffenden Körpers hervorruft, wo also Quantität in Qualität umschlägt.

Das Gebiet jedoch, auf dem das von Hegel entdeckte Naturgesetz seine gewaltigsten Triumphe feiert, ist das der Chemie. Man kann die Chemie bezeichnen als die Wissenschaft von den qualitativen Veränderungen der Körper infolge veränderter quantitativer Zusammensetzung. Das wußte schon Hegel selbst (»Logik«, Gesamtausg., III, S.433). Gleich der Sauerstoff: Vereinigen sich drei Atome zu einem Molekül, statt der gewöhnlichen zwei, so haben wir Ozon, einen Körper, der durch Geruch und Wirkung von gewöhnlichem Sauerstoff sehr bestimmt verschieden. Und gar die verschiednen Verhältnisse, in denen Sauerstoff sich mit Stickstoff oder Schwefel verbindet, und deren jedes einen von allen andern qualitativ verschiednen Körper bildet! Wie verschieden ist Lachgas (Stickstoffmonoxyd N2O) von Salpetersäureanhydrid (Stickstoffpentoxyd N2O5)! Das erste ein Gas, das zweite bei gewöhnlicher Temperatur ein fester kristallinischer Körper. Und doch ist der ganze Unterschied der Zusammensetzung der, daß das zweite fünfmal soviel Sauerstoff enthält als das erste, und zwischen beiden liegen noch drei andre Oxyde des Stickstoffs (NO, N2O3, NO2), die alle von jenen beiden und unter sich qualitativ verschieden sind.

Noch schlagender tritt dies hervor an den homologen Reihen der Kohlenstoffverbindungen, namentlich der einfacheren Kohlenwasserstoffe.[351] Von den normalen Paraffinen ist das niedrigste Methan, CH4; hier sind die vier Verbindungseinheiten des Kohlenstoffatoms mit vier Atomen Wasserstoff gesättigt. Das zweite, Äthan C2H6, hat 2 Atome Kohlenstoff unter sich verbunden und die freien 6 Verbindungseinheiten mit 6 Atomen Wasserstoff gesättigt. So geht es fort C3H8, C4H10, usw. nach der algebraischen Formel CnH2n+2, so daß durch Zusatz von je CH2 jedesmal ein von dem früheren qualitativ verschiedner Körper gebildet wird. Die drei niedrigsten Glieder der Reihe sind Gase, das höchste bekannte, das Hekdekan C16H34, ist ein fester Körper mit dem Siedepunkt 278 Grad C. Ganz ebenso verhält sich die Reihe der von den Paraffinen (theoretisch) abgeleiteten primären Alkohole von der Formel CnH2n+2O und der einbasischen fetten Säuren (Formel CnH2nO2). Welchen qualitativen Unterschied der quantitative Zusatz von C3H6 hervorbringen kann, lehrt die Erfahrung, wenn wir Äthylalkohol C2H6O in irgendeiner genießbaren Form ohne Beimischung andrer Alkohole verzehren, und wenn wir ein andres Mal denselben Äthylalkohol zu uns nehmen, aber mit einem geringen Zusatz von Amylalkohol C5H12O, der den Hauptbestandteil des infamen Fuselöls bildet. Unser Kopf wird das am nächsten Morgen sicher gewahr, und zu seinem Schaden; so daß man sogar sagen könnte, der Rausch und nachher der Katzenjammer sei ebenfalls in Qualität umgeschlagene Quantität, einerseits von Äthylalkohol, andrerseits von diesem zugesetzten C3H6.

Bei diesen Reihen tritt uns das Hegelsche Gesetz indes noch in einer andern Form entgegen. Die unteren Glieder lassen nur eine einzige gegenseitige Lagerung der Atome zu. Erreicht aber die Anzahl der zu einem Molekül verbundenen Atome eine für jede Reihe bestimmte Größe, so kann die Gruppierung der Atome im Molekül in mehrfacher Weise stattfinden; es können also zwei oder mehrere isomere Körper auftreten, die gleichviel Atome C, H, O im Molekül haben, aber dennoch qualitativ verschieden sind. Wir können sogar berechnen, wieviel solcher Isomerien für jedes Glied der Reihe möglich sind. So in der Paraffinreihe für C4H10 zwei, für C5H12 drei; bei den höheren Gliedern steigt die Zahl der möglichen Isomerien sehr rasch. Es ist also wieder die quantitative Anzahl der Atome im Molekül, die die Möglichkeit und, soweit sie nachgewiesen, auch die wirkliche Existenz solcher qualitativ verschiednen isomeren Körper bedingt.

Noch mehr. Aus der Analogie der uns in jeder dieser Reihen bekannten Körper können wir auf die physikalischen Eigenschaften der noch unbekannten Glieder der Reihe Schlüsse ziehn und wenigstens für die den bekannten zunächst folgenden Glieder diese Eigenschaften, Siedepunkt usw., mit ziemlicher Sicherheit vorhersagen.[352]

Endlich aber gilt das Hegelsche Gesetz nicht nur für die zusammengesetzten Körper, sondern auch für die chemischen Elemente selbst. Wir wissen jetzt,

»daß die chemischen Eigenschaften der Elemente eine periodische Funktion der Atomgewichte sind« (Roscoe-Schorlemmer, »Ausführliches Lehrbuch der Chemie«, II. Bd., S.823),

daß also ihre Qualität bedingt ist durch die Quantität ihres Atomgewichts. Und die Probe hierauf ist glänzend gemacht worden. Mendelejew wies nach, daß in den nach den Atomgewichten angeordneten Reihen verwandter Elemente verschiedene Lücken sich vorfinden, die darauf hindeuten, daß hier noch neue Elemente zu entdecken sind. Eins dieser unbekannten Elemente, das er Ekaaluminium nannte, weil es in der mit Aluminium anfangenden Reihe auf dieses folgt, beschrieb er nach seinen allgemeinen chemischen Eigenschaften im voraus, und sagte sein spezifisches und Atomgewicht wie sein Atomvolum annähernd vorher. Wenige Jahre später entdeckte Lecoq de Boisbaudran dies Element wirklich, und die Vorausbestimmungen Mendelejews trafen bis auf ganz geringe Abweichungen zu. Das Ekaaluminium war realisiert im Gallium (ebendaselbst, S. 828). Vermittelst der – unbewußten – Anwendung des Hegelschen Gesetzes vom Umschlagen der Quantität in Qualität war Mendelejew eine wissenschaftliche Tat gelungen, die sich der Leverriers in der Berechnung der Bahn des noch unbekannten Planeten Neptun kühn an die Seite stellen darf.

In der Biologie wie in der Geschichte der menschlichen Gesellschaft bewährt sich dasselbe Gesetz auf jedem Schritt, doch wollen wir hier bei Beispielen aus den exakten Wissenschaften bleiben, da hier die Quantitäten genau meßbar und verfolgbar sind.

Wahrscheinlich werden dieselben Herren, die bisher das Umschlagen von Quantität in Qualität als Mystizismus und unverständlichen Transzendentalismus verschrien haben, jetzt erklären, es sei ja etwas ganz Selbstverständliches, Triviales und Plattes, das sie seit langer Zeit angewandt hätten, und somit werde ihnen gar nichts Neues gelehrt. Ein allgemeines Gesetz der Natur-, Gesellschafts- und Denkentwicklung zum erstenmal in seiner allgemein geltenden Form ausgesprochen zu haben, das bleibt aber immer eine weltgeschichtliche Tat. Und wenn die Herren seit Jahren Quantität und Qualität haben ineinander umschlagen lassen, ohne zu wissen, was sie taten, so werden sie sich trösten müssen mit Moliéres Monsieur Jourdain, der auch sein Leben lang Prosa gesprochen hatte, ohne das geringste davon zu ahnen.[353]

A12

Das Wort »Veränderung« ist im Manuskript gestrichen.

Quelle:
Karl Marx, Friedrich Engels: Werke. Berlin 1962, Band 20, S. 348-354.
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