[485] Unmittelbar nach dem Straßenkampf von Alcoy erhoben sich die Intransigenten in Andalusien. Noch war Pí y Margall am Ruder und in steter Verhandlung mit den Chefs dieser Partei, um aus ihnen ein Ministerium zu bilden; warum also losschlagen, ehe die Verhandlungen gescheitert? Der Grund dieser Übereilung ist nie ganz klargeworden; soviel aber ist sicher, daß den Herren Intransigenten es vor allen Dingen um schnellstmögliche praktische Durchführung der bundesstaatlichen Republik zu tun war, damit sie in den Besitz der Macht und der vielen neu zu schaffenden Regierungsposten in den einzelnen Kantonen kämen. Die Cortes in Madrid zögerten zu lange mit der Zerschlagung Spaniens; man mußte also selbst Hand anlegen und überall souveräne Kantone ausrufen. Die bisherige Haltung der (bakunistischen) Internationale, die in die intransigentistischen Händel seit den Wahlen tief verwickelt war, ließ auf deren Mitwirkung rechnen; hatten sie doch eben von Alcoy gewaltsamen Besitz genommen und waren also im offenen Kampf mit der Regierung! Dazu kam, daß die Bakunisten seit Jahren gepredigt hatten, jede revolutionäre Aktion von oben nach unten sei verderblich, alles müsse von unten nach oben organisiert und durchgesetzt werden. Und jetzt bot sich die Gelegenheit, das berühmte Prinzip der Selbstherrlichkeit, wenigstens für die einzelnen Städte, von unten nach oben durchzusetzen! Es war nicht anders möglich: Die bakunistischen Arbeiter gingen auf den Leim und holten den Intransigenten die Kastanien aus dem Feuer, um nachher von diesen ihren Bundesgenossen, wie immer, mit Fußtritten und Flintenkugeln abgelohnt zu werden.
Was war nun die Stellung der bakunistischen Internationalen in dieser ganzen Bewegung? Sie hatten ihr den Charakter der föderalistischen Zersplitterung geben helfen, sie hatten ihr Ideal der Anarchie, soweit es möglich war, verwirklicht. Dieselben Bakunisten, die in Córdoba wenige Monate vorher die Errichtung revolutionärer Regierungen für Verrat und Prellerei der Arbeiter erklärt hatten, sie saßen jetzt in allen revolutionären städtischen Regierungen Andalusiens – aber überall in der Minderzahl, so daß die[485] Intransigenten tun konnten, was sie wollten. Während diese letztern die politische und militärische Leitung behielten, wurden die Arbeiter mit pomphaften Redensarten abgefertigt oder mit angeblichen sozialen Reformbeschlüssen von der rohesten und sinnlosesten Art, die zudem nur eine papierne Existenz hatten. Sobald die bakunistischen Führer wirkliche Zugeständnisse verlangten, wurden sie schnöde abgewiesen. Den englischen Zeitungskorrespondenten gegenüber hatten die Intransigenten Leiter der Bewegung nichts Wichtigeres zu tun, als jeden Zusammenhang mit diesen sogenannten Internationalen und jede Verantwortlichkeit für sie abzulehnen und zu erklären, daß sie deren Chefs sowie alle anwesenden Pariser Kommuneflüchtlinge unter schärfster Polizeiaufsicht hielten. Endlich, wie wir sehn werden, in Sevilla, schossen die Intransigenten, während des Kampfes gegen die Regierungstruppen, auch auf ihre bakunistischen Bundesgenossen.
So kam es, daß in wenigen Tagen ganz Andalusien in den Händen der bewaffneten Intransigenten war. Sevilla, Málaga, Granada, Cádiz usw. fielen ihnen fast ohne Widerstand in die Hände. Jede Stadt erklärte sich für einen souveränen Kanton und setzte einen revolutionären Regierungsausschuß (Junta) ein. Murcia, Cartagena, Valencia folgten. In Salamanca wurde ein ähnlicher Versuch, doch mehr friedlicher Natur, gemacht. Es waren also die meisten großen Städte Spaniens im Besitz der Insurgenten, mit Ausnahme der Hauptstadt Madrid, einer reinen Luxusstadt, die fast nie entscheidend eingreift, und Barcelonas. Hätte Barcelona losgeschlagen, so war der Enderfolg fast gewiß und daneben dem Arbeiterelement in der Bewegung ein mächtiger Rückhalt gesichert. Aber wir haben gesehn, daß die Intransigenten in Barcelona ziemlich ohnmächtig waren, während die zu jener Zeit dort noch sehr mächtigen bakunistischen Internationalen den allgemeinen Strike zum Vorwand nahmen, um abzuwiegeln. Barcelona war also diesmal nicht auf seinem Posten.
Trotzdem hatte der, wenn auch hirnlos eingeleitete, Aufstand immer noch große Aussicht auf Erfolg, wäre er nur mit einigem Verstand geleitet worden, selbst nur nach der Weise der spanischen Militärrevolten, wo die Garnison einer Stadt sich erhebt, zur nächsten zieht, die schon vorher bearbeitete Garnison dieser Stadt mit sich fortreißt und lawinenartig anschwellend gegen die Hauptstadt vordringt, bis ein glückliches Gefecht oder der Übertritt der gegen sie gesandten Truppen den Sieg entscheidet. Diese Methode war diesmal ganz besonders anwendbar. Die Insurgenten waren[486] überall seit längerer Zeit in Freiwilligenbataillone organisiert, deren Disziplin zwar erbärmlich war, aber sicher nicht erbärmlicher als die der Reste der alten, größtenteils auseinandergegangnen spanischen Armee. Die einzig zuverlässigen Truppen der Regierung waren die Gensdarmen (guardias civiles), und diese waren über das ganze Land zerstreut. Es kam vor allem darauf an, die Zusammenziehung der Gensdarmen zu verhindern, und dies konnte nur geschehn, indem man angriffsweise verfuhr und sich aufs offne Feld wagte; viel Gefahr war nicht dabei, da die Regierung den Freiwilligen nur ebenso undisziplinierte Truppen entgegenstellen konnte, wie sie selbst waren. Und wollte man siegen, so gab's kein andres Mittel.
Aber nein. Die Bundesstaatlichkeit der Intransigenten und ihres bakunistischen Schwanzes bestand grade darin, daß jede Stadt auf eigne Faust handelte, nicht das Zusammenwirken mit den andern Städten, sondern die Trennung von ihnen für die Hauptsache erklärte und damit jede Möglichkeit eines allgemeinen Angriffs abschnitt. Was im deutschen Bauernkrieg und in den deutschen Aufständen vom Mai 1849 ein unvermeidliches Übel war – die Zersplitterung und Vereinzelung der revolutionären Kräfte, die denselben Regierungstruppen erlaubte, einen Aufstand nach dem andern niederzuschlagen, – das wurde hier als Prinzip der höchsten revolutionären Weisheit proklamiert. Diese Genugtuung hat Bakunin erlebt. Er hatte schon im September 1870 (»Lettres à un Français«) erklärt, das einzige Mittel, durch einen Revolutionskampf die Preußen aus Frankreich zu werfen, bestehe darin, alle zentralisierte Leitung abzuschaffen und es jeder Stadt, jedem Dorf, jeder Gemeinde zu überlassen, den Krieg auf eigne Faust zu führen. Wenn man so dem einheitlich geführten preußischen Heere die Entfesselung der revolutionären Leidenschaften entgegensetze, so sei der Sieg gewiß. Dem endlich wieder einmal sich selbst überlassenen Gesamtverstande des französischen Volkes gegenüber müsse der Einzelverstand Moltkes natürlich verschwinden. Die Franzosen wollten dies damals nicht einsehn; aber in Spanien hat Bakunin einen glänzenden Triumph gefeiert, wie wir gesehn haben und noch weiter sehn werden.
Inzwischen hatte diese ohne jeden Vorwand aus der Pistole geschossene Erhebung es Pí y Margall unmöglich gemacht, weiter mit den Intransigenten zu verhandeln. Er mußte abtreten; an seiner Stelle kamen die reinen Republikaner von der Sorte Castelars ans Ruder, Bourgeois ohne Verhüllung, deren erstes Ziel war, der früher von ihnen benutzten, aber jetzt für sie hinderlichen Arbeiterbewegung den Garaus zu machen. Eine Division wurde unter General Pavía gegen Andalusien, eine zweite unter Campos[487] gegen Valencia und Cartagena zusammengezogen. Den Kern bildeten die aus ganz Spanien versammelten Gensdarmen, lauter alte Soldaten, deren Disziplin noch unerschüttert war. Wie bei den Angriffen der Versailler Armee gegen Paris sollten die Gensdarmen auch hier den demoralisierten Linientruppen festen Halt geben und überall die Spitzen der Angriffskolonnen bilden, eine Aufgabe, die sie in beiden Fällen nach Kräften erfüllten. Außer ihnen erhielten die Divisionen noch einige zusammengeschmolzene Linienregimenter, so daß jede von ihnen ungefähr 3000 Mann zählte. Dies war alles, was die Regierung gegen die Insurgenten aufzustellen vermochte.
General Pavía setzte sich gegen den 20. Juli in Bewegung. Am 24. wurde Córdoba von einer Abteilung Gensdarmen und Linie unter Ripoll besetzt. Am 29. griff Pavía das verbarrikadierte Sevilla an, das am 30. oder 31. – die Telegramme lassen diese Daten oft ungewiß – in seine Hände fiel. Er ließ eine fliegende Kolonne zur Unterwerfung der Umgegend zurück und zog gegen Cádiz, dessen Verteidiger nur den Zugang zur Stadt, und auch diesen nur schwach, verteidigten, dann aber sich ohne Widerstand am 4. August entwaffnen ließen. In den folgenden Tagen entwaffnete er, ebenfalls ohne Widerstand, Sanlúcar de Barrameda, San Roque, Tarifa, Algeciras und eine Menge andrer kleiner Städte, deren jede sich als souveräner Kanton konstituiert hatte. Gleichzeitig sandte er Kolonnen gegen Málaga, das am 3., und Granada, das am 8. August ohne Widerstand kapitulierte, so daß am 10. August, nach noch nicht 14 Tagen, und fast ohne Kampf, ganz Andalusien unterworfen war.
Am 26. Juli eröffnete Martinez Campos den Angriff gegen Valencia. Hier war der Aufstand von den Arbeitern ausgegangen. Bei der Spaltung der spanischen Internationale hatten in Valencia die wirklichen Internationalen die Mehrzahl für sich; und der neue Spanische Föderalrat wurde nach dieser Stadt verlegt. Bald nach Proklamierung der Republik, als revolutionäre Kämpfe in Aussicht standen, boten die bakuni stischen Valencianer Arbeiter, der unter ultrarevolutionären Phrasen sich verhüllenden Abwiegelei der Barceloneser Führer mißtrauend, den wirklichen Internationalen an, in allen lokalen Bewegungen mit ihnen zusammenzugehen. Als die kantonale Bewegung ausbrach, schlugen beide, die Intransigenten benutzend, sofort los und vertrieben die Truppen. Wie die Junta von Valencia zusammengesetzt war, ist nicht bekannt geworden; aus den Berichten der englischen Zeitungskorrespondenten geht jedoch hervor, daß in ihr wie in den Valencianer Freiwilligen die Arbeiter entschieden vorherrschten. Dieselben Korrespondenten sprachen von den Valencianer Insurgenten mit einem Respekt, den[488] sie weit entfernt sind, den andern vorherrschend Intransigenten Aufständischen zu widmen; sie rühmten ihre Mannszucht, die in der Stadt herrschende Ordnung und prophezeiten einen langen Widerstand und harten Kampf. Sie täuschten sich nicht. Valencia, eine offene Stadt, hielt aus gegen die Angriffe der Division Campos vom 26. Juli bis zum 8. August, also länger als ganz Andalusien zusammengenommen.
In der Provinz Murcia war die gleichnamige Hauptstadt ohne Widerstand besetzt worden; nach dem Fall Valencias zog Campos gegen Cartagena, eine der stärksten Festungen Spaniens, nach der Landseite von einem zusammenhängenden Wall und vorgeschobenen Forts auf den beherrschenden Höhen geschützt. Die 3000 Mann Regierungstruppen, ohne alles Belagerungsgeschütz, waren mit ihren leichten Feldkanonen gegen die schwere Artillerie der Forts natürlich ohnmächtig und mußten sich auf eine Einschließung der Landseite beschränken; diese aber bedeutete wenig, solange die Cartagineser mit ihrer im Hafen erbeuteten Kriegsflotte die See beherrschten. Die Insurgenten, nur mit sich selbst beschäftigt, während in Valencia und Andalusien gekämpft wurde, dachten erst an die Außenwelt nach Unterdrückung der übrigen Aufstände, als ihnen selbst Geld und Lebensmittel ausgingen. Dann erst wurde ein Versuch gemacht, gegen Madrid vorzurücken, das mindestens 60 deutsche Meilen entfernt liegt, mehr als doppelt so weit als z.B. Valencia und Granada! Die Expedition nahm unsern Cartagena ein klägliches Ende; die Einschließung schob allen weitem Ausfällen zu Lande einen Riegel vor; man warf sich also auf Ausfälle mit der Flotte. Und welche Ausfälle! Von einer neuen Insurgierung der eben erst unterworfnen Seestädte durch die Cartagineser Kriegsschiffe konnte keine Rede sein. Die Flotte des souveränen Kantons Cartagena beschränkte sich also darauf, die übrigen – nach der cartaginesischen Theorie ebenfalls souveränen – Seestädte von Valencia bis Málaga mit dem Bombardement zu bedrohen und nötigenfalls wirklich zu bombardieren, falls sie nicht die verlangten Lebensmittel und eine Kriegskontribution in harten Talern an Bord brachten. Solange diese Städte als souveräne Kantone gegen die Regierung in Waffen standen, galt in Cartagena das Prinzip: Jeder für sich. Sobald sie besiegt waren, sollte das Prinzip gelten: Alle für Cartagena! So verstanden die Intransigenten von Cartagena und ihre bakunistischen Helfershelfer die Bundesstaatlichkeit der souveränen Kantone.
Um die Reihen der Freiheitskämpfer zu verstärken, ließ die Regierung von Cartagena die ungefähr 1800 Baugefangenen los, die im Bagno der Stadt eingekerkert waren – die schlimmsten Räuber und Mörder Spaniens. Daß diese revolutionäre Maßregel ihr von den Bakunisten eingeflüstert war,[489] ist nach den Enthüllungen des Berichts über die Allianz keinem Zweifel mehr unterworfen. Es ist dort nachgewiesen, wie Bakunin für die »Entfesselung aller schlechten Leidenschaften« schwärmt und den russischen Räuber für das Vorbild aller wahren Revolutionäre erklärt. Was dem Russen recht, ist dem Spanier billig. Wenn also die Cartagineser Regierung die »schlechten Leidenschaften« der eingespundeten 1800 Gurgelschneider entfesselte und damit die Demoralisation unter ihren Truppen auf die Spitze trieb, so handelte sie ganz im Geist Bakunins. Und wenn die spanische Regierung, statt ihre eignen Festungswerke in Grund zu schießen, die Unterwerfung Cartagenas von der inneren Zerrüttung der Verteidiger erwartete, so folgte sie einer ganz richtigen Politik.
Buchempfehlung
Die Brüder Atreus und Thyest töten ihren Halbbruder Chrysippos und lassen im Streit um den Thron von Mykene keine Intrige aus. Weißes Trauerspiel aus der griechischen Mythologie ist 1765 neben der Tragödie »Die Befreiung von Theben« das erste deutschsprachige Drama in fünfhebigen Jamben.
74 Seiten, 4.80 Euro
Buchempfehlung
Zwischen 1804 und 1815 ist Heidelberg das intellektuelle Zentrum einer Bewegung, die sich von dort aus in der Welt verbreitet. Individuelles Erleben von Idylle und Harmonie, die Innerlichkeit der Seele sind die zentralen Themen der Hochromantik als Gegenbewegung zur von der Antike inspirierten Klassik und der vernunftgetriebenen Aufklärung. Acht der ganz großen Erzählungen der Hochromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe zusammengestellt.
390 Seiten, 19.80 Euro