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»Past and Present«
by Thomas Carlyle,
London 1843
Unter all den dicken Büchern und dünnen Broschüren, die im vergangenen Jahre zur Belustigung oder Erbauung der »gebildeten Welt« in England erschienen sind, ist die obige Schrift die einzige, die des Lesens wert ist. Alle die bändereichen Romane mit ihren traurigen und lustigen Verwicklungen, alle die erbaulichen und beschaulichen, gelehrten und ungelehrten Kommentare über die Bibel – und Romane und Erbauungsbücher sind die zwei Stapelartikel der englischen Literatur –, alles das könnt ihr ruhig ungelesen lassen. Vielleicht findet ihr einige geologische oder ökonomische, historische oder mathematische Bücher, die ein Körnchen Neues enthalten – aber das sind Sachen, die man studiert, aber nicht liest, das ist trockne Fachwissenschaft, dürre Herbarienwirtschaft, Pflanzen, deren Wurzeln aus dem allgemeinen menschlichen Boden, aus dem sie ihre Nahrung zogen, längst losgerissen sind. Ihr mögt suchen wie ihr wollt, Carlyles Buch ist das einzige, das menschliche Saiten anschlägt, menschliche Verhältnisse darlegt und eine Spur von menschlicher Anschauungsweise entwickelt.
Es ist merkwürdig, wie sehr die höhern Klassen der Gesellschaft, so was der Engländer »respectable people«, »the better sort of people« etc. nennt, in England geistig gesunken und erschlafft sind. Alle Energie, alle Tätigkeit, aller Inhalt sind dahin; der Landadel geht auf die Jagd, der Geldadel schreibt Hauptbücher und, wenn es hoch kommt, treibt sich in einer ebenso leeren und schlaffen Literatur herum. Die politischen und religiösen Vorurteile erben sich von Generation zu Generation fort; man bekommt jetzt alles leicht gemacht und braucht sich gar nicht um Prinzipien mehr zu plagen wie in früheren Zeiten; sie fliegen einem jetzt schon in der Wiege fix und fertig zu, man weiß nicht woher. Was braucht man weiter? Man hat eine gute Erziehung[525] genossen, d.h., man ist in der Schule mit den Römern und Griechen ohne Erfolg geplagt worden, im übrigen ist man »respektabel«, d.h. besitzt soundsoviel Tausend Pfund und hat sich also um weiter gar nichts zu bemühen als um eine Frau, wenn man noch keine hat.
Und nun vollends der Popanz, den die Leute »Geist« nennen! Wo soll in einem solchen Leben Geist herkommen, ja, wenn er käme, wo soll er ein Unterkommen finden bei ihnen? Da ist alles chinesisch festgesetzt und abgezirkelt – wehe dem, der die engen Grenzen überschreitet, wehe, dreimal wehe dem, der gegen ein altehrwürdiges Vorurteil anstößt, neunmal wehe ihm, wenn dies Vorurteil ein religiöses ist. Da gibt es für alle Fragen nur zwei Antworten, eine Whigantwort und eine Toryantwort; und diese Antworten sind von den weisen Oberzeremonienmeistern beider Parteien längst vorgeschrieben, ihr habt gar keine Überlegung und Weitläuftigkeiten nötig, es ist alles fix und fertig, Dicky Cobden oder Lord John Russell hat das gesagt, und Bobby Peel oder der »Herzog« par excellence, nämlich der von Wellington, hat so gesagt, und dabei bleibts.
Ihr guten Deutschen müßt euch alle Jahre von den liberalen Zeitungsschreibern und Volksvertretern vorsagen lassen, was die Engländer für wunderbare Leute und unabhängige Männer seien, und alles das durch ihre freien Institutionen, und das sieht sich aus der Entfernung ganz gut an. Die Debatten der Parlamentshäuser, die freie Presse, die stürmischen Volksversammlungen, die Wahlen, die Juries verfehlen ihren Effekt auf Michels timides Gemüt nicht, und in seiner Verwunderung nimmt er all den schönen Schein für bare Münze. Aber am Ende ist doch der Standpunkt des liberalen Zeitungsschreibers und Volksvertreters noch lang nicht hoch genug, um einen umfassenden Überblick zu gewähren, sei es über die Entwicklung der Menschheit oder auch nur die einer einzigen Nation. Die englische Verfassung ist ihrer Zeit ganz gut gewesen und hat manches Gute getan, ja seit 1828 hat sie angefangen, an ihrer besten Tat, nämlich an ihrer eignen Zerstörung zu arbeiten – aber das, was ihr der Liberale zuschreibt, das hat sie nicht getan. Sie hat die Engländer nicht zu unabhängigen Männern gemacht. Die Engländer, d.h. die gebildeten Engländer, nach denen man auf dem Kontinent den Nationalcharakter beurteilt, diese Engländer sind die verächtlichsten Sklaven unter der Sonne. Nur der auf dem Kontinent unbekannte Teil der englischen Nation, nur die Arbeiter, die Parias Englands, die Armen sind wirklich respektabel, trotz all ihrer Roheit und all ihrer Demoralisation. Von ihnen geht die Rettung Englands aus, in ihnen liegt noch bildsamer Stoff; sie haben keine Bildung, aber auch keine Vorurteile, sie haben noch Kraft aufzuwenden für eine große nationale Tat – sie haben noch eine Zukunft.[526] Die Aristokratie – und diese schließt heutzutage auch die Mittelklassen ein – hat sich erschöpft; was sie von Gedankengehalt aufzuwenden hatte, ist bis in die letzten Konsequenzen verarbeitet und praktisch gemacht, und ihr Reich geht mit großen Schritten seinem Ende entgegen. Die Konstitution ist ihr Werk, und die nächste Folge dieses Werks war, daß es seine Urheber mit einem Netze von Institutionen umgarnte, in dem jede freie geistige Bewegung unmöglich gemacht ist. Die Herrschaft des öffentlichen Vorurteils ist überall die erste Folge sogenannter freier politischer Institutionen, und diese Herrschaft ist in dem politisch freisten Lande Europas, in England, stärker als sonst irgendwo – Nordamerika ausgenommen, wo durch das Lynchgesetz das öffentliche Vorurteil als Macht im Staate gesetzlich anerkannt ist. Der Engländer kriecht vor dem öffentlichen Vorurteil, opfert sich ihm täglich auf – und je liberaler er ist, desto demütiger schmiegt er sich in den Staub vor diesem seinem Götzen. Das öffentliche Vorurteil in den »gebildeten Kreisen« ist aber entweder toryistisch oder whiggisch, höchstens radikal – und das selbst riecht schon nicht mehr ganz fein. Geht einmal unter gebildete Engländer und sagt, ihr seid Chartisten oder Demokraten – man wird an eurem gesunden Verstande zweifeln und eure Gesellschaft fliehen. Oder erklärt, ihr glaubtet nicht an die Gottheit Christi, und ihr seid verraten und verkauft; gesteht vollends, daß ihr Atheisten seid, und man tut am andern Tage, als kenne man euch nicht. Und der unabhängige Engländer, wenn er, was selten genug vorkommt, wirklich einmal zu denken anfängt und die Fesseln des mit der Muttermilch eingesognen Vorurteils abschüttelt, selbst dann hat er nicht den Mut, seine Überzeugung frei herauszusprechen, selbst dann heuchelt er sich für die Öffentlichkeit eine wenigstens tolerierte Meinung an und ist nur zufrieden, wenn er unter vier Augen zuweilen mit einem Gleichgesinnten geradeaus sprechen kann.
So sind die gebildeten Klassen in England allem Fortschritt verschlossen und werden nur durch den Andrang der arbeitenden Klasse noch etwas in Bewegung gehalten. Es ist nicht zu erwarten, daß das literarische tägliche Brot dieser altersschwachen Bildung anders beschaffen sei als sie selbst. Die ganze fashionable Literatur dreht sich in einem ewigen Kreise und ist geradeso langweilig und unfruchtbar wie die blasierte und ausgesogene fashionable Gesellschaft.
Als Strauß' »Leben Jesu« und sein Renommee über den Kanal kam, da wagte es kein anständiger Mann, das Buch zu übersetzen, kein angesehener Buchhändler, es zu drucken. Endlich übersetzte es ein sozialistischer Lecturer (für diesen agitatorischen Kunstausdruck gibt es kein deutsches Wort) – also ein Mann in einer der unfashionabelsten Lebensstellungen von der Welt – ein[527] unbedeutender sozialistischer Buchdrucker druckte es in Heften, jedes zu einem Penny, und die Arbeiter von Manchester, Birmingham und London bildeten das einzige Publikum für Strauß in England.
Wenn übrigens von den beiden Parteien, in die sich der gebildete Teil der Engländer spaltet, eine einen Vorzug verdient, so sind dies die Tories. Der Whig ist bei der sozialen Lage Englands zu sehr selbst Partei, um ein Urteil haben zu können; die Industrie, dieses Zentrum der englischen Gesellschaft, ist in seinen Händen und bereichert ihn; er findet sie tadellos und hält ihre Ausdehnung für den einzigen Zweck aller Gesetzgebung, denn sie hat ihm seinen Reichtum und seine Macht gegeben. Der Tory dagegen, dessen Macht und Alleinherrschaft durch die Industrie gebrochen worden ist, dessen Prinzipien durch sie erschüttert worden sind, haßt sie und sieht in ihr höchstens ein notwendiges Übel. Daher bildete sich jene Sektion philanthropischer Tories, deren Hauptführer Lord Ashley, Ferrand, Walter, Oastler etc. sind, und die sich die Vertretung der Fabrikarbeiter gegen die Fabrikanten zur Pflicht gemacht haben. Auch Thomas Carlyle ist ursprünglich ein Tory und steht dieser Partei noch immer näher als den Whigs. Soviel ist gewiß, ein Whig hätte nie ein Buch schreiben können, das halb so menschlich wäre wie »Past and Present«.
Thomas Carlyle ist in Deutschland durch seine Bemühungen, den Engländern die deutsche Literatur zugänglich zu machen, bekannt geworden. Seit mehreren Jahren beschäftigt er sich hauptsächlich mit der sozialen Lage Englands – er der einzige der Gebildeten seines Landes, der das tut! und schrieb schon 1838 ein kleineres Werk: »Chartism«. Damals waren die Whigs im Ministerium und proklamierten mit vielem Pomp, daß das gegen 1835 entstandene »Gespenst« des Chartismus vernichtet sei. Der Chartismus war die natürliche Fortsetzung des alten Radikalismus, der durch die Reformbill für einige Jahre beschwichtigt und seit 1835/36 mit neuer Kraft und in geschlossenem Massen als je vorher wieder aufgetreten war. Diesen Chartismus glaubten die Whigs unterdrückt zu haben, und Thomas Carlyle nahm davon Veranlassung, die wirklichen Ursachen des Chartismus, und die Unmöglichkeit ihn zu vertilgen, ehe diese Ursachen vertilgt seien, zu entwickeln. Der Standpunkt dieses Buchs ist zwar im ganzen derselbe wie in »Past and Present«, aber mit etwas stärkerer toryistischer Färbung, die indes vielleicht bloß in dem Umstand begründet ist, daß die Whigs als herrschende Partei der Kritik am nächsten lagen. Jedenfalls enthält »Past and Present« alles, was in dem kleineren Buche steht, klarer, entwickelter und mit ausdrücklicher Bezeichnung der Konsequenzen, und überhebt uns also der Kritik des Chartismus.
[528] »Past and Present« ist eine Parallele zwischen dem England des zwölften und dem des neunzehnten Jahrhunderts und besteht aus vier Abteilungen, überschrieben: »Proömium«; »Der Mönch der Vorzeit«; »Der Arbeiter der Neuzelt«; »Horoskop«. – Gehen wir der Reihe nach durch diese Abteilungen; ich kann der Versuchung, die schönsten der oft wunderbar schönen Stellen des Buchs zu übersetzen, nicht widerstehen. – Die Kritik wird schon für sich selbst sorgen.
Das erste Kapitel des Proömiums heißt: »Midas«.
»Die Lage Englands – – gilt mit Recht für eine der drohendsten und überhaupt fremdartigsten, die je in der Welt gesehen wurden. England ist voller Reichtum aller Art, und doch stirbt England vor Hunger. Mit ewig gleicher Fülle grünt und blüht der Boden Englands, wogend mit goldenen Ernten, dicht besetzt mit Werkstätten, mit Handwerkszeug aller Art, mit fünfzehn Millionen Arbeitern, die die stärksten, klügsten und willigsten sein sollen, die unsere Erde je besaß; diese Männer sind hier; die Arbeit, die sie getan, die Frucht, die sie geschaffen haben, ist hier im Überfluß, überall in üppigster Fülle – und siehe, welch unselig Gebot, wie eines Zauberers, ist ausgegangen und sagt: ›Rührt es nicht an, ihr Arbeiter, ihr arbeitenden Herren, ihr müßigen Herren; euer keiner soll es anrühren, euer keiner soll es genießen – dies ist bezauberte Frucht!‹«
Auf die Arbeiter fällt dies Gebot zuerst. 1842 zählte England und Wales 1430000 Paupers, von denen 222000 in Arbeitshäusern – Armengesetz-Bastillen nennt sie das Volk – eingesperrt sitzen. – Dank der Humanität der Whigs! – Schottland hat kein Armengesetz, aber Arme in Masse. – Irland, beiläufig, kann sich der ungeheuren Zahl von 2300000 Paupers rühmen.
»Vor den Assisen zu Stockport (Cheshire) wurden eine Mutter und ein Vater angeklagt und schuldig befunden der Vergiftung dreier ihrer Kinder, um dadurch einen Begräbnisklub um drei Pfund acht Schillinge, zahlbar beim Tode jedes Kindes, zu betrügen, und die amtlichen Autoritäten, sagt man, deuten an, daß der Fall nicht der einzige ist, daß es vielleicht besser sei, dies nicht genauer zu untersuchen. – – Solche Beispiele sind gleich dem höchsten Berggipfel, der am Horizont emportaucht – drunter liegt eine ganze Berggegend und noch nicht aufgetauchtes Land. – Eine menschliche Mutter, ein menschlicher Vater sagen untereinander: Was sollen wir tun, um dem Hungertode zu entgehen? Wir sind tief gesunken, hier in unserm dunkeln Keller, und Hülfe ist fern. – O, in Ugolinos Hungerturm geschehen ernste Dinge, der vielgeliebte kleine Gaddo ist tot hingefallen an des Vaters Knieen! – Die Stockporter Eltern denken und sagen: Unser armer kleiner hungriger Tom, der den ganzen Tag nach Brot schreit, der nur Übles und nichts Gutes in dieser Welt sehen wird – wenn er mit einem Male aus der Not käme – und wir andern vielleicht erhalten würden? Es ist gedacht, gesagt, zuletzt getan. Und nun Tom tot ist und alles ausgegeben und verzehrt, kommt jetzt der arme kleine hungrige Jack an die Reihe, oder der arme[529] kleine hungrige Will? – O was für eine Überlegung der Wege und Mittel, das! – In belagerten Städten, in dem äußersten Ruin des unter dem Zorn Gottes gefallnen Jerusalems, war geweissagt worden: Die Hände der elenden Weiber haben ihre eigenen Kinder sich zur Speise bereitet. Die düstre Phantasie des Hebräers konnte keinen schwarzem Schlund des Elends sich vorstellen, das war das letzte des entwürdigten, gottverfluchten Menschen – und wir hier, im modernen England, in der Fülle des Reichtums – kommen wir dahin? Wie geht das zu? Woher kommt das, weshalb muß dem so sein?«
Dies geschah 1841. Ich mag hinzufügen, daß vor fünf Monaten in Liverpool Betty Eules aus Bolton gehangen wurde, die drei eigene und zwei Stiefkinder aus derselben Veranlassung vergiftet hatte.
Soviel für die Armen. Wie sieht's mit den Reichen aus?
»Diese erfolgreiche Industrie mit ihrem strotzenden Reichtum hat bis jetzt noch niemand reich gemacht, es ist behexter Reichtum und gehört niemandem. Wir können Tausende ausgeben, wo wir sonst Hunderte anlegten – aber wir können nichts Brauchbares dafür kaufen. – Mancher ißt feinere Leckereien, trinkt teurere Weine –, aber was für ein größerer Segen ist da? Sind sie schöner, besser, stärker, braver? Sind sie nur, was sie ›glücklicher‹ nennen?«
Der arbeitende Herr ist nicht glücklicher, der faulenzende Herr, d.h. der adlige Grundbesitzer, ist nicht glücklicher –
»für wen denn ist dieser Reichtum, Englands Reichtum? Wen segnet er, wen macht er glücklicher, schöner, weiser, besser? Bis jetzt niemand. Unsre erfolgreiche Industrie hat bis jetzt keinen Erfolg; in der Mitte üppiger Fülle verhungert das Volk; zwischen goldenen Mauern und vollen Scheunen fühlt sich keiner sicher und zufrieden. – Midas schmachtete nach Gold und beschimpfte den Olymp. Er bekam Gold, so daß alles, was er berührte, Gold wurde – und das half ihm mit seinen langen Ohren wenig. Midas hatte die himmlische Musik mißbeurteilt. Midas hatte Apollon und die Götter beschimpft, und die Götter bewilligten ihm seinen Wunsch und ein Paar lange Ohren dazu, auch ein gutes Anhängsel – welch eine Wahrheit in diesen alten Fabeln!«
»Wie wahr«, fährt er im zweiten Kapitel fort, »ist die andre alte Fabel von der Sphinx: Die Natur ist die Sphinx, eine Göttin, aber noch nicht ganz befreit, noch halb in der Tierheit, der Geistlosigkeit steckend – Ordnung, Weisheit auf der einen Seite, aber auch Dunkelheit, Wildheit, Schicksalsnotwendigkeit.«
Die Sphinx-Natur – deutscher Mystizismus, sagen die Engländer, wenn sie dies Kapitel lesen – hat für jeden Menschen und jede Zeit eine Frage – glücklich der, der sie richtig beantwortet; wer sie nicht oder falsch beantwortet, fällt dem tierisch-wilden Teil der Sphinx anheim, statt der schönen Braut findet er eine reißende Löwin. Und so ist es mit Nationen auch: Könnt ihr das Rätsel des Schicksals lösen? Und alle unglücklichen Völker, wie alle[530] unglücklichen Individuen haben die Frage falsch beantwortet, den Schein für die Wahrheit genommen, die ewigen inneren Tatsachen des Universums für die äußerlichen vergänglichen Erscheinungsformen fahrenlassen, und das hat England auch getan. England ist, wie er sich später ausdrückt, dem Atheismus anheimgefallen, und seine jetzige Lage ist die notwendige Folge davon. Wir werden später davon zu sprechen haben, einstweilen ist bloß zu bemerken, daß Carlyle das Gleichnis der Sphinx, wenn es in dem obigen pantheistisch-altschellingschen Sinn zugelassen werden soll, noch etwas weiter hätte ausführen können – die Lösung des Rätsels ist heute, wie in der Sage, der Mensch, und zwar die Lösung im allerweitesten Sinne. Auch das wird seine Erledigung finden.
Das nächste Kapitel gibt uns die folgende Schilderung der Manchester-Insurrektion vom August 1842:
»Eine Million hungriger Arbeiter standen auf, kamen alle heraus auf die Straße und – standen da. Was sonst sollten sie tun? Ihre Unbilden und Klagen waren bitter, unerträglich, ihre Wut dagegen war gerecht; aber wer verursacht diese Klagen, wer will abhelfen? Unsre Feinde sind, wir wissen nicht wer oder was; unsre Freunde sind, wir wissen nicht, wo? Wie sollen wir jemand angreifen, jemand erschießen oder uns von jemand erschießen lassen? O, wenn dieser verfluchte Nachtalp, der unsichtbar unser und der Unsrigen Leben auspreßt, nur eine Gestalt annehmen, uns als syrkanischer Tiger, als Behemoth des Chaos, als der Erzfeind selbst entgegentreten wollte! in irgendeiner Gestalt, die wir sehen, an der wir ihn fassen könnten!«
Das war aber eben das Unglück der Arbeiter in der Sommerinsurrektion von 1842, daß sie nicht wußten, gegen wen sie kämpfen sollten. Ihr Übel war ein soziales – und soziale Übel lassen sich nicht abschaffen, wie man das Königtum oder die Privilegien abschafft. Soziale Übel lassen sich nicht durch Volkscharten kurieren, und das fühlte das Volk – sonst wäre die Volkscharte heute das Grundgesetz von England. Soziale Übel wollen studiert und erkannt sein, und das hat die Masse der Arbeiter bis jetzt noch nicht getan. Die große Frucht des Aufstandes war, daß die Lebensfrage Englands, die Frage nach dem definitiven Los der arbeitenden Klasse, wie Carlyle sagt, auf eine für jedes denkende Ohr in England hörbare Weise gestellt wurde. Die Frage kann jetzt nicht mehr umgangen werden, England muß sie beantworten oder untergehen.
Übergehen wir die Schlußkapitel dieses Abschnitts, übergehen wir einstweilen auch den ganzen folgenden, und nehmen wir gleich den dritten Abschnitt, der von dem »Arbeiter der Neuzeit« handelt, um die Schilderung der Lage Englands, wie sie im Proömium angefangen wurde, ganz beisammen zu haben.[531]
Wir haben, fährt Carlyle fort, die Religiosität des Mittelalters weggeworfen und nichts dafür bekommen: wir haben
»Gott vergessen, wir haben unsre Augen verschlossen für die ewige Wesenheit der Dinge und sie nur offengehalten für den betrügerischen Schein der Dinge; wir beruhigen uns dabei, daß dies Universum innerlich ein großes unbegreifliches Vielleicht ist, und äußerlich augenscheinlich ein großer Viehstand und ein Arbeitshaus mit bedeutenden Küchengebäuden und Eßtischen, wo, wer weise ist, einen Platz findet; alle Wahrheit dieses Universums ist ungewiß, nur der Gewinn und Verlust, nur das Magenfutter und der Beifall sind und bleiben dem praktischen Menschen einleuchtend. – Kein Gott existiert mehr für uns; Gottes Gesetze sind ein ›Prinzip der größtmöglichen Glückseligkeit‹, ein Parlamentskniff geworden; der Himmel ist eine astronomische Uhr, ein Jagdterrain für Herschelsche Teleskope geworden, wo man auf wissenschaftliche Resultate und Sentimentalitäten jagt; in unsrer und des alten Ben Jonsons Sprache: der Mensch hat seine Seele verloren und fängt jetzt an, ihren Mangel zu merken. Das ist in Wahrheit der wunde Fleck, das Zentrum des allgemeinen sozialen Krebsgeschwürs. – Es gibt keine Religion, es gibt keinen Gott, der Mensch hat seine Seele verloren und sucht umsonst nach einem Salz gegen die Verfaulung. Umsonst – in der Hinrichtung von Königen, in französischen Revolutionen, in Reformbills, in Manchester-Insurrektionen, in alledem ist kein Heilmittel. Der faule Aussatz, für eine Stunde erleichtert, kommt in der nächsten stärker und verzweifelter wieder.«
Da aber die Stelle der alten Religion nicht ganz unbesetzt bleiben konnte, so haben wir ein neues Evangelium an ihrer Statt bekommen, ein Evangelium, das der Hohlheit und Inhaltslosigkeit des Zeitalters entspricht – das Evangelium des Mammon. Der christliche Himmel und die christliche Hölle sind, jener als zweifelhaft, diese als unsinnig aufgegeben – und ihr habt eine neue Hölle bekommen; die Hölle des modernen Englands ist das Bewußtsein, »nicht voranzukommen, kein Geld zu verdienen!«
»Wahrlich, mit unserm Mammonsevangelium sind wir zu sonderbaren Folgerungen gekommen! Wir nennen es Gesellschaft, und doch richten wir überall die totalste Trennung und Isolierung ein. Unser Leben ist nicht gegenseitige Unterstützung, sondern gegenseitige Feindseligkeit, unter gewissen Kriegsgesetzen ›vernünftige Konkurrenz‹ und so weiter. Wir haben durchaus vergessen, daß bare Zahlung nicht das einzige Band zwischen Mensch und Mensch ist. ›Meine hungernden Arbeiter?‹ sagt der reiche Fabrikant. ›Hab ich sie nicht, wie recht und billig, im Markt gemietet? Hab ich ihnen nicht meine vertragsmäßige Schuldigkeit bei Heller und Pfennig bezahlt? Was hab ich sonst noch mit ihnen zu schaffen?‹ Wahrlich, Mammonskultus ist ein trauriger Glaube!«
»Eine arme irische Witwe in Edinburgh bat um Hülfe einer wohltätigen Anstalt für sich und ihre drei Kinder. An allen Anstalten wurde sie abgewiesen; Kraft und Mut versagten ihr; sie sank nieder im Typhusfieber, starb und infizierte ihre ganze Gasse[532] mit der Krankheit, so daß siebenzehn andere infolgedessen starben. Der menschliche Arzt, der diese Geschichte erzählt – Dr. W. P. Alison –, fragt dabei: Würde es nicht ökonomischer gewesen sein, dieser Frau zu helfen? Sie bekam das Fieber und tötete eurer siebenzehn! – Sehr sonderbar. Die verlassene irische Witwe wendet sich an ihre Mitgeschöpfe: ›Seht, ich komme hülflos um, ihr müßt mir helfen, ich bin eure Schwester; Bein von eurem Bein, ein Gott schuf uns!‹ Sie aber antworten: ›Nein, unmöglich: du bist unsere Schwester nicht‹. Aber sie beweist ihre Schwesterschaft; ihr Fieber tötet sie; sie waren ihre Brüder, obwohl sie es leugneten. Wann mußte man diesen Beweis noch niedriger suchen?«
Carlyle, beiläufig gesagt, ist hier im Irrtum, ebenso wie Alison. Die Reichen haben kein Mitleiden, kein Interesse für den Tod der »Siebenzehn«. Ist es nicht ein öffentliches Glück, daß die »überzählige Bevölkerung« um siebenzehn vermindert wird? Wenn es nur ein paar Millionen wären anstatt lumpiger »siebenzehn«, so wäre das um soviel besser. – Das ist das Räsonnement der englischen reichen Malthusianer.
Und dann das andre, noch schlimmere Evangelium des Dilettantismus, das eine Regierung geschaffen hat, die nichts tut, das den Menschen allen Ernst genommen hat und sie treibt, das scheinen zu wollen, was sie nicht sind – das Streben nach »Glückseligkeit«, d.h. nach gutem Essen und Trinken, das die krasse Materie auf den Thron erhoben und allen geistigen Inhalt zerstört hat; was soll bei allem dem herauskommen?
»Und was sollen wir sagen zu einer Regierung wie die unsrige, die ihren Arbeitern eine Anklage der ›Überproduktion‹ entgegenhält? Überproduktion, ist das nicht der Punkt? Ihr verschiedenen fabrizierenden Individuen, ihr habt zuviel produziert! Unsere Anklage ist, daß ihr mehr als zweihunderttausend Hemden für die Blöße der Menschheit gemacht habt. Auch die Beinkleider, die ihr verfertigtet von Baumwollensammet, Kasimir, schottisch Plaid, von Nanking und wollen Tuch, sind sie nicht mannigfaltig? Hüte und Schuhe, Stühle zum Sitzen und Löffel zum Essen – ja, und goldene Uhren produziert ihr, Juwelensachen, silberne Gabeln, Kommoden, Chiffonnieren und gepolsterte Sofas – o Himmel, alle Commercial Bazars und Howel and James's können eure Produkte nicht bergen; ihr habt produziert, produziert, produziert – wer euch anklagen will, möge nur um sich sehen; Millionen Hemden und leere Beinkleider hangen da zum Zeugnis wider euch. Wir klagen euch der Überproduktion an; ihr seid schuldig des schweren Verbrechens, Hemden, Hosen, Hüte und Schuhe und so weiter in schaudererregendem Überfluß produziert zu haben. Und jetzt ist eine Stockung infolgedessen, und eure Arbeiter müssen verhungern.«
»My Lords und Gentlemen, wes klagen Sie jene armen Arbeiter an? Sie, My Lords und Gentlemen, waren ernannt, dafür zu sorgen, daß keine Stockungen einträten; Sie hatten darauf zu sehen, daß die Verteilung des Lohns für die getane Arbeit ordentlich vor sich gehe, daß kein Arbeiter ohne seinen Lohn, sei es in Geldmünzen, sei es in hanfnen Galgenstricken, bleibe; das war ihr Amt von undenklicher Zeit her. Diese[533] armen Spinner haben viel vergessen, was nach dem innern ungeschriebenen Gesetz ihrer Stellung sie hätten bedenken sollen – aber welch geschrieben Gesetz ihrer Stellung haben sie vergessen? Sie waren angestellt, Hemden zu machen. Die Gemeinde befahl ihnen: macht Hemden – und hier sind die Hemden. Zuviel Hemden? Wahrlich, das ist neu auf dieser verrückten Welt mit ihren neunhundert Millionen nackter Leiber! Aber, My Lords und Gentlemen, Ihnen befahl die Gemeinde: seht zu, daß diese Hemden wohl verteilt werden – und wo ist die Verteilung? Zwei Millionen hemdloser oder schlechtbehemdeter Arbeiter sitzen in Armengesetz-Bastillen, fünf Millionen andere in Ugolinoschen Hungerkellern; und dem abzuhelfen, sagen Sie: steigert unsre Renten! Sie sagen triumphierend: Ihr wollt Anklagen zusammenflicken, ihr wollt uns Überproduktion vorwerfen? Wir nehmen Himmel und Erde zu Zeugen, daß wir gar nichts produziert haben. In den weiten Reichen der Schöpfung ist kein Hemd, das wir gemacht hätten. Wir sind unschuldig an der Produktion; im Gegenteil, ihr Undankbaren, was für Berge von Dingen haben wir nicht zu ›konsumieren‹ gehabt! Sind diese Berge nicht verschwunden vor uns, als ob wir Straußenmägen hätten und eine Art göttlicher Fähigkeit des Verzehrens? Ihr Undankbaren; seid ihr nicht gewachsen unter dem Schatten unsrer Flügel? Eure schmutzigen Fabriken, stehen sie nicht auf unserm Grund und Boden? Und wir sollen euch unser Korn nicht zu dem Preise verkaufen können, der uns gefällt? Was, denkt ihr, würde aus euch werden, wenn wir, die Besitzer des Bodens von England, beschlossen, gar kein Korn mehr wachsen zu lassen?«
Diese Anschauungsweise der Aristokratie, diese barbarische Frage: Was würde aus euch werden, wenn wir nicht so gnädig wären, Korn wachsen zu lassen, hat die »wahnsinnigen und erbärmlichen Korngesetze« produziert; die Korngesetze, die so wahnsinnig sind, daß man gar keine Argumente gegen sie vorbringen kann als solche, »die einen Engel im Himmel und auch einen Esel auf Erden zum Weinen bringen müssen«. Die Korngesetze beweisen, daß die Aristokratie noch nicht gelernt hat, kein Unheil anzurichten, still zu sitzen, gar nichts zu tun, geschweige denn, etwas Gutes zu tun, und doch wäre dies nach Carlyle ihre Pflicht;
»sie ist durch ihre Stellung verpflichtet, England zu leiten und zu regieren, und jeder Arbeiter im Arbeitshause hat das Recht, sie vor allem andern zu fragen: Warum bin ich hier? Seine Frage wird gehört im Himmel und wird sich auch hörbar machen auf Erden, wenn sie nicht beachtet wird. Seine Anklage ist gegen Sie, My Lords und Gentlemen; Sie stehen in der ersten Reihe der Angeklagten, Sie, kraft der Stellung, die Sie einnehmen, haben ihm zuerst zu antworten! – Das Schicksal der faulenzenden Aristokratie, wie ihr Horoskop in Korngesetzen usw. zu lesen ist, ist ein Abgrund, der einen mit Verzweiflung füllt! Ja meine rosigen fuchsjagenden Brüder, durch eure frischen, schmucken Gesichter, durch eure Korngesetz-Majoritäten, sliding-scales, Schutzzölle, Bestechungswahlen und kentische Triumphfeuer entdeckt ein denkendes Auge schauerliche Bilder des Sturzes, zu schauerlich für Worte, eine Mene Mene[534] Handschrift – guter Gott, erklärte nicht eine französische nichtstuende Aristokratie, kaum ein halb Jahrhundert verfloß seitdem, ebenso: Wir können nicht existieren, nicht fortfahren, uns standesmäßig zu kleiden und zu paradieren; der Grundzins unserer Besitzungen reicht nicht aus, wir müssen mehr haben als das, wir müssen von Steuern eximiert sein und ein Korngesetz haben, um unsern Grundzins zu steigern. Das war 1789, vier Jahre weiter – habt ihr von der Gerberei zu Meudon gehört, wo die Nackten sich Hosen von Menschenhaut machten? Möge der barmherzige Himmel das Omen abwenden; mögen wir weiser sein, damit wir weniger elend werden!«
Und die arbeitende Aristokratie verfängt sich in den Vogelnetzen der faulenzenden Aristokratie und kommt mit ihrem »Mammonismus« zuletzt auch in eine schlimme Lage;
»die Leute auf dem Kontinent, scheint es, exportieren unsre Maschinerie, spinnen Baumwolle und fabrizieren für sich selbst, treiben uns aus diesem Markt und dann aus dem. Traurige Nachrichten, aber lange noch nicht die traurigsten. Das Traurigste ist, daß wir unsre nationale Existenz, wie ich habe sagen hören, abhängig sehen sollten von unsrer Fähigkeit, Baumwollenstoffe einen Heller die Elle wohlfeiler zu verkaufen als alle andere Völker. Ein sehr schmaler Stand für eine große Nation, das! Ein Stand, den wir, wie mir scheint, trotz aller möglichen Korngesetzabschaffungen auf die Dauer nicht werden erhalten können. – Keine große Nation kann auf einer solchen Pyramidenspitze stehen, sich höher und höher schraubend, auf der großen Zehe balancierend. Kurz, dies Mammonsevangelium mit seiner Hölle des Nichtsverdienens, Nachfrage und Zufuhr, Konkurrenz, Handelsfreiheit, ›laissez faire und der Teufel hol' das Übrige‹, fängt allmählich an, das erbärmlichste Evangelium zu werden, das je auf der Erde gepredigt wurde. – Ja, wenn die Korngesetze morgen aufgehoben wären, so ist damit noch nichts am Ende, es ist bloß Raum gemacht, um Dinge aller Art anzufangen. Die Korngesetze fort, den Handel frei gemacht, so ist es gewiß, daß die jetzige Lähmung der Industrie verschwinden wird. Wir werden wieder eine Periode der Handelsunternehmungen, des Sieges und der Blüte haben, das würgende Band der Hungersnot um unsern Nacken wird loser werden, wir werden Raum zum Atmen und Zeit zum Besinnen und Bereuen haben – eine dreimal kostbare Zeit, um, wie für unser Leben, für die Reform unsrer bösen Wege zu kämpfen, unser Volk zu erleichtern, zu unterrichten, zu regeln; ihm etwas geistige Nahrung, etwas wirkliche Leitung und Regierung zuzuwenden – es wird eine unbezahlbare Zeit sein! Denn unsre neue Periode der Blüte wird und muß auf die alte Methode von ›Konkurrenz und der Teufel hol' das Übrige‹ zuletzt sich doch wieder nur als ein Paroxysmus erweisen, und wahrscheinlich als unser letzter. Denn verdoppelt sich in zwanzig Jahren unsre Industrie, so ist auch unsre Bevölkerung in zwanzig Jahren verdoppelt; wir werden so weit sein wie wir waren, nur unser doppelt so viele, und doppelt, ja zehnmal so unbändig. – Wehe, in was für Gegenden sind wir auf dieser unsrer Wanderung durch die Weite der Zeiten geraten, wo die Menschen umherwandeln wie galvanisierte Leichen, mit gedankenlosen,[535] stieren Augen, ohne Seele, nur mit einer fiebermäßigen Industriefähigkeit und einem Magen zur Verdauung! Die abgemagerte Verzweiflung der Baumwollfabriken, Kohlenbergwerke und Chandosschen Ackerbautaglöhner in diesen Tagen ist schmerzlich anzuschauen, aber lange nicht so schmerzlich dem Denkenden als diese brutale, gottvergessene Gewinn- und Verlustphilosophie und Lebensweisheit, die wir überall ausschreien hören in Senatssitzungen, Disputierklubs, leitenden Artikeln, von Kanzeln und Rednerbühnen herab als das Ultimatevangelium und ehrliche Englisch des menschlichen Lebens!«
»Ich habe die Kühnheit, zu glauben, daß zu keiner Zeit, seit den Anfängen der Gesellschaft, das Los der stummen, abgearbeiteten Millionen so durchaus unerträglich gewesen ist wie jetzt. Nicht der Tod, oder selbst der Hungertod, macht den Menschen elend; wir alle müssen sterben, unser allerletzter Ausgang ist in einem Feuerwagen des Schmerzes; aber elend zu sein und nicht zu wissen warum, sich siech zu arbeiten für nichts und wieder nichts, abgearbeiteten und müden Herzens, und doch isoliert, verwaist zu sein, eingegürtet von einem kalten, universellen laissez faire, langsam zu sterben all unser Leben lang eingemauert in eine taube, tote, unendliche Ungerechtigkeit wie in den verfluchten Bauch eines Phalarisstiers – das ist und bleibt für ewig unerträglich für alle gottgeschaffenen Menschen. Und wir wundern uns über eine französische Revolution, eine ›große Woche‹, einen englischen Chartismus? Die Zeiten, wenn wir's recht bedenken, sind wahrlich beispiellos.«
Wenn in solchen beispiellosen Zeiten die Aristokratie sich zur Lenkung des allgemeinen Wesens unfähig erweist, so ist es eine Notwendigkeit, sie auszustoßen. Daher die Demokratie.
»Zu welcher Ausdehnung die Demokratie jetzt schon gelangt ist, wie sie mit ominöser, stets wachsender Eile voranschreitet, kann jeder sehen, der seine Augen für irgendein Gebiet der menschlichen Verhältnisse öffnen will. Von dem Donner napoleonischer Schlachten bis zum Geplärre um eine offene Gemeindeversammlung in St. Mary Axe verkündigt alles Demokratie.«
Aber was ist Demokratie am Ende?
»Nichts als der Mangel an Herren, die euch regieren könnten, und die Ergebung in diesen unvermeidlichen Mangel, der Versuch, ohne sie fertig zu werden. – Niemand unterdrückt dich, du freier und unabhängiger Wähler, aber unterdrückt dich nicht dieser stupide Portertopf? Kein Adamssohn befiehlt dir zu kommen oder zu gehen – aber dieser absurde Topf, schweres Naß (heavy-wet), der kann und tut es! Du bist der Leibeigne nicht Cerdiks des Sachsen, aber deiner eignen tierischen Lüste, und du sprichst von Freiheit? Du totaler Dummkopf! – Die Vorstellung, daß jemandes Freiheit darin besteht, seine Stimme bei der Wahl zu geben und zu sagen: Siehe, ich auch habe jetzt mein Zwanzigtausendstel eines Sprechers in unserer Nationalschwatzanstalt, werden mir nicht alle Götter günstig sein? – Diese Vorstellung ist eine der spaßhaftesten in der Welt. Vollends die Freiheit, die dadurch erkauft wird, daß ihr euch gegenseitig isoliert, nichts miteinander zu tun habt außer durch bar Geld und[536] Hauptbücher, diese Freiheit wird zuletzt sich als die Freiheit des Verhungerns für die arbeitenden Millionen zeigen, als die Freiheit des Verfaulens für die faulen, nichtstuenden Tausende und Einheiten. Brüder, nach Jahrhunderten konstitutioneller Regierung wissen wir noch wenig, was Freiheit ist und was Sklaverei ist. Aber die Demokratie wird ihren freien Lauf haben, die arbeitenden Millionen, in ihrem Lebensbedürfnis, in ihrem instinktmäßigen leidenschaftlichen Verlangen nach Leitung, werden die falsche Leitung wegwerfen und für einen Augenblick hoffen, daß Nichtleitung ihnen genügen wird; aber nur für einen Augenblick. Die Unterdrückung durch eure falschen Oberen mögt ihr wegwerfen; ich tadle euch nicht, ich bedaure und ermahne euch bloß; aber das getan und das große Problem bleibt noch ungelöst: das Problem, Leitung durch eure wahren Oberen zu finden.«
»›Die Leitung, wie sie jetzt besteht, ist freilich erbärmlich genug.‹ Bei dem neulichen Bestechungskomitee des Parlaments schien es die Meinung der gesundesten praktischen Köpfe zu sein, daß Bestechung nicht zu vermeiden sei und daß wir gut oder übel ohne reine Wahlen uns durchzuschlagen suchen müßten. – – Ein Parlament, das sich als gewählt und wählbar durch Bestechung proklamiert, was für Gesetzgebung kann davon kommen! Bestechung bedeutet nicht nur Käuflichkeit, sondern Unehrlichkeit, unverschämte Betrügerei; eherne Gefühllosigkeit gegen Lüge und Anstiftung von Lügen. Seid doch ehrlich, eröffnet im Downing-Street ein Wahlbüro mit einem Städtetarif: soviel Bevölkerung bezahlt soviel Einkommensteuer, Wert der Häuser soviel, wählt zwei Abgeordnete, wählt einen Abgeordneten, zu haben für soviel bar Geld; Ipswich soviel tausend Pfund, Nottingham soviel –, da habt ihrs doch hübsch ehrlich durch Kauf, ohne die Unehrlichkeit, ohne die Schamlosigkeit, ohne die Lüge! – – Unser Parlament erklärt sich für gewählt und wählbar durch Bestechung. Was soll aus einem solchen Parlament werden? Wo nicht Belial und Beelzebub dies Weltall regieren, so bereitet sich solch ein Parlament für neue Reformbills. Wir wollen lieber den Chartismus oder jedes andere System versuchen, als damit zufrieden sein! Ein Parlament, das mit einer Lüge auf der Zunge beginnt, wird sich selbst auf die Seite schaffen müssen. Täglich und stündlich rückt irgendein Chartist, irgendein bewaffneter Cromwell heran, um solch einem Parlament anzuzeigen: ›Ihr seid kein Parlament. Im Namen des Allerhöchsten – packt euch!‹«
Das ist die Lage Englands nach Carlyle. Eine faulenzende, grundbesitzende Aristokratie, die »noch nicht einmal gelernt hat, still zu sitzen und wenigstens kein Unheil anzustiften«, eine arbeitende Aristokratie, die im Mammonismus versunken ist, die, wo sie eine Versammlung von Leitern der Arbeit, von »Industriefeldherren« sein sollte, nur ein Haufe von industriellen Bucaniers und Piraten ist, ein durch Bestechung gewähltes Parlament, eine Lebensphilosophie des bloßen Zusehens, des Nichtstuns, des laissez faire, eine ausgeschlissene bröcklige Religion, eine totale Auflösung aller allgemein menschlichen Interessen, eine universelle Verzweiflung an der Wahrheit und der Menschheit und infolgedessen eine universelle Isolierung der Menschen auf[537] ihre »rohe Einzelnheit«, eine chaotische, wüste Verwirrung aller Lebensverhältnisse, ein Krieg aller gegen alle, ein allgemeiner geistiger Tod, Mangel an »Seele«, d.h. an wahrhaft menschlichem Bewußtsein: eine unverhältnismäßig starke arbeitende Klasse, in unerträglichem Druck und Elend, in wilder Unzufriedenheit und Rebellion gegen die alte soziale Ordnung, und daher eine drohende, unaufhaltsam voranrückende Demokratie – überall Chaos, Unordnung, Anarchie, Auflösung der alten Bande der Gesellschaft, überall geistige Leere, Gedankenlosigkeit und Erschlaffung. – Das ist die Lage Englands. Soweit werden wir, wenn wir einige Ausdrücke, die durch Carlyles partikularen Standpunkt hereingekommen sind, abrechnen – ihm vollkommen recht geben müssen. Er, der einzige der »respektabeln« Klasse, hat seine Augen wenigstens für die Tatsachen offengehalten, er hat wenigstens die unmittelbare Gegenwart richtig aufgefaßt, und das ist wahrlich für einen »gebildeten« Engländer unendlich viel.
Wie sieht es mit der Zukunft aus? So wie jetzt bleibt es nicht und kann es nicht bleiben. Wir haben gesehen, Carlyle hat, wie er selbst gesteht, keine »Morrisonspille«, kein Universalmittel für die Heilung der sozialen Übel. Auch darin hat er recht. Alle Sozialphilosophie, solange sie noch ein paar Sätze als ihr Endresultat aufstellt, solange sie noch Morrisonspillen eingibt, ist noch sehr unvollkommen; es sind nicht die nackten Resultate, die wir so sehr bedürfen, als vielmehr das Studium; die Resultate sind nichts ohne die Entwicklung, die zu ihnen geführt hat, das wissen wir schon seit Hegel, und die Resultate sind schlimmer als nutzlos, wenn sie für sich fixiert, wenn sie nicht wieder zu Prämissen für die fernere Entwicklung gemacht werden. Aber die Resultate müssen auch temporär eine bestimmte Form annehmen, müssen durch die Entwicklung aus der vagen Unbestimmtheit zu klaren Gedanken sich gestalten und können dann allerdings bei einer so rein empirischen Nation, wie die Engländer sind, die »Morrisonspillen«-Form nicht vermeiden. Carlyle selbst, obwohl er viel Deutsches in sich aufgenommen hat und der krassen Empirie ziemlich fern steht, würde wahrscheinlich einige Pillen bei der Hand haben, wenn er weniger unbestimmt und unklar über die Zukunft wäre.
Einstweilen erklärt er, daß alles unnütz und fruchtlos sei, solange die Menschheit im Atheismus beharre, solange sie ihre »Seele« sich noch nicht wieder verschafft habe. Nicht daß der alte Katholizismus in seiner Energie und Lebenskraft wiederherzustellen oder nur die jetzige Religion aufrechtzuerhalten sei – er weiß sehr wohl, daß Rituale, Dogmen, Litaneien und Sinaidonner nicht helfen können, daß aller Sinaidonner die Wahrheit nicht wahrer und keinem vernünftigen Menschen bange macht, daß man über die Religion[538] der Furcht längst hinaus ist, aber die Religion selbst muß wiederhergestellt werden, wir sehen selbst, wohin uns »zwei Jahrhunderte atheistischer Regierung« – seit der »gesegneten« Restauration Karls II. – gebracht haben, und wir werden auch allmählich einsehen müssen, daß dieser Atheismus anfängt, ausgetragen und verschlissen zu werden. Wir haben aber gesehen, was Carlyle Atheismus nennt, nicht sowohl den Unglauben an einen persönlichen Gott, sondern den Unglauben an die innere Wesenhaftigkeit, an die Unendlichkeit des Universums, den Unglauben an die Vernunft, die Verzweiflung am Geist und an der Wahrheit; sein Kampf geht nicht gegen den Unglauben an die Offenbarung der Bibel, sondern gegen den »schrecklichsten Unglauben, den Unglauben an die Bibel der Weltgeschichte«. Diese ist das ewige Cottesbuch, in dem jeder Mensch, solange ihm Seele und Augenlicht nicht erloschen sind, Gottes Finger schreibend sehen kann. Diese zu verspotten ist ein Unglaube, gleich keinem andern, ein Unglaube, den ihr bestrafen würdet, nicht mit Feuer und Scheiterhaufen, aber doch mit dem entschiedensten Befehl, zu schwelgen, bis man etwas Besseres zu sagen habe. Weshalb sollte das glückliche Schwelgen durch Getöse gebrochen werden, um nur solch Zeug auszuschreien? Wenn die Vergangenheit keine göttliche Vernunft in sich hat, sondern bloß teuflische Unvernunft, so vergeht sie auf ewig, sprecht nicht mehr von ihr; uns, deren Väter alle gehangen wurden, ziemt es schlecht, von Stricken zu schwatzen! »An die Geschichte aber kann das moderne England nicht glauben.« Das Auge sieht von allen Dingen nur soviel, als es nach seiner ihm inhärenten Fähigkeit sehen kann. Ein gottloses Jahrhundert kann keine gotterfüllten Epochen begreifen. Es sieht in der Vergangenheit (dem Mittelalter) nur leere Zwietracht, die allgemeine Herrschaft der rohen Gewalt, es sieht nicht, daß am Ende Macht und Recht zusammenfallen, es sieht bloße Dummheit, wilde Unvernunft, eher für Bedlam als für eine menschliche Welt passend. Woraus denn natürlich folgt, daß dieselben Eigenschaften in unserer Zeit zu herrschen fortfahren sollten. Millionen festgebannt in Bastillen; irische Witwen, die ihre Menschheit durch Typhusfieber beweisen; es ist immer so gewesen oder schlimmer; was verlangt ihr anders? Was anders ist die Geschichte gewesen als die Aussaugung verstockter Dummheit durch erfolgreiche Quacksalberei? Kein Gott war in der Vergangenheit, nichts als Mechanismus und chaotisch-bestialische Götzen; wie soll der arme »philosophische Geschichtsschreiber«, dem sein eigen Jahrhundert so ganz gottverlassen ist, »den Gott in der Vergangenheit sehen«?
Aber so ganz verlassen ist unsre Zeit doch nicht.
[539] »Ja, in unsrem armen zersplitterten Europa selbst, haben sich nicht in diesen neuesten Zeiten religiöse Stimmen erhoben, mit einer neuen, und zugleich der ältesten Religion, unbestreitbar den Herzen aller Menschen? Einige kenne ich, die sich nicht Propheten hießen oder glaubten, aber die in Wahrheit wieder einmal volltönende Stimmen waren aus dem ewigen Herzen der Natur, Seelen, ewig ehrwürdig allen, die eine Seele haben. Eine französische Revolution ist ein Phänomen; als Ergänzung und geistiger Exponent derselben ist mir ein Dichter Goethe und eine deutsche Literatur auch ein Phänomen. Wenn die alte weltliche oder praktische Welt in Feuer aufgegangen ist, ist dann nicht hier die Weissagung und das Morgenrot einer neuen geistigen Welt, der Mutter von weit edleren, weiteren, neuen, praktischen Welten? Ein Leben antiker Hingebung, antiker Wahrheit und antiken Heldensinns ist wieder möglich geworden, ist hier wirklich sichtbar für den modernsten Menschen, ein Phänomen, in aller seiner Ruhe keinem andern zu vergleichen! Da sind Anklänge einer neuen Sphärenmelodie, hörbar aufs neue durch all den unendlichen Jargon und die Dissonanzen des Dings, das man Literatur nennt.«
Goethe, der Prophet der »Religion der Zukunft«, und ihr Kultus – die Arbeit.
»Denn es liegt ein ewiger Adel, ja eine Helligkeit in der Arbeit. Und wäre er noch so verfinstert, seines hohen Berufes vergessen, so ist doch immer noch Hoffnung da für einen Menschen, der wirklich und ernstlich arbeitet; in der Faulheit allein ist ewige Verzweiflung. Arbeit, noch so mammonisiert, noch so erniedrigt, bleibt doch eine Verbindung mit der Natur; der treibende Wunsch, seine Arbeit getan zu bekommen, wird mehr und mehr der Wahrheit und den Bestimmungen und den Gesetzen der Natur zuführen. – – Eine unendliche Bedeutung liegt in der Arbeit; der Mensch vollendet sich durch sie. Faule Moräste werden weggeräumt; schöne Saatfelder erstehen an ihrer Stelle und prächtige Städte, und vor allem zuerst hört der Mensch selbst auf, ein fauler Morast und eine seuchenschwangere Wüste zu sein. Bedenkt, wie selbst in den niedrigsten Arten der Arbeit die ganze Seele des Menschen in eine gewisse Harmonie versetzt wird, sowie er sich an die Arbeit gibt! Zweifel, Verlangen, Kummer, Unruhe, Unwille, Verzweiflung selbst, alle diese, wie Höllenhunde belagern die Seele des armen Tagarbeiters wie jedes andern, aber er greift mit freiem Mut sein Tagwerk an, und sie alle welchen murrend zurück in ihre fernen Höhlen. Der Mensch ist nun Mensch; die heilige Glut der Arbeit in ihm ist wie ein reinigend Feuer, worin alles Gift und selbst der verpestendste Qualm in einer hellen heiligen Flamme verbrennt. – – Gesegnet ist, wer seine Arbeit gefunden hat; er verlange nach keinem anderen Segen. Er hat eine Arbeit, einen Lebenszweck; er hat ihn gefunden, er verfolgt ihn, und nun fließt sein Leben dahin, ein freiströmender Kanal, gegraben durch den abgestandenen Notsumpf der Existenz, ableitend das abgestandne Wasser von der entferntesten Binse, den verpestenden Sumpf in eine grüne fruchtbare Wiese verwandelnd. Arbeit ist Leben; du hast im Grunde keine andere Kenntnis, als die du dir durch Arbeit erworben hast, das Übrige ist all Hypothese, Stoff zum Schulgezänk in den Wolken, in endlosen logischen Strudeln flutend, bis wir es versuchen und fixieren.[540] Zweifel aller Art kann nur durch Tätigkeit gelöst werden. – – Wunderschön war der Spruch der alten Mönche: Laborare, est orare, Arbeit ist Kultus. Älter als alles gepredigte Evangelium, war dies ungepredigte, unausgesprochene, aber unauslöschliche, ewige Evangelium; arbeite, und finde Befriedigung in der Arbeit. O Mensch, liegt nicht in deinem innersten Herzen ein Geist tätiger Anordnung, eine Kraft der Arbeit; brennend wie ein schmerzlich glimmend Feuer, das dir keine Ruhe läßt, bis du es entfaltest, bis du es in Tatsachen ringsumher niederschreibst? Alles Ungeordnete, Wüste sollst du geordnet, geregelt, ackerbar machen, dir gehorsam und dir Frucht tragend. Wo du Unordnung findest, da ist dein ewiger Feind; greif ihn rasch an, unterjoche ihn; entreiß ihn der Herrschaft des Chaos, bring ihn unter deine, der Intelligenz und Göttlichkeit Herrschaft! Vor allem aber, wo du Unwissenheit, Dummheit, Vertierung findest, greif' sie an, sag' ich dir, schlage sie, weise, unermüdlich, ruhe nicht, solange du lebst und sie lebt, schlage zu, schlage, im Namen Gottes; schlage! Du sollst wirken, solange es Tag ist; es kommt die Nacht, da niemand wirken kann. – Alle wahre Arbeit ist heilig; Schweiß des Angesichts, Schweiß des Gehirns und des Herzens, einschließend eines Kepler Berechnungen, eines Newton Meditationen; alle Wissenschaften, alle gesprochenen Heldenlieder, alles getane Heldentum, Märtyrertum, bis zu jenem ›Todeskampf des blutigen Schweißes‹, den alle Menschen göttlich genannt haben. Wenn das nicht Kultus ist, zum Teufel dann allen Kultus. Wer bist du, der über sein Leben saurer Arbeit klagt? Klage nicht, dir ist der Himmel streng, aber nicht unfreundlich, eine edle Mutter, wie jene spartanische Mutter, die ihrem Sohne den Schild gab: Mit ihm oder auf ihm! Klage nicht; auch die Spartaner klagten nicht. – – Ein Ungeheuer ist in der Welt – der Faulenzer. Was ist seine Religion, als daß die Natur ein Phantom, daß Gott eine Lüge ist und der Mensch und sein Leben eine Lüge.«
Aber auch die Arbeit ist in den wilden Strudel der Unordnung und des Chaos hineingerissen, das reinigende, aufklärende, entwickelnde Prinzip ist der Verwickelung, Verwirrung und Finsternis anheimgefallen. Dies führt auf die eigentliche Hauptfrage, auf die Zukunft der Arbeit.
»Was für eine Arbeit wird es sein, was unsere Freunde auf dem Kontinent, schon ziemlich lange und etwas absurd danach umhertappend, ›Organisation der Arbeit‹ nennen. Das muß aus den Händen absurder Windbeutel genommen und tüchtigen, weisen, arbeitsamen Männern übergeben werden; es sogleich zu beginnen, auszuführen und durchzuführen, wenn Europa – wenigstens wenn England noch lange bewohnbar bleiben soll. Wenn wir unsre hochedlen Korngesetz-Herzöge ansehen oder unsre geistlichen Herzöge und Seelenhirten ›mit einem Minimum von viertausendfünfhundert Pfund jährlich‹, so werden unsre Hoffnungen freilich etwas gedämpft. Aber Mut! Es gibt noch manchen braven Mann in England. Du unbezähmbarer Fabriklord, ist nicht auch in dir noch einige Hoffnung? Du bist bis jetzt ein Bucanier gewesen; aber in dieser ernsten Braue, in diesem unbezähmbaren Herzen, das Baumwolle besiegen kann, liegen da nicht vielleicht noch andre, zehnmal edlere Siege?« –[541] »Seht um euch, eure Weltenheere sind alle in Meuterei, Verwirrung, Verlassenheit: am Vorabend eines Untergangs in Flammen, am Vorabend des Wahnsinns! Sie wollen nicht weiter marschieren nach dem Prinzip von sechs Pence täglich und Nachfrage und Zufuhr; sie wollen nicht und haben ein Recht dazu. Sie sind fast in den Rachen des Wahnsinnes gejagt; seid ihr vernünftiger. Diese Leute werden nicht länger als ein verworrener und verwirrender Pöbel marschieren, sondern als eine geschloßne geordnete Masse, mit wirklichen Führern an ihrer Spitze. Alle menschlichen Interessen, alle gemeinschaftlichen Unternehmungen mußten auf einer gewissen Entwicklungsstufe organisiert werden, und jetzt verlangt das größte aller menschlichen Interessen, die Arbeit, nach Organisation.«
Um diese Organisation durchzuführen, um wahre Lenkung und wahre Regierung an die Stelle falscher Lenkung zu setzen, verlangt Carlyle nach einer »wahren Aristokratie«, nach einem »Heroenkultus«, und stellt es als das zweite große Problem auf, die aristoi, die Besten ausfindig zu machen, deren Leitung »die unvermeidliche Demokratie mit der notwendigen Souveränität zu verbinden«.
Aus diesen Auszügen geht der Standpunkt Carlyles ziemlich klar hervor. Seine ganze Anschauungsweise ist wesentlich pantheistisch und zwar deutsch-pantheistisch. Die Engländer haben keinen Pantheismus, sondern bloß Skeptizismus; das Resultat alles englischen Philosophierens ist die Verzweiflung an der Vernunft, die eingestandene Unfähigkeit, die Widersprüche, auf die man in letzter Instanz geraten ist, zu lösen, und infolgedessen auf der einen Seite ein Rückfall in den Glauben, auf der andern die Hingebung an die reine Praxis, ohne sich weiter um Metaphysik usw. zu bekümmern. Carlyle ist darum mit seinem aus der deutschen Literatur stammenden Pantheismus auch ein »Phänomen« in England und ein für die praktischen und skeptischen Engländer ziemlich unbegreifliches Phänomen. Die Leute starren ihn an, sprechen von »deutschem Mystizismus«, von verrenktem Englisch; andre behaupten, es sei doch am Ende was dahinter, sein Englisch sei zwar ungewöhnlich, aber doch schön, er sei ein Prophet usw. – aber keiner weiß recht, was er aus dem Ganzen machen soll.
Uns Deutschen, die wir die Voraussetzungen für Carlyles Standpunkt kennen, ist die Sache klar genug. Reste toryistischer Romantik und menschliche Anschauungen aus Goethe auf der einen, das skeptisch-empirische England auf der andern Seite, diese Faktoren reichen hin, um aus ihnen Carlyles ganze Weltansicht abzuleiten. Carlyle ist, wie alle Pantheisten, noch nicht über den Widerspruch hinausgekommen, und der Dualismus ist bei Carlyle um so schlimmer, da er zwar die deutsche Literatur, aber nicht ihre notwendige Ergänzung, die deutsche Philosophie, kennt, und alle seine Anschauungen[542] daher auch unmittelbar, intuitiv, mehr schellingisch als hegelisch sind. Mit Schelling – d.h. dem alten, nicht dem Offenbarungs-Schelling, hat Carlyle wirklich eine Masse Berührungspunkte; mit Strauß, dessen Anschauungsweise ebenfalls pantheistisch ist, trifft er im »Heroenkultus« oder »Kultus des Genius« zusammen.
Die Kritik des Pantheismus ist in der letzten Zeit in Deutschland so erschöpfend ausgeführt worden, daß wenig mehr zu sagen bleibt. Feuerbachs Thesen in den »Anekdotis« und B[runo] Bauers Schriften enthalten alles hierher Gehörige. Wir werden uns also darauf beschränken können, einfach die Konsequenzen aus Carlyles Standpunkt zu ziehen und zu zeigen, daß er im Grunde nur eine Vorstufe zum Standpunkte dieser Zeitschrift ist.
Carlyle klagt über die Leerheit und Hohlheit des Zeitalters, über die innere Verfaulung aller sozialen Institutionen. Die Klage ist gerecht; aber mit dem einfachen Klagen ist es nicht abgetan; um dem Übel abzuhelfen, muß die Ursache desselben aufgesucht werden; und hätte Carlyle dies getan, so würde er gefunden haben, daß diese Zerfahrenheit und Hohlheit, diese »Seelenlosigkeit«, diese Irreligion und dieser »Atheismus« ihren Grund haben in der Religion selbst. Die Religion ist ihrem Wesen nach die Entleerung des Menschen und der Natur von allem Gehalt, die Übertragung dieses Gehalts an das Phantom eines jenseitigen Gottes, der dann wiederum den Menschen und der Natur in Gnaden etwas von seinem Überfluß zukommen läßt. Solange nun der Glaube an dies jenseitige Phantom kräftig und lebendig ist, solange kommt der Mensch auf diesem Umwege wenigstens zu etwas Gehalt. Der starke Glaube des Mittelalters verlieh auf diese Weise der ganzen Epoche allerdings eine bedeutende Energie, aber eine Energie, die nicht von außen kam, sondern schon in der menschlichen Natur lag, wenn auch noch unbewußt, noch unentwickelt. Der Glaube wurde allmählich schwach, die Religion zerbröckelte vor der steigenden Kultur, aber noch immer sah der Mensch nicht ein, daß er sein eignes Wesen als ein fremdes Wesen angebetet und vergöttert hatte. In diesem bewußtlosen und zugleich glaubenslosen Zustande kann der Mensch keinen Inhalt haben, muß er an der Wahrheit, an der Vernunft und Natur verzweifeln, und diese Hohlheit und Inhaltslosigkeit, die Verzweiflung an den ewigen Tatsachen des Universums wird solange dauern, bis die Menschheit einsieht, daß das Wesen, was sie als Gott verehrt hat, ihr eignes, ihr bisher unbekanntes Wesen war, bis – doch was soll ich Feuerbach abschreiben.
Die Hohlheit ist längst dagewesen, denn die Religion ist der Akt der Selbstaushöhlung des Menschen; und ihr wundert euch, daß sie jetzt, nachdem der Purpur, der sie verdeckte, verblichen, nachdem der Dunst, der sie einhüllte, gestorben ist, daß sie jetzt zu eurem Schrecken ans Tageslicht tritt?[543]
Carlyle klagt ferner – dies ist die nächste Folge aus dem Vorhergehenden – das Zeitalter der Heuchelei und der Lüge an. Natürlich, die Hohlheit und Entnervung muß doch durch Staffage, ausgestopfte Gewänder und Fischbeinschienen anständig verhüllt und aufrecht gehalten werden! Auch wir greifen die Heuchelei des jetzigen christlichen Weltzustandes an; der Kampf gegen sie, unsere Befreiung von ihr und die Befreiung der Welt von ihr sind am Ende unser einzig Tagewerk; aber weil wir durch die Entwickelung der Philosophie zur Erkenntnis dieser Heuchelei gekommen, und weil wir den Kampf wissenschaftlich führen, darum ist uns das Wesen dieser Heuchelei nicht mehr so fremd und unverständlich, wie es für Carlyle allerdings noch ist. Diese Heuchelei führen wir auch auf die Religion zurück, deren erstes Wort eine Lüge ist – oder fängt die Religion nicht damit an, daß sie uns etwas Menschliches zeigt und behauptet, das sei etwas Übermenschliches, Göttliches? Weil wir aber wissen, daß alle diese Lüge und Unsittlichkeit aus der Religion folgt, daß die religiöse Heuchelei, die Theologie der Urtypus aller andern Lügen und Heuchelei ist, so sind wir berechtigt, den Namen der Theologie auf die gesamte Unwahrheit und Heuchelei der Gegenwart auszudehnen, wie dies zuerst durch Feuerbach und B[runo] Bauer geschehen ist. Carlyle möge ihre Schriften lesen, wenn er zu wissen wünscht, woher die Unsittlichkeit kommt, die alle unsre Verhältnisse verpestet.
Eine neue Religion, ein pantheistischer Heroenkultus, Kultus der Arbeit sei zu stiften oder müsse erwartet werden; unmöglich; alle Möglichkeiten der Religion sind erschöpft; nach dem Christentum, nach der absoluten, d.h. abstrakten Religion, nach der »Religion als solcher« kann keine andre Form der Religion mehr aufkommen. Carlyle sieht selbst ein, daß das katholische, protestantische oder jedes beliebige andere Christentum unaufhaltsam dem Untergange entgegengeht; wenn er die Natur des Christentums kennte, so würde er einsehen, daß nach ihm keine andere Religion mehr möglich ist. Auch der Pantheismus nicht! Der Pantheismus ist selbst noch eine von seiner Prämisse nicht zu trennende Konsequenz des Christentums, wenigstens der moderne, spinozistische, schellingische, hegelische und auch der Carlylesche Pantheismus. Der Mühe, den Beweis hierfür zu liefern, überhebt mich wiederum Feuerbach.
Wie gesagt, auch uns ist es darum zu tun, die Haltlosigkeit, die innere Leere, den geistigen Tod, die Unwahrhaftigkeit des Zeitalters zu bekämpfen; mit allen diesen Dingen führen wir einen Krieg auf Leben und Tod, ebenso wie Carlyle, und haben weit mehr Wahrscheinlichkeit des Erfolgs für uns als er, weil wir wissen, was wir wollen. Wir wollen den Atheismus, wie ihn Carlyle schildert, aufheben, indem wir dem Menschen den Gehalt wiedergeben,[544] den er durch die Religion verloren hat; nicht als einen göttlichen, sondern als einen menschlichen Inhalt, und die ganze Wiedergabe beschränkt sich einfach auf die Erweckung des Selbstbewußtseins. Wir wollen alles, was sich als übernatürlich und übermenschlich ankündigt, aus dem Wege schaffen und dadurch die Unwahrhaftigkeit entfernen, denn die Prätension des Menschlichen und Natürlichen, übermenschlich, übernatürlich sein zu wollen, ist die Wurzel aller Unwahrheit und Lüge. Deswegen haben wir aber auch der Religion und den religiösen Vorstellungen ein für allemal den Krieg erklärt und kümmern uns wenig darum, ob man uns Atheisten oder sonst irgendwie nennt. Wenn indes Carlyles pantheistische Definition von Atheismus richtig wäre, so wären nicht wir, sondern unsere christlichen Gegner die wahren Atheisten. Uns fällt es nicht ein, die »ewigen inneren Tatsachen des Universums« anzugreifen, im Gegenteil, wir haben sie erst wahrhaft begründet, indem wir ihre Ewigkeit nachwiesen und sie vor der allmächtigen Willkür eines in sich selbst widersprechenden Gottes sicherstellten. Uns fällt es nicht ein, »die Welt, den Menschen und sein Leben für eine Lüge« zu erklären; im Gegenteil, unsere christlichen Gegner begehen diese Unsittlichkeit, wenn sie die Welt und den Menschen von der Gnade eines Gottes abhängig machen, der in Wirklichkeit nur durch die Abspiegelung des Menschen in der wüsten Hyle seines eigenen unentwickelten Bewußtseins erzeugt wurde. Uns fällt es nicht ein, die »Offenbarung der Geschichte« zu bezweifeln oder zu verachten, die Geschichte ist unser Eins und Alles und wird von uns höher gehalten als von irgendeiner andern, früheren, philosophischen Richtung, höher selbst als von Hegel, dem sie am Ende auch nur als Probe auf sein logisches Rechenexempel dienen sollte.
Der Hohn gegen die Geschichte, die Nichtachtung der Entwicklung der Menschheit ist ganz auf der andern Seite; es sind wiederum die Christen, die durch die Aufstellung einer aparten »Geschichte des Reiches Gottes« der wirklichen Geschichte alle innere Wesenhaftigkeit absprechen und diese Wesenhaftigkeit allein für ihre jenseitige, abstrakte und noch dazu erdichtete Geschichte in Anspruch nehmen, die durch die Vollendung der menschlichen Gattung in ihrem Christus die Geschichte ein imaginäres Ziel erreichen lassen, sie mitten in ihrem Laufe unterbrechen und nun die folgenden achtzehnhundert Jahre schon der Konsequenz halber für wüsten Unsinn und bare Inhaltslosigkeit ausgeben müssen. Wir reklamieren den Inhalt der Geschichte; aber wir sehen in der Geschichte nicht die Offenbarung »Gottes«, sondern des Menschen, und nur des Menschen. Wir haben nicht nötig, um die Herrlichkeit des menschlichen Wesens zu sehen, um die Entwicklung der Gattung in der Geschichte, ihren unaufhaltsamen Fortschritt, ihren stets sicheren Sieg[545] über die Unvernunft des einzelnen, ihre Überwindung alles scheinbaren Übermenschlichen, ihren harten, aber erfolgreichen Kampf mit der Natur bis zur endlichen Erringung des freien, menschlichen Selbstbewußtseins, der Einsicht von der Einheit des Menschen mit der Natur, und der freien, selbsttätigen Schöpfung einer auf rein menschliche, sittliche Lebensverhältnisse begründeten neuen Welt – um alles das in seiner Größe zu erkennen, haben wir nicht nötig, erst die Abstraktion eines »Gottes« herbeizurufen und ihr alles Schöne, Große, Erhabene und wahrhaft Menschliche zuzuschreiben; wir brauchen diesen Umweg nicht, wir brauchen dem wahrhaft Menschlichen nicht erst den Stempel des »Göttlichen« aufzudrücken, um seiner Größe und Herrlichkeit sicher zu sein. Im Gegenteil, je »göttlicher«, d.h. unmenschlicher etwas ist, desto weniger werden wir es bewundern können. Nur der menschliche Ursprung des Inhalts aller Religionen rettet ihnen hier und da noch etwas Anspruch auf Respekt; nur das Bewußtsein, daß selbst der tollste Aberglaube doch im Grunde die ewigen Bestimmungen des menschlichen Wesens enthalte, wenn auch in noch so verrenkter und verzerrter Form, nur dies Bewußtsein rettet die Geschichte der Religion und namentlich des Mittelalters vor der totalen Verwerfung und vor dem ewigen Vergessen, was sonst allerdings das Schicksal dieser »gottvollen« Geschichten sein würde. Je »gottvoller«, desto unmenschlicher, desto tierischer, und das »gottvolle« Mittelalter produzierte allerdings die Vollendung menschlicher Bestialität, Leibeigenschaft, jus primae noctis usw. Die Gottlosigkeit unseres Zeitalters, worüber Carlyle so sehr klagt, ist eben seine Gotterfülltheit. Hieraus wird auch klar, weshalb ich oben den Menschen als die Lösung des Sphinxrätsels angab. Die Frage ist bisher immer gewesen: Was ist Gott? und die deutsche Philosophie hat die Frage dahin gelöst: Gott ist der Mensch. Der Mensch hat sich nur selbst zu erkennen, alle Lebensverhältnisse an sich selbst zu messen, nach seinem Wesen zu beurteilen, die Welt nach den Forderungen seiner Natur wahrhaft menschlich einzurichten, so hat er das Rätsel unserer Zeit gelöst. Nicht in jenseitigen, existenzlosen Regionen, nicht über Zeit und Raum hinaus, nicht bei einem der Welt inwohnenden oder ihr entgegengesetzten »Gott« ist die Wahrheit zu finden, sondern viel näher, in des Menschen eigener Brust. Des Menschen eigenes Wesen ist viel herrlicher und erhabener als das imaginäre Wesen aller möglichen »Götter«, die doch nur das mehr oder weniger unklare und verzerrte Abbild des Menschen selbst sind. Wenn also Carlyle nach Ben Jonson sagt, der Mensch habe seine Seele verloren und fange jetzt an, ihren Mangel zu merken, so würde der richtige Ausdruck[546] dafür sein: der Mensch hat in der Religion sein eigenes Wesen verloren, sich seiner Menschheit entäußert und merkt jetzt, nachdem die Religion durch den Fortschritt der Geschichte wankend geworden ist, seine Leerheit und Haltlosigkeit. Es ist aber keine andre Rettung für ihn, er kann seine Menschheit, sein Wesen nicht anders wieder erobern als durch eine gründliche Überwindung aller religiösen Vorstellungen und eine entschiedene, aufrichtige Rückkehr nicht zu »Gott«, sondern zu sich selbst.
Alles das steht auch in Goethe, dem »Propheten«, und wer offene Augen hat, der kann es herauslesen. Goethe hatte nicht gern mit »Gott« zu tun; das Wort machte ihn unbehaglich, er fühlte sich nur im Menschlichen heimisch, und diese Menschlichkeit, diese Emanzipation der Kunst von den Fesseln der Religion macht eben Goethes Größe aus. Weder die Alten noch Shakespeare können sich in dieser Beziehung mit ihm messen. Aber diese vollendete Menschlichkeit, diese Überwindung des religiösen Dualismus kann nur von dem in ihrer ganzen historischen Bedeutung erfaßt werden, dem die andre Seite der deutschen Nationalentwicklung, die Philosophie, nicht fremd ist. Was Goethe erst unmittelbar, also in gewissem Sinne allerdings »prophetisch« aussprechen konnte, das ist in der neuesten deutschen Philosophie entwickelt und begründet. Auch Carlyle trägt Voraussetzungen in sich, die konsequenterweise zu dem oben entwickelten Standpunkt führen müssen. Der Pantheismus ist selbst nur die letzte Vorstufe zur freien, menschlichen Anschauungsweise. Die Geschichte, die Carlyle als die eigentliche »Offenbarung« hinstellt, enthält eben nur Menschliches, und nur durch einen Gewaltstreich kann ihr Inhalt der Menschheit entzogen und auf Rechnung eines »Gottes« gebracht werden. Die Arbeit, die freie Tätigkeit, in der Carlyle ebenfalls einen »Kultus« sieht. Ist wieder eine rein menschliche Angelegenheit und kann auch nur auf gewaltsame Weise mit »Gott« in Verbindung gebracht werden. Wozu fortwährend ein Wort in den Vordergrund drängen, das im besten Falle nur die Unendlichkeit der Unbestimmtheit ausdrückt und noch dazu den Schein des Dualismus aufrechterhält? ein Wort, das in sich selbst die Nichtigkeitserklärung der Natur und Menschheit ist?
Soviel für die innerliche, religiöse Seite des Carlyleschen Standpunktes. Die Beurteilung der äußerlichen, politisch-sozialen knüpft sich unmittelbar hieran; Carlyle hat noch Religion genug, um in einem Zustande der Unfreiheit zu bleiben; der Pantheismus erkennt immer noch etwas Höheres an als den Menschen als solchen. Daher sein Verlangen nach einer »wahrhaften Aristokratie«, nach »Heroen«; als ob diese Heroen im besten Falle mehr sein könnten als Menschen. Hätte er den Menschen als Menschen in seiner ganzen Unendlichkeit begriffen, so würde er nicht auf die Gedanken gekommen sein,[547] die Menschheit wieder in zwei Haufen Schafe und Böcke, Regierende und Regierte, Aristokraten und Canaille, Herren und Dummköpfe zu trennen, so würde er die richtige soziale Stellung des Talents nicht im gewaltsamen Regieren, sondern im Anregen und Vorangehen gefunden haben. Das Talent hat die Masse von der Wahrheit seiner Ideen zu überzeugen und wird sich dann nicht weiter um die ganz von selbst folgende Ausführung derselben zu plagen haben. Die Menschheit macht den Durchgang durch die Demokratie wahrlich nicht deshalb, um zuletzt wieder da anzukommen, von wo sie ausging. – Was Carlyle übrigens von der Demokratie sagt, läßt wenig zu wünschen übrig, wenn wir das soeben Angedeutete, die Unklarheit über das Ziel, den Zweck der modernen Demokratie, ausschließen. Die Demokratie ist allerdings nur Durchgangspunkt, aber nicht zu einer neuen, verbesserten Aristokratie, sondern zur wirklichen, menschlichen Freiheit; ebenso wie die Irreligiosität des Zeitalters zuletzt zur vollkommenen Emanzipation von allem Religiösen, Übermenschlichen und Übernatürlichen, nicht aber zu dessen Wiederherstellung leiten wird.
Carlyle erkennt die Unzulänglichkeit von »Konkurrenz, Nachfrage« und »Zufuhr, Mammonismus« usw. an und ist weit entfernt, die absolute Berechtigung des Grundbesitzes zu behaupten. Warum nun nicht den einfachen Schluß aus allen diesen Voraussetzungen gezogen und das Eigentum überhaupt verworfen? Wie will er die »Konkurrenz«, »Nachfrage und Zufuhr«, Mammonismus usw. vernichten, solange die Wurzel von alledem, das Privateigentum, besteht? »Organisation der Arbeit« kann dazu nichts tun, sie kann ohne eine gewisse Identität der Interessen gar nicht durchgeführt werden. Warum nun nicht konsequent durchgegriffen, die Identität der Interessen, den einzig menschlichen Zustand proklamiert und dadurch allen Schwierigkeiten, aller Unbestimmtheit und Unklarheit ein Ende gemacht?
Carlyle erwähnt in allen seinen Rhapsodien der englischen Sozialisten mit keiner Silbe. Solange er auf seinem jetzigen, gegen die Masse der Gebildeten Englands allerdings unendlich weit vorausgeschrittenen, aber immer noch abstrakt-theoretischen Standpunkt stehenbleibt, wird er sich mit ihren Bestrebungen freilich nicht besonders befreunden können. Die englischen Sozialisten sind rein praktisch und schlagen deshalb auch Maßregeln, Kolonisation der Heimat usw. in etwas Morrisons-pillenmäßiger Form vor; ihre Philosophie ist echt englisch, skeptisch, d.h., sie verzweifeln an der Theorie und halten sich für die Praxis an den Materialismus, auf den ihr ganzes soziales System basiert ist; alles das wird Carlyle wenig zusagen, aber er ist ebenso einseitig wie sie. Beide haben den Widerspruch nur innerhalb des Widerspruchs überwunden; die Sozialisten innerhalb der Praxis, Carlyle innerhalb[548] der Theorie, und auch da nur unmittelbar, während die Sozialisten über den praktischen Widerspruch entschieden und durch das Denken hinausgekommen sind. Die Sozialisten sind eben noch Engländer, wo sie bloß Menschen sein sollten, sie kennen von der philosophischen Entwicklung des Kontinents nur den Materialismus, nicht auch die deutsche Philosophie, das ist all ihr Mangel, und sie arbeiten direkt auf die Auflösung dieser Lücke hin, indem sie auf die Aufhebung der Nationalunterschiede hinarbeiten. Wir brauchen gar so eilig nicht zu sein, ihnen die deutsche Philosophie aufzudrängen, zu der sie von selbst kommen werden und die ihnen jetzt wenig nützen könnte. Jedenfalls sind sie aber die einzige Partei in England, die eine Zukunft hat, so schwach sie auch verhältnismäßig sein mögen. Die Demokratie, der Chartismus muß sich bald durchsetzen, und dann hat die Masse der englischen Arbeiter nur die Wahl zwischen dem Hungertode und dem Sozialismus.
Für Carlyle und seinen Standpunkt ist die Unkenntnis der deutschen Philosophie nicht so gleichgültig. Er ist für sich deutscher Theoretiker und dabei doch durch seine Nationalität an die Empirie gewiesen; er steht in einem schreienden Widerspruch, der nur dadurch zu lösen ist, daß er den deutsch-theoretischen Standpunkt bis zu seiner letzten Konsequenz, bis zur totalen Versöhnung mit der Empirie fortentwickelt. Carlyle hat nur noch einen, aber, wie alle Erfahrung in Deutschland gezeigt hat, einen schweren Schritt zu tun, um über den Widerspruch, in dem er sich bewegt, herauszukommen. Es ist zu wünschen, daß er ihn tue, und obwohl er nicht mehr jung ist, wird er ihn doch wohl tun können, denn der Fortschritt, den sein letztes Buch zeigt, beweist, daß er noch nicht aus der Entwicklung herausgetreten ist.
Nach allem diesem ist Carlyles Buch einer deutschen Übersetzung zehntausendmal eher wert als alle die Legionen englischer Romane, die täglich und stündlich nach Deutschland importiert werden, und ich kann zu einer solchen Übersetzung nur raten. Aber unsre Fabrikübersetzer mögen ihre Finger nur davon halten! Carlyle schreibt ein apartes Englisch, und ein Übersetzer, der nicht tüchtig Englisch und Anspielungen auf englische Verhältnisse versteht, würde die lächerlichsten Schnitzer machen.
Nach dieser, etwas allgemeinen Einleitung werde ich in den nächsten Heften dieser Zeitschrift genauer auf die Lage Englands und ihren Kern, die Lage der arbeitenden Klasse eingehen. Die Lage Englands ist von der unermeßlichsten Bedeutung für die Geschichte und für alle andern Länder; denn in sozialer Beziehung ist England allerdings allen andern Ländern weit voraus.[549]
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