Friedrich Engels

Einleitung

zu Karl Marx' »Klassenkämpfe in Frankreich 1848 bis 1850«

Die hiermit neu herausgegebene Arbeit war Marx' erster Versuch, ein Stück Zeitgeschichte vermittelst seiner materialistischen Auffassungsweise aus der gegebenen ökonomischen Lage zu erklären. Im »Kommunistischen Manifest« war die Theorie in großen Umrissen auf die ganze neuere Geschichte angewandt, in Marx' und meinen Artikeln der »Neuen Rheinischen Zeitung« war sie fortwährend benutzt worden zur Deutung gleichzeitiger politischer Ereignisse. Hier dagegen handelte es sich darum, im Verlauf einer mehrjährigen, für ganz Europa sowohl kritischen wie typischen Entwicklung den inneren Kausalzusammenhang nachzuweisen, also, im Sinn des Verfassers, die politischen Begebenheiten zurückzuführen auf Wirkungen von in letzter Instanz ökonomischen Ursachen.

Bei der Beurteilung von Ereignissen und Ereignisreihen aus der Tagesgeschichte wird man nie imstande sein, bis auf die letzten ökonomischen Ursachen zurückzugehn. Selbst heute noch, wo die einschlägige Fachpresse so reichlichen Stoff liefert, wird es sogar in England unmöglich bleiben, den Gang der Industrie und des Handels auf dem Weltmarkt und die in den Produktionsmethoden eintretenden Änderungen Tag für Tag derart zu verfolgen, daß man für jeden beliebigen Zeitpunkt das allgemeine Fazit aus diesen mannigfach verwickelten und stets wechselnden Faktoren ziehen kann, Faktoren, von denen die wichtigsten obendrein meist lange Zeit im verborgenen wirken, bevor sie plötzlich gewaltsam an der Oberfläche sich geltend machen. Der klare Überblick über die ökonomische Geschichte einer gegebenen Periode ist nie gleichzeitig, ist nur nachträglich, nach erfolgter Sammlung und Sichtung des Stoffes, zu gewinnen. Die Statistik ist hier notwendiges Hülfsmittel, und sie hinkt immer nach. Für die laufende Zeitgeschichte wird man daher nur zu oft genötigt sein, diesen den entscheidendsten Faktor als konstant, die am Anfang der betreffenden Periode[509] vorgefundene ökonomische Lage als für die ganze Periode gegeben und unveränderlich zu behandeln oder nur solche Veränderungen dieser Lage zu berücksichtigen, die aus den offen vorliegenden Ereignissen selbst entspringen und daher ebenfalls offen zutage liegen. Die materialistische Methode wird sich daher hier nur zu oft darauf beschränken müssen, die politischen Konflikte auf Interessenkämpfe der durch die ökonomische Entwicklung gegebenen, vorgefundenen Gesellschaftsklassen und Klassenfraktionen zurückzuführen und die einzelnen politischen Parteien nachzuweisen als den mehr oder weniger adäquaten politischen Ausdruck dieser selben Klassen und Klassenfraktionen.

Es ist selbstredend, daß diese unvermeidliche Vernachlässigung der gleichzeitigen Veränderungen der ökonomischen Lage, der eigentlichen Basis aller zu untersuchenden Vorgänge, eine Fehlerquelle sein muß. Aber alle Bedingungen einer zusammenfassenden Darstellung der Tagesgeschichte schließen unvermeidlich Fehlerquellen in sich; was aber niemanden abhält, Tagesgeschichte zu schreiben.

Als Marx diese Arbeit unternahm, war die erwähnte Fehlerquelle noch viel unvermeidlicher. Während der Revolutionszeit 1848/49 die sich gleichzeitig vollziehenden ökonomischen Wandlungen zu verfolgen oder gar den Überblick über sie zu behalten, war rein unmöglich. Ebenso während der ersten Monate des Exils in London, Herbst und Winter 1849/50. Das war aber gerade die Zeit, wo Marx die Arbeit begann. Und trotz dieser Ungunst der Umstände befähigte ihn seine genaue Kenntnis, sowohl der ökonomischen Lage Frankreichs vor wie der politischen Geschichte dieses Landes seit der Februarrevolution, eine Darstellung der Ereignisse zu geben, die deren inneren Zusammenhang in einer auch seitdem unerreichten Weise aufdeckt und die später von Marx selbst angestellte zweifache Probe glänzend bestanden hat.

Die erste Probe erfolgte dadurch, daß seit Frühjahr 1850 Marx wieder Muße gewann für ökonomische Studien und zunächst die ökonomische Geschichte der letzten zehn Jahre vornahm. Dadurch wurde ihm aus den Tatsachen selbst vollständig klar, was er bisher aus lückenhaftem Material halb aprioristisch gefolgert hatte: daß die Welthandelskrise von 1847 die eigentliche Mutter der Februar- und Märzrevolutionen gewesen und daß die seit Mitte 1848 allmählich wieder eingetretene, 1849 und 1850 zur vollen Blüte gekommene industrielle Prosperität die belebende Kraft der neuerstarkten europäischen Reaktion war. Das war entscheidend. Während in den drei ersten Artikeln (erschienen im Januar-, Februar- und Märzheft der »N[euen] Rh[einischen] Z[eitung]. Politisch-ökonomische Revue«, Hamburg 1850)[510] noch die Erwartung eines baldigen neuen Aufschwunges revolutionärer Energie durchgeht, bricht die von Marx und mir verfaßte geschichtliche Übersicht des letzten, Herbst 1850 erschienenen Doppelheftes (Mai bis Oktober) ein für allemal mit diesen Illusionen: »Eine neue Revolution ist nur möglich im Gefolge einer neuen Krisis. Sie ist aber auch ebenso sicher wie diese.« Das war aber auch die einzige wesentliche Änderung, die vorzunehmen war. An der in den früheren Abschnitten gegebenen Deutung der Ereignisse, an den darin hergestellten ursächlichen Zusammenhängen war absolut nichts zu ändern, wie die in derselben Übersicht gegebene Fortführung der Erzählung vom 10. März bis in den Herbst 1850 beweist. Ich habe diese Fortsetzung daher als vierten Artikel in gegenwärtigen Neudruck mit aufgenommen.

Die zweite Probe war noch härter. Gleich nach Louis Bonapartes Staatsstreich vom 2. Dezember 1851 bearbeitete Marx aufs neue die Geschichte Frankreichs vom Februar 1848 bis auf dies die Revolutionsperiode einstweilen abschließende Ereignis. (»Der 18. Brumaire des Louis Bonaparte«, dritte Auflage, Hamburg, Meißner 1885.) In dieser Broschüre ist die in unserer Schrift dargestellte Periode, wenn auch kürzer, wieder behandelt. Man vergleiche diese zweite, im Licht des über ein Jahr später fallenden, entscheidenden Ereignisses geschriebene Darstellung mit der unseren, und man wird finden, daß der Verfasser nur sehr wenig zu ändern hatte.

Was unserer Schrift noch eine ganz besondere Bedeutung gibt, ist der Umstand, daß sie zuerst die Formel ausspricht, in welcher die allgemeine Einstimmung der Arbeiterparteien aller Länder der Welt ihre Forderung der ökonomischen Neugestaltung kurz zusammenfaßt: die Aneignung der Produktionsmittel durch die Gesellschaft. Im zweiten Kapitel, gelegentlich des »Rechts auf Arbeit«, das bezeichnet wird als »erste unbeholfene Formel, worin sich die revolutionären Ansprüche des Proletariats zusammenfassen«, heißt es: »...aber hinter dem Recht auf Arbeit steht die Gewalt über das Kapital, hinter der Gewalt über das Kapital die Aneignung der Produktionsmittel ihre Unterwerfung unter die assoziierte Arbeiterklasse, also die Aufhebung der Lohnarbeit wie des Kapitals und ihres Wechselverhältnisses.« Hier ist also – zum erstenmal – der Satz formuliert, durch den der moderne Arbeitersozialismus sich scharf unterscheidet ebensowohl von allen verschiedenen Schattierungen des feudalen, bürgerlichen, kleinbürgerlichen etc. Sozialismus wie auch von der konfusen Gütergemeinschaft des utopischen wie des naturwüchsigen Arbeiterkommunismus. Wenn später[511] Marx die Formel ausdehnte auf Aneignung auch der Austauschmittel, so sprach diese Erweiterung, die übrigens nach dem »Kommunistischen Manifest« sich von selbst verstand, nur ein Korollar des Hauptsatzes aus. Einige weise Leute in England haben dann neuerdings noch hinzugefügt, daß auch die »Mittel der Verteilung« der Gesellschaft überwiesen werden sollen. Es würde diesen Herren schwer werden, zu sagen, welches denn diese, von den Produktions- und Austauschmitteln verschiedenen, ökonomischen Verteilungsmittel sind; es seien denn politische Verteilungsmittel gemeint, Steuern, Armenunterstützung, einschließlich der Sachsenwald- und andern Dotationen. Aber diese sind erstens ja schon jetzt Verteilungsmittel im Besitz der Gesamtheit, des Staates oder der Gemeinde, und zweitens wollen wir sie ja gerade abschaffen.


Als die Februarrevolution ausbrach, standen wir alle, was unsere Vorstellungen von den Bedingungen und dem Verlauf revolutionärer Bewegungen betraf, unter dem Bann der bisherigen geschichtlichen Erfahrung, namentlich derjenigen Frankreichs. Diese letztere war es ja gerade, die die ganze europäische Geschichte seit 1789 beherrscht hatte, von der auch jetzt wieder das Signal zur allgemeinen Umwälzung ausgegangen war. So war es selbstredend und unvermeidlich, daß unsere Vorstellungen von der Natur und dem Gang der in Paris, im Februar 1848, proklamierten »sozialen« Revolution, der Revolution des Proletariats, stark gefärbt waren durch die Erinnerungen der Vorbilder von 1789 – 1830. Und vollends, als die Pariser Erhebung ihr Echo fand in den siegreichen Aufständen von Wien, Mailand, Berlin, als ganz Europa bis an die russische Grenze in die Bewegung hineingerissen war; als dann im Juni in Paris die erste große Schlacht um die Herrschaft zwischen Proletariat und Bourgeoisie geschlagen wurde; als selbst der Sieg ihrer Klasse die Bourgeoisie aller Länder so erschütterte, daß sie wieder in die Arme der eben erst gestürzten monarchisch-feudalen Reaktion zurückfloh – da konnte unter damaligen Umständen für uns kein Zweifel sein, daß der große Entscheidungskampf angebrochen sei, daß er ausgefochten werden müsse in einer einzigen langen und wechselvollen Revolutionsperiode, daß er aber nur enden könne mit dem endgültigen Sieg des Proletariats.

Wir teilten nach den Niederlagen von 1849 keineswegs die Illusionen der um die provisorischen Zukunftsregierungen in partibus gruppierten Vulgärdemokratie. Diese rechnete auf einen baldigen, ein für allemal entscheidenden[512] Sieg des »Volkes« über die »Dränger«; wir auf einen langen Kampf, nach Beseitigung der »Dränger«, unter den in eben diesem »Volk« sich verbergenden gegensätzlichen Elementen. Die Vulgärdemokratie erwartete den erneuten Losbruch von heute auf morgen; wir erklärten schon Herbst 1850, daß wenigstens der erste Abschnitt der revolutionären Periode abgeschlossen und nichts zu erwarten sei bis zum Ausbruch einer neuen ökonomischen Weltkrise. Weswegen wir auch in Acht und Bann getan wurden als Verräter an der Revolution, von denselben Leuten, die nachher fast ohne Ausnahme ihren Frieden mit Bismarck gemacht haben – soweit Bismarck sie der Mühe wert fand.

Die Geschichte hat aber auch uns unrecht gegeben, hat unsere damalige Ansicht als eine Illusion enthüllt. Sie ist noch weiter gegangen: Sie hat nicht nur unseren damaligen Irrtum zerstört, sie hat auch die Bedingungen total umgewälzt, unter denen das Proletariat zu kämpfen hat. Die Kampfweise von 1848 ist heute in jeder Beziehung veraltet, und das ist ein Punkt, der bei dieser Gelegenheit näher untersucht zu werden verdient.

Alle bisherigen Revolutionen liefen hinaus auf die Verdrängung einer bestimmten Klassenherrschaft durch eine andere; alle bisherigen herrschenden Klassen waren aber nur kleine Minoritäten gegenüber der beherrschten Volksmasse. Eine herrschende Minorität wurde so gestürzt, eine andere Minorität ergriff an ihrer Stelle das Staatsruder und modelte die Staatseinrichtungen nach ihren Interessen um. Es war dies jedesmal die durch den Stand der ökonomischen Entwicklung zur Herrschaft befähigte und berufene Minoritätsgruppe, und gerade deshalb und nur deshalb geschah es, daß die beherrschte Majorität sich bei der Umwälzung entweder zugunsten jener beteiligte oder sich doch die Umwälzung ruhig gefallen ließ. Aber wenn wir vom jedesmaligen konkreten Inhalt absehen, war die gemeinsame Form aller dieser Revolutionen die, daß sie Minoritätsrevolutionen waren. Selbst wenn die Majorität dazu mittat, geschah es – wissentlich oder nicht – nur im Dienst einer Minorität; diese aber erhielt dadurch, oder auch schon durch die passive widerstandslose Haltung der Majorität, den Anschein, als sei sie Vertreterin des ganzen Volkes.

Nach dem ersten großen Erfolg spaltete sich in der Regel die siegreiche Minorität; die eine Hälfte war mit dem Erlangten zufrieden, die andere wollte noch weiter gehn, stellte neue Forderungen, die wenigstens teilweise auch im wirklichen oder scheinbaren Interesse der großen Volksmenge waren. Diese radikaleren Forderungen wurden auch in einzelnen Fällen durchgesetzt; häufig aber nur für den Augenblick, die gemäßigtere Partei erlangte wieder die Oberhand, das zuletzt Gewonnene ging ganz oder teilweise[513] wieder verloren; die Besiegten schrieen dann über Verrat oder schoben die Niederlage auf den Zufall. In Wirklichkeit aber lag die Sache meist so: Die Errungenschaften des ersten Sieges wurden erst sichergestellt durch den zweiten Sieg der radikaleren Partei; war dies und damit das augenblicklich Nötige erreicht, so verschwanden die Radikalen und ihre Erfolge wieder vom Schauplatz.

Alle Revolutionen der neueren Zeit, angefangen von der großen englischen des siebzehnten Jahrhunderts, zeigten diese Züge, die untrennbar schienen von jedem revolutionären Kampf. Sie schienen anwendbar auch auf die Kampfe des Proletariats um seine Emanzipation; anwendbar um so mehr, als gerade 1848 die Leute zu zählen waren, die auch nur einigermaßen verstanden, in welcher Richtung diese Emanzipation zu suchen war. Die proletarischen Massen selbst waren sogar in Paris noch nach dem Sieg absolut im unklaren über den einzuschlagenden Weg. Und doch war die Bewegung da, instinktiv, spontan, ununterdrückbar. War das nicht gerade die Lage, worin eine Revolution gelingen mußte, geleitet zwar von einer Minorität, aber diesmal nicht im Interesse der Minorität, sondern im eigentlichsten Interesse der Majorität? Waren in allen längeren revolutionären Perioden die großen Volksmassen so leicht durch bloße plausible Vorspiegelungen der vorwärtsdrängenden Minoritäten zu gewinnen, wie sollten sie weniger zugänglich sein für Ideen, die der eigenste Reflex ihrer ökonomischen Lage, die nichts anderes waren als der klare, verstandesgemäße Ausdruck ihrer von ihnen selbst noch unverstandenen, nur erst unbestimmt gefühlten Bedürfnisse? Allerdings hatte diese revolutionäre Stimmung der Massen fast immer, und meist sehr bald, einer Ermattung oder gar einem Umschlag ins Gegenteil Platz gemacht, sobald die Illusion verraucht, die Enttäuschung eingetreten war. Aber hier handelte es sich nicht um Vorspiegelungen, sondern um die Durchführung der eigentlichsten Interessen der großen Mehrheit selbst, Interessen, die zwar damals dieser großen Mehrheit keineswegs klar waren, die ihr aber bald genug klar werden mußten, im Laufe der praktischen Durchführung, durch den überzeugenden Augenschein. Und wenn nun gar, wie im dritten Artikel von Marx nachgewiesen, im Frühjahr 1850 die Entwicklung der aus der »sozialen« Revolution von 1848 erstandenen bürgerlichen Republik die wirkliche Herrschaft in den Händen der – obendrein monarchistisch gesinnten – großen Bourgeoisie konzentriert, dagegen alle anderen Gesellschaftsklassen, Bauern wie Kleinbürger, um das Proletariat gruppiert hatte, derart, daß bei und nach dem gemeinsamen Sieg nicht sie, sondern das durch Erfahrung gewitzigte Proletariat der entscheidende Faktor werden mußte – war da nicht alle Aussicht vorhanden für[514] den Umschlag der Revolution der Minorität in die Revolution der Majorität?

Die Geschichte hat uns und allen, die ähnlich dachten, unrecht gegeben. Sie hat klargemacht, daß der Stand der ökonomischen Entwicklung auf dem Kontinent damals noch bei weitem nicht reif war für die Beseitigung der kapitalistischen Produktion: sie hat dies bewiesen durch die ökonomische Revolution, die seit 1848 den ganzen Kontinent ergriffen und die große Industrie in Frankreich, Österreich, Ungarn, Polen und neuerdings Rußland erst wirklich eingebürgert, aus Deutschland aber geradezu ein Industrieland ersten Ranges gemacht hat – alles auf kapitalistischer, im Jahre 1848 also noch sehr ausdehnungsfähiger Grundlage. Gerade diese industrielle Revolution aber ist es, die überall erst Klarheit geschaffen hat in den Klassenverhältnissen, die eine Menge von aus der Manufakturperiode und im östlichen Europa selbst aus dem Zunfthandwerk her überkommenen Zwischenexistenzen beseitigt, eine wirkliche Bourgeoisie und ein wirkliches großindustrielles Proletariat erzeugt und in den Vordergrund der gesellschaftlichen Entwicklung gedrängt hat. Dadurch aber ist der Kampf dieser beiden großen Klassen, der 1848 außerhalb Englands nur in Paris und höchstens in einigen großen Industriezentren bestand, erst über ganz Europa verbreitet worden und hat eine Intensität erlangt, wie sie 1848 noch undenkbar war. Damals die vielen unklaren Sektenevangelien mit ihren Panazeen, heute die eine allgemein anerkannte, durchsichtig klare, die letzten Zwecke des Kampfes scharf formulierende Theorie von Marx; damals die nach Lokalität und Nationalität geschiedenen und verschiedenen, nur durch das Gefühl gemeinsamer Leiden verknüpften, unentwickelten, zwischen Begeisterung und Verzweiflung ratlos hin und her geworfenen Massen, heute die eine große internationale Armee von Sozialisten, unaufhaltsam vorschreitend, täglich wachsend an Zahl, Organisation, Disziplin, Einsicht und Siegesgewißheit. Wenn sogar diese mächtige Armee des Proletariats noch immer nicht das Ziel erreicht hat, wenn sie, weit entfernt, den Sieg mit einem großen Schlag zu erringen, in hartem, zähem Kampf von Position zu Position langsam vordringen muß, so beweist dies ein für allemal, wie unmöglich es 1848 war, die soziale Umgestaltung durch einfache Überrumpelung zu erobern.

Eine in zwei dynastisch-monarchische Sektionen gespaltene Bourgeoisie, die aber vor allen Dingen Ruhe und Sicherheit für ihre Geldgeschäfte verlangte, ihr gegenüber ein zwar besiegtes, aber immer noch drohendes Proletariat, um das sich Kleinbürger und Bauern mehr und mehr gruppierten – die stete Drohung eines gewaltsamen Ausbruchs, der bei alledem[515] keine Aussicht auf endgültige Lösung bot –, das war die Situation, wie geschaffen für den Staatsstreich des dritten, des pseudo-demokratischen Prätendenten Louis Bonaparte. Vermittelst der Armee machte dieser am 2. Dezember 1851 der gespannten Situation ein Ende und sicherte Europa die innere Ruhe, um es dafür mit einer neuen Ära der Kriege zu beglücken. Die Periode der Revolutionen von unten war einstweilen geschlossen; es folgte eine Periode der Revolutionen von oben.

Der imperialistische Rückschlag von 1851 gab einen neuen Beweis von der Unreife der proletarischen Aspirationen jener Zeit. Aber er selbst sollte die Bedingungen schaffen, unter denen sie reifen mußten. Die innere Ruhe sicherte die volle Entwicklung des neuen industriellen Aufschwungs, die Notwendigkeit, die Armee zu beschäftigen und die revolutionären Strömungen nach außen abzulenken, erzeugte die Kriege, worin Bonaparte, unter dem Vorwand, das »Nationalitätsprinzip« zur Geltung zu bringen, Annexionen für Frankreich zu ergattern suchte. Sein Nachahmer Bismarck adoptierte dieselbe Politik für Preußen; er machte seinen Staatsstreich, seine Revolution von oben 1866 gegenüber dem Deutschen Bund und Österreich und nicht minder gegenüber der preußischen Konfliktskammer. Aber Europa war zu klein für zwei Bonapartes, und so wollte es die geschichtliche Ironie, daß Bismarck den Bonaparte stürzte und daß der König Wilhelm von Preußen nicht nur das kleindeutsche Kaisertum herstellte, sondern auch die französische Republik. Das allgemeine Ergebnis aber war, daß in Europa die Selbständigkeit und innere Einigung der großen Nationen, mit Ausnahme Polens, eine Tatsache geworden war. Freilich innerhalb relativ bescheidener Grenzen – aber immerhin so weit, daß der Entwicklungsprozeß der Arbeiterklasse nicht mehr an nationalen Verwicklungen ein wesentliches Hemmnis fand. Die Totengräber der Revolution von 1848 waren ihre Testamentsvollstrecker geworden. Und neben ihnen erhob sich schon drohend der Erbe von 1848, das Proletariat, in der Internationale.

Nach dem Kriege von 1870/71 verschwindet Bonaparte vom Schauplatz, und Bismarcks Mission ist vollendet, so daß er nun wieder zum ordinären Junker herabsinken kann. Den Abschluß der Periode aber bildet die Kommune von Paris. Ein heimtückischer Versuch von Thiers, der Pariser Nationalgarde ihre Geschütze zu stehlen, rief einen siegreichen Aufstand hervor. Es zeigte sich wieder, daß in Paris keine andere Revolution mehr möglich ist als eine proletarische. Die Herrschaft fiel der Arbeiterklasse nach dem Sieg ganz von selbst, ganz unbestritten in den Schoß. Und wiederum zeigte sich, wie unmöglich auch damals noch, zwanzig Jahre nach der in unserer Schrift geschilderten Zeit, diese Herrschaft der Arbeiterklasse war.[516] Einerseits ließ Frankreich Paris im Stich, sah zu, wie es unter den Kugeln Mac-Mahons verblutete; andererseits verzehrte sich die Kommune im unfruchtbaren Streit der beiden sie spaltenden Parteien, der Blanquisten (Majorität) und der Proudhonisten (Minorität), die beide nicht wußten, was zu tun war. Ebenso unfruchtbar wie 1848 die Überrumpelung, blieb 1871 der geschenkte Sieg.

Mit der Pariser Kommune glaubte man das streitbare Proletariat endgültig begraben. Aber ganz im Gegenteil, von der Kommune und vom Deutsch-Französischen Krieg datiert sein gewaltigster Aufschwung. Die totale Umwälzung des gesamten Kriegswesens durch die Einrangierung der ganzen waffenfähigen Bevölkerung in die nur noch nach Millionen zu berechnenden Armeen, durch Feuerwaffen, Geschosse und Explosivstoffe von bisher unerhörter Wirkungskraft machte einerseits der bonapartistischen Kriegsperiode ein jähes Ende und sicherte die friedliche industrielle Entwickelung, indem sie jeden anderen Krieg unmöglich machte als einen Weltkrieg von unerhörter Greuelhaftigkeit und von absolut unberechenbarem Ausgang. Andrerseits trieb sie durch die in geometrischer Progression steigenden Heereskosten die Steuern zu unerschwinglicher Höhe und damit die ärmeren Volksklassen in die Arme des Sozialismus. Die Annexion von Elsaß-Lothringen, die nächste Ursache der tollen Konkurrenz in Kriegsrüstungen, mochte die französische und deutsche Bourgeoisie gegeneinander chauvinistisch verhetzen; für die Arbeiter beider Länder wurde sie ein neues Band der Einigung. Und der Jahrestag der Kommune von Paris wurde der erste allgemeine Festtag des gesamten Proletariats.

Der Krieg von 1870/71 und die Niederlage der Kommune hatten, wie Marx vorhergesagt, den Schwerpunkt der europäischen Arbeiterbewegung einstweilen von Frankreich nach Deutschland verlegt. In Frankreich brauchte es selbstverständlich Jahre, bis man sich von dem Aderlaß des Mai 1871 erholt hatte. In Deutschland dagegen, wo die obendrein von dem französischen Milliardensegen geradezu treibhausmäßig geförderte Industrie sich immer rascher entwickelte, wuchs noch weit rascher und nachhaltiger die Sozialdemokratie. Dank dem Verständnis, womit die deutschen Arbeiter das 1866 eingeführte allgemeine Stimmrecht benutzten, liegt das staunenerregende Wachstum der Partei in unbestreitbaren Zahlen offen vor aller Welt. 1871: 102.000, 1874: 352.000, 1877: 493.000 sozialdemokratische Stimmen. Dann kam die hohe obrigkeitliche Anerkennung dieser Fortschritte in Gestalt des Sozialistengesetzes; die Partei war momentan zersprengt, die Stimmenzahl sank 1881 auf 312000. Aber das war rasch überwunden, und nun, unter dem Druck des Ausnahmegesetzes, ohne Presse,[517] ohne äußere Organisation, ohne Vereins- und Versammlungsrecht, nun fing die rasche Ausbreitung erst recht an: 1884: 550000, 1887: 763000, 1890: 1427000 Stimmen. Da erlahmte die Hand des Staates. Das Sozialistengesetz verschwand, die sozialistische Stimmenzahl stieg auf 1.787.000, über ein Viertel der sämtlichen abgegebnen Stimmen. Die Regierung und die herrschenden Klassen hatten alle ihre Mittel erschöpft – nutzlos, zwecklos, erfolglos. Die handgreiflichen Beweise ihrer Ohnmacht, die die Behörden, vom Nachtwächter bis zum Reichskanzler, hatten einstecken müssen – und das von den verachteten Arbeitern! –, diese Beweise zählten nach Millionen. Der Staat war am Ende seines Lateins, die Arbeiter erst am Anfang des ihrigen.

Die deutschen Arbeiter hatten aber zudem ihrer Sache noch einen zweiten großen Dienst erwiesen neben dem ersten, der mit ihrer bloßen Existenz als die stärkste, die disziplinierteste, die am raschesten anschwellende sozialistische Partei gegeben war. Sie hatten ihren Genossen aller Länder , eine neue, eine der schärfsten Waffen geliefert, indem sie ihnen zeigten wie man das allgemeine Stimmrecht gebraucht.

Das allgemeine Stimmrecht hatte schon lange in Frankreich bestanden, war aber in Verruf gekommen durch den Mißbrauch, den die bonapartistische Regierung damit getrieben. Nach der Kommune war keine Arbeiterpartei vorhanden, es zu benutzen. Auch in Spanien bestand es seit der Republik, aber in Spanien war die Wahlenthaltung aller ernstlichen Oppositionsparteien von jeher Regel. Auch die Schweizer Erfahrungen mit dem allgemeinen Stimmrecht waren alles, nur nicht aufmunternd für eine Arbeiterpartei. Die revolutionären Arbeiter der romanischen Länder hatten sich angewöhnt, das Stimmrecht als einen Fallstrick, als ein Instrument der Regierungsprellerei anzusehn. In Deutschland war das anders. Schon das »Kommunistische Manifest« hatte die Erkämpfung des allgemeinen Wahlrechts, der Demokratie, als eine der ersten und wichtigsten Aufgaben des streitbaren Proletariats proklamiert, und Lassalle hatte diesen Punkt wieder aufgenommen. Als nun Bismarck sich genötigt sah, dies Wahlrecht einzuführen als einziges Mittel, die Volksmassen für seine Pläne zu interessieren, da machten unsere Arbeiter sofort Ernst damit und sandten August Bebel in den ersten konstituierenden Reichstag. Und von dem Tage an haben sie das Wahlrecht benutzt in einer Weise, die sich ihnen tausendfach gelohnt und die den Arbeitern aller Länder als Vorbild gedient hat. Sie haben das Wahlrecht, in den Worten des französischen marxistischen Programms, transformé, de moyen de duperie qu'il a été jusqu'ici, en instrument d'émancipation – es verwandelt aus einem Mittel der Prellerei, was es bisher[518] war, in ein Werkzeug der Befreiung. Und wenn das allgemeine Wahlrecht keinen anderen Gewinn geboten hätte, als daß es uns erlaubte, uns alle drei Jahre zu zählen; daß es durch die regelmäßig konstatierte, unerwartet rasche Steigerung der Stimmenzahl in gleichem Maße die Siegesgewißheit der Arbeiter wie den Schrecken der Gegner steigerte und so unser bestes Propagandamittel wurde; daß es uns genau unterrichtete über unsere eigene Stärke wie über die aller gegnerischen Parteien und uns dadurch einen Maßstab für die Proportionierung unserer Aktion lieferte, wie es keinen zweiten gibt – uns vor unzeitiger Zaghaftigkeit ebensosehr bewahrte wie vor unzeitiger Tollkühnheit –, wenn das der einzige Gewinn wäre, den wir vom Stimmrecht haben, dann wäre es schon über und übergenug. Aber es hat noch viel mehr getan. In der Wahlagitation lieferte es uns ein Mittel, wie es kein zweites gibt, um mit den Volksmassen da, wo sie uns noch ferne stehen, in Berührung zu kommen, alle Parteien zu zwingen, ihre Ansichten und Handlungen unseren Angriffen gegenüber vor allem Volk zu verteidigen; und dazu eröffnete es unseren Vertretern im Reichstag eine Tribüne, von der herab sie mit ganz anderer Autorität und Freiheit zu ihren Gegnern im Parlament wie zu den Massen draußen sprechen konnten als in der Presse und in Versammlungen. Was half der Regierung und der Bourgeoisie ihr Sozialistengesetz, wenn die Wahlagitation und die sozialistischen Reichstagsreden es fortwährend durchbrachen?

Mit dieser erfolgreichen Benutzung des allgemeinen Stimmrechts war aber eine ganz neue Kampfweise des Proletariats in Wirksamkeit getreten, und diese bildete sich rasch weiter aus. Man fand, daß die Staatseinrichtungen, in denen die Herrschaft der Bourgeoisie sich organisiert, noch weitere Handhaben bieten, vermittelst deren die Arbeiterklasse diese selben Staatseinrichtungen bekämpfen kann. Man beteiligte sich an den Wahlen für Einzellandtage, Gemeinderäte, Gewerbegerichte, man machte der Bourgeoisie jeden Posten streitig, bei dessen Besetzung ein genügender Teil des Proletariats mitsprach. Und so geschah es, daß Bourgeoisie und Regierung dahin kamen, sich weit mehr zu fürchten vor der gesetzlichen als vor der ungesetzlichen Aktion der Arbeiterpartei, vor den Erfolgen der Wahl als vor denen der Rebellion.

Denn auch hier hatten sich die Bedingungen des Kampfes wesentlich verändert. Die Rebellion alten Stils, der Straßenkampf mit Barrikaden, der bis 1848 überall die letzte Entscheidung gab, war bedeutend veraltet.

Machen wir uns keine Illusion darüber: Ein wirklicher Sieg des Aufstandes über das Militär im Straßenkampf, ein Sieg wie zwischen zwei Armeen, gehört zu den größten Seltenheiten. Darauf hatten aber die Insurgenten[519] es auch ebenso selten angelegt. Es handelte sich für sie nur darum, die Truppen mürbe zu machen durch moralische Einflüsse, die beim Kampf zwischen den Armeen zweier kriegführender Länder gar nicht oder doch in weit geringerem Grad ins Spiel kommen. Gelingt das, so versagt die Truppe oder die Befehlshaber verlieren den Kopf, und der Aufstand siegt. Gelingt das nicht, so bewährt sich, selbst bei einer Minderzahl auf seiten des Militärs, die Überlegenheit der besseren Ausrüstung und Schulung, der einheitlichen Leitung, der planmäßigen Verwendung der Streitkräfte und der Disziplin. Das Höchste, wozu es die Insurrektion in wirklich taktischer Aktion bringen kann, ist die kunstgerechte Anlage und Verteidigung einer einzelnen Barrikade. Gegenseitige Unterstützung, Aufstellung resp. Verwendung von Reserven, kurz, das schon zur Verteidigung eines Stadtbezirks, geschweige einer ganzen großen Stadt, unentbehrliche Zusammenwirken und Ineinandergreifen der einzelnen Abteilungen wird nur höchst mangelhaft, meist gar nicht zu erreichen sein; Konzentration der Streitkräfte auf einen entscheidenden Punkt fällt da von selbst weg. Damit ist die passive Verteidigung die vorwiegende Kampfform; der Angriff wird sich hier und da, aber auch nur ausnahmsweise, zu gelegentlichen Vorstößen und Flankenanfällen aufraffen, in der Regel aber sich nur auf Besetzung der von der zurückgehenden Truppe verlassenen Stellungen beschränken. Wozu noch auf Seite des Militärs die Verfügung über Geschütz und vollständig ausgerüstete und geübte Genietruppen kommt, Streitmittel, die den Insurgenten in fast allen Fällen gänzlich abgehn. Kein Wunder also, daß selbst die mit dem größten Heldenmut geführten Barrikadenkämpfe – Paris Juni 1848, Wien Oktober 1848, Dresden Mai 1849 – mit der Niederlage des Aufstandes endigten, sobald die angreifenden Führer, ungehemmt durch politische Rücksichten, nach rein militärischen Gesichtspunkten handelten und ihre Soldaten zuverlässig blieben.

Die zahlreichen Erfolge der Insurgenten bis 1848 sind sehr mannigfachen Ursachen geschuldet. In Paris Juli 1830 und Februar 1848, wie in den meisten spanischen Straßenkämpfen, stand zwischen den Insurgenten und dem Militär eine Bürgerwehr, die entweder direkt auf Seite des Aufstandes trat oder aber durch laue, unentschiedene Haltung die Truppen ebenfalls ins Schwanken brachte und dem Aufstand obendrein Waffen lieferte. Da, wo diese Bürgerwehr von vornherein gegen den Aufstand auftrat, wie Juni 1848 in Paris, wurde dieser auch besiegt. In Berlin 1848 siegte das Volk teils durch den bedeutenden Zuwachs neuer Streitkräfte während der Nacht und des Morgens am 19. [März], teils infolge der Erschöpfung und schlechten Verpflegung der Truppen, teils endlich infolge der erlahmenden[520] Befehlsgebung. In allen Fällen aber wurde der Sieg erkämpft, weil die Truppe versagte, weil den Befehlshabern die Entschlußfähigkeit ausging oder aber, weil ihnen die Hände gebunden waren.

Selbst in der klassischen Zeit der Straßenkämpfe wirkte also die Barrikade mehr moralisch als materiell. Sie war ein Mittel, die Festigkeit des Militärs zu erschüttern. Hielt sie vor, bis dies gelang, so war der Sieg erreicht; wo nicht, war man geschlagen. ‹Es ist dies der Hauptpunkt, der im Auge zu halten ist, auch wenn man die Chancen etwaiger künftiger Straßenkämpfe untersucht.›A1

Diese Chancen standenA2 schon 1849 ziemlich schlecht. Die Bourgeoisie hatte sich überall auf die Seite der Regierungen geschlagen, »Bildung und Besitz« begrüßten und bewirteten das gegen Aufstände ausziehende Militär. Die Barrikade hatte ihren Zauber verloren; der Soldat sah hinter ihr nicht mehr »das Volk«, sondern Rebellen, Wühler, Plünderer, Teiler, den Auswurf der Gesellschaft; der Offizier war mit der Zeit bewandert geworden in den taktischen Formen des Straßenkampfes, er marschierte nicht mehr geradeaus und ungedeckt auf die improvisierte Brustwehr los, sondern umging sie durch Gärten, Höfe und Häuser. Und das gelang jetzt, bei einigem Geschick, in neun Fällen von zehn.

Seitdem aber hat sich noch sehr viel verändert, und alles zugunsten des Militärs. Sind die Großstädte bedeutend größer geworden, so noch mehr die Armeen. Paris und Berlin sind seit 1848 nicht ums Vierfache gewachsen, ihre Garnisonen aber um mehr als das. Diese Garnisonen können vermittelst der Eisenbahnen in 24 Stunden sich mehr als verdoppeln, in 48 Stunden zu Riesenarmeen anschwellen. Die Bewaffnung dieser enorm verstärkten Truppenzahl ist unvergleichlich wirksamer geworden. 1848 der glatte Perkussions-Vorderlader, heute der kleinkalibrige Magazin-Hinterlader, der viermal so weit, zehnmal so genau und zehnmal so rasch schießt wie jener. Damals die relativ schwach wirkenden Vollkugeln und Kartätschen der Artillerie, heute die Perkussionsgranaten, deren eine hinreicht, die beste Barrikade zu zertrümmern. Damals die Spitzhacke des Pioniers zum Durchbrechen von Brandmauern, heute die Dynamitpatrone.

Auf seiten des Insurgenten dagegen sind alle Bedingungen schlechter geworden. Ein Aufstand, mit dem alle Volksschichten sympathisieren, kommt schwerlich wieder; im Klassenkampf werden sich wohl nie alle Mittelschichten so ausschließlich ums Proletariat gruppieren, daß die um[521] die Bourgeoisie sich scharende Reaktionspartei dagegen fast verschwinde. Das »Volk« wird also immer geteilt erscheinen, und damit fehlt ein gewaltiger, 1848 so äußerst wirksamer Hebel. KommenA3 auf Seite der Aufständischen mehr gediente Soldaten, so wird ihre Bewaffnung um so schwieriger. Die Jagd- und Luxusflinten der Waffenläden – selbst wenn nicht vorher von Polizei wegen durch Wegnahme eines Schloßteiles unbrauchbar gemacht – sind auch im Nahkampf dem Magazingewehr des Soldaten nicht entfernt gewachsen. Bis 1848 konnte man aus Pulver und Blei sich die nötige Munition selbst machen, heute ist die Patrone für jedes Gewehr verschieden und nur in dem einen Punkt überall gleich, daß sie ein Kunstprodukt der großen Industrie, also nicht ex tempore anzufertigen ist, daß also die meisten Gewehre nutzlos sind, solange man nicht die speziell für sie passende Munition hat. Und endlich sind die seit 1848 neugebauten Viertel der großen Städte, in langen, graden, breiten Straßen angelegt, wie gemacht für die Wirkung der neuen Geschütze und Gewehre. Der Revolutionär müßte verrückt sein, der sich die neuen Arbeiterdistrikte im Norden und Osten von Berlin zu einem Barrikadenkampf selbst aussuchte.

‹Heißt das, daß in Zukunft der Straßenkampf keine Rolle mehr spielen wird? Durchaus nicht. Es heißt nur, daß die Bedingungen seit 1848 weit ungünstiger für die Zivilkämpfer, weit günstiger für das Militär geworden sind. Ein künftiger Straßenkampf kann also nur siegen, wenn diese Ungunst der Lage durch andere Momente aufgewogen wird. Er wird daher seltener im Anfang einer großen Revolution vorkommen als im weiteren Verlauf einer solchen und wird mit größeren Kräften unternommen werden müssen. Diese aber werden dann wohl, wie in der ganzen großen französischen Revolution, am 4. September und 31. Oktober 1870 in Paris, den offenen Angriff der passiven Barrikadentaktik vorziehen.›

Versteht der Leser nun, weshalb die herrschenden GewaltenA4 uns platterdings dahin bringen wollen, wo die Flinte schießt und der Säbel haut? Warum man uns heute der Feigheit zeiht, weil wir uns nicht ohne weiteres auf die Straße begeben, wo wir der Niederlage im voraus gewiß sind? Warum man uns so in ständig anfleht, wir möchten doch endlich einmal Kanonenfutter spielen?

Die Herren verschwenden ihre Bittgesuche wie ihre Herausforderungen für nichts und wieder nichts. So dumm sind wir nicht. Sie könnten ebensogut von ihrem Feind im nächsten Krieg verlangen, er solle sich ihnen stellen in der Linienformation des alten Fritz oder in den Kolonnen ganzer Divisionen[522] à la Wagram und Waterloo, und das mit dem Steinschloßgewehr in der Hand. Haben sich die Bedingungen geändert für den Völkerkrieg, so nicht minder für den Klassenkampf. Die Zeit der Überrumpelungen. der von kleinen bewußten Minoritäten an der Spitze bewußtloser Massen durchgeführten Revolutionen ist vorbei. Wo es sich um eine vollständige Umgestaltung der gesellschaftlichen Organisation handelt, da müssen die Massen selbst mit dabei sein, selbst schon begriffen haben, worum es sich handelt, für was sie mit Leib und Leben eintretenA5. Das hat uns die Geschichte der letzten fünfzig Jahre gelehrt. Damit aber die Massen verstehen, was zu tun ist, dazu bedarf es langer, ausdauernder Arbeit, und diese Arbeit ist es gerade, die wir jetzt betreiben, und das mit einem Erfolg, der die Gegner zur Verzweiflung bringt.

Auch in den romanischen Ländern sieht man mehr und mehr ein, daß die alte Taktik revidiert werden muß. Überall hat man das deutsche Beispiel der Benutzung des Wahlrechts, der Eroberung aller uns zugänglichen Posten, nachgeahmt ‹, überall ist das unvorbereitete Losschlagen in den Hintergrund getreten›. In Frankreich, wo doch der Boden seit über hundert Jahren durch Revolution auf Revolution unterwühlt ist, wo es keine einzige Partei gibt, die nicht in Konspirationen, Aufständen und allen anderen revolutionären Aktionen das ihrige geleistet hätte; in Frankreich, wo infolgedessen die Armee der Regierung keineswegs sicher ist und wo überhaupt die Umstände für einen insurrektionellen Handstreich weit günstiger liegen als in Deutschland – selbst in Frankreich sehen die Sozialisten mehr und mehr ein, daß für sie kein dauernder Sieg möglich ist, es sei denn, sie gewinnen vorher die große Masse des Volks, d.h. hier die Bauern. Langsame Arbeit der Propaganda und parlamentarische Tätigkeit sind auch hier als nächste Aufgabe der Partei erkannt. Die Erfolge blieben nicht aus. Nicht nur sind eine ganze Reihe von Gemeinderäten erobert worden; in den Kammern sitzen 50 Sozialisten, und diese haben bereits drei Ministerien und einen Präsidenten der Republik gestürzt. In Belgien haben sich die Arbeiter voriges Jahr das Wahlrecht erzwungen und in einem Viertel der Wahlkreise gesiegt. In der Schweiz, in Italien, in Dänemark, ja selbst in Bulgarien und Rumänien sind die Sozialisten in den Parlamenten vertreten. In Österreich sind alle Parteien darüber einig, daß uns der Zutritt zum Reichsrat nicht länger verwehrt bleiben kann. Hineinkommen wir, das ist gewiß, man streitet nur noch darüber: durch welche Tür. Und selbst wenn in Rußland der berühmte Semski Sobor zusammentritt, jene[523] Nationalversammlung, gegen die der junge Nikolaus sich so vergebens sperrt, selbst da können wir mit Gewißheit darauf rechnen, daß wir auch dort vertreten sind.

Selbstverständlich verzichten unsere ausländischen Genossen nicht auf ihr Recht auf Revolution. Das Recht auf Revolution ist ja überhaupt das einzige wirklich »historische Recht«, das einzige, worauf alle modernen Staaten ohne Ausnahme beruhen, Mecklenburg eingeschlossen, dessen Adelsrevolution beendigt wurde 1755 durch den »Erbvergleich«, die noch heute gültige glorreiche Verbriefung des Feudalismus. Das Recht auf Revolution ist so sehr im allgemeinen Bewußtsein unumstößlich anerkannt, daß sogar der General von Boguslawski aus diesem Volksrecht allein das Recht auf den Staatsstreich ableitet, das er seinem Kaiser vindiziert.

Was aber auch in anderen Ländern geschehen möge, die deutsche Sozialdemokratie hat eine besondere Stellung und damit wenigstens zunächst auch eine besondere Aufgabe. Die zwei Millionen Wähler, die sie an die Urnen schickt, nebst den jungen Männern und den Frauen, die als Nichtwähler hinter ihnen stehen, bilden die zahlreichste, kompakteste Masse, den entscheidenden »Gewalthaufen« der internationalen proletarischen Armee. Diese Masse liefert schon jetzt über ein Viertel der abgegebnen Stimmen; und wie die Einzelwahlen für den Reichstag, die einzelstaatlichen Landtagswahlen, die Gemeinderats- und Gewerbegerichtswahlen beweisen, nimmt sie unablässig zu. Ihr Wachstum geht so spontan, so stetig, so unaufhaltsam und gleichzeitig so ruhig vor sich wie ein Naturprozeß. Alle Regierungseingriffe haben sich ohnmächtig dagegen erwiesen. Auf 21/4 Millionen Wähler können wir schon heute rechnen. Geht das so voran, so erobern wir bis Ende des Jahrhunderts den größeren Teil der Mittelschichten der Gesellschaft, Kleinbürger wie Kleinbauern, und wachsen aus zu der entscheidenden Macht im Lande, vor der alle andern Mächte sich beugen müssen, sie mögen wollen oder nicht. Dies Wachstum ununterbrochen in Gang zu halten, bis es dem gegenwärtigenA6 Regierungssystem von selbst über den Kopf wächst, ‹diesen sich täglich verstärkenden Gewalthaufen nicht in Vorhutkämpfen aufreiben, sondern ihn intakt zu erhalten bis zum Tag der Entscheidung,› das ist unsere Hauptaufgabe. Und da ist nur ein Mittel, wodurch das stetige Anschwellen der sozialistischen Streitkräfte in Deutschland momentan aufgehalten und selbst für einige Zeit zurückgeworfen werden könnte: ein Zusammenstoß auf großem Maßstab mit dem Militär, ein Aderlaß wie 1871 in Paris. Auf die Dauer würde das auch überwunden.[524] Eine Partei, die nach Millionen zählt, aus der Welt schießen, dazu reichen alle Magazingewehre von Europa und Amerika nicht hin. Aber die normale Entwickelung wäre gehemmt, ‹der Gewalthaufe wäre vielleicht im kritischen Moment nicht verfügbar,› der EntscheidungskampfA7 würde verspätet, verlängert und mit schwereren Opfern verknüpft.

Die Ironie der Weltgeschichte stellt alles auf den Kopf. Wir, die »Revolutionäre«, die »Umstürzler«, wir gedeihen weit besser bei den gesetzlichen Mitteln als bei den ungesetzlichen und dem Umsturz. Die Ordnungsparteien, wie sie sich nennen, gehen zugrunde an dem von ihnen selbst geschaffenen gesetzlichen Zustand. Sie rufen verzweifelt mit Odilon Barrot: la légalité nous tue, die Gesetzlichkeit ist unser Tod, während wir bei dieser Gesetzlichkeit pralle Muskeln und rote Backen bekommen und aussehen wie das ewige Leben. Und wenn wir nicht so wahnsinnig sind, ihnen zu Gefallen uns in den Straßenkampf treiben zu lassen, dann bleibt ihnen zuletzt nichts anderes, als selbst diese ihnen so fatale Gesetzlichkeit zu durchbrechen.

Einstweilen machen sie neue Gesetze gegen den Umsturz. Es ist wieder alles auf den Kopf gestellt. Diese Fanatiker des Anti-Umsturzes von heute, sind sie nicht selbst die Umstürzer von gestern? Haben wir etwa den Bürgerkrieg von 1866 heraufbeschworen? Haben wir den König von Hannover, den Kurfürsten von Hessen, den Herzog von Nassau aus ihren angestammten, legitimen Erblanden vertrieben und diese Erblande annektiert? Und diese Umstürzer des Deutschen Bundes und dreier Kronen von Gottes Gnaden beklagen sich über Umsturz? Quis tulerit Gracchos de seditione querentes? Wer könnte den Bismarckanbetern erlauben, auf den Umsturz zu schimpfen?

Mögen sie indes ihre Umsturzvorlagen durchsetzen, sie noch verschlimmern, das ganze Strafgesetz in Kautschuk verwandeln, sie werden nichts erreichen als den neuen Beweis ihrer Ohnmacht. Um der Sozialdemokratie ernstlich auf den Leib zu rücken, werden sie noch ganz andere Maßregeln ergreifen müssen. Dem sozialdemokratischen Umsturz, der augenblicklich davon lebtA8, daß er die Gesetze hält, können sie nur beikommen durch den ordnungsparteilichen Umsturz, der nicht leben kann, ohne daß er die Gesetze bricht. Herr Rößler, der preußische Bürokrat, und Herr von Boguslawski, der preußische General, haben ihnen den einzigen Weg gezeigt, auf dem man den Arbeitern, die sich nun einmal nicht in den Straßenkampf[525] locken lassen, vielleicht noch beikommen kann. Bruch der Verfassung, Diktatur, Rückkehr zum Absolutismus, regis voluntas suprema lex! Also nur Mut, meine Herren, hier hilft kein Maulspitzen, hier muß gepfiffen sein!

Vergessen Sie aber nicht, daß das Deutsche Reich, wie alle Kleinstaaten und überhaupt alle modernen Staaten, ein Produkt des Vertrages ist; des Vertrages erstens der Fürsten untereinander, zweitens der Fürsten mit dem Volk. Bricht der eine Teil den Vertrag, so fällt der ganze Vertrag, der andere Teil ist dann auch nicht mehr gebunden. ‹Wie uns das Bismarck 1866 so schön vorgemacht hat. Brechen Sie also die Reichsverfassung, so ist die Sozialdemokratie frei, kann Ihnen gegenüber tun und lassen, was sie will. Was sie aber dann tun wird – das bindet sie Ihnen heute schwerlich auf die Nase.›

Es sind nun fast aufs Jahr 1600 Jahre, da wirtschaftete im Römischen Reich ebenfalls eine gefährliche Umsturzpartei. Sie untergrub die Religion und alle Grundlagen des Staates; sie leugnete geradezu, daß des Kaisers Wille das höchste Gesetz, sie war vaterlandslos, international, sie breitete sich aus über alle Reichslande von Gallien bis Asien und über die Reichsgrenzen hinaus. Sie hatte lange unterirdisch, im verborgenen gewühlt; sie hielt sich aber schon seit längerer Zeit stark genug, offen ans Licht zu treten. Diese Umsturzpartei, die unter dem Namen der Christen bekannt war, hatte auch ihre starke Vertretung im Heer; ganze Legionen waren christlich. Wenn sie zu den Opferzeremonien der heidnischen Landeskirche kommandiert wurden, um dort die Honneurs zu machen, trieben die Umstürzlersoldaten die Frechheit so weit, daß sie zum Protest besondere Abzeichen – Kreuze – an ihre Helme steckten. Selbst die üblichen Kasernenschurigeleien der Vorgesetzten waren fruchtlos. Der Kaiser Diokletian konnte nicht länger ruhig zusehen, wie Ordnung, Gehorsam und Zucht in seinem Heere untergraben wurden. Er griff energisch ein, weil es noch Zeit war. Er erließ ein Sozialisten-, wollte sagen Christengesetz. Die Versammlungen der Umstürzler wurden verboten, ihre Saallokalitäten geschlossen oder gar niedergerissen, die christlichen Abzeichen, Kreuze etc., wurden verboten wie in Sachsen die roten Schnupftücher. Die Christen wurden für unfähig erklärt, Staatsämter zu bekleiden, nicht einmal Gefreite sollten sie werden dürfen. Da man damals noch nicht über so gut auf das »Ansehen der Person« dressierte Richter verfügte, wie Herrn von Köllers Umsturzvorlage sie voraussetzt, so verbot man den Christen kurzerhand, sich vor Gericht ihr Recht zu holen. Auch dies Ausnahmegesetz blieb wirkungslos. Die Christen rissen[526] es zum Hohn von den Mauern herunter, ja sie sollen dem Kaiser in Nikomedien den Palast über dem Kopf angezündet haben. Da rächte sich dieser durch die große Christenverfolgung des Jahres 303 unserer Zeitrechnung. Sie war die letzte ihrer Art. Und sie war so wirksam, daß siebzehn Jahre später die Armee überwiegend aus Christen bestand, und der nächstfolgende Selbstherrscher des gesamten Römerreichs, Konstantin, von den Pfaffen genannt der Große, das Christentum proklamierte als Staatsreligion.


London, 6. März 1895

F. Engels[527]


A1

Spitze Klammern bezeichnen Textstellen, die aus Rücksicht auf die »umsturzvorlagenfurchtsamlichen Bedenken« (Engels) des Berliner Parteivorstandes gestrichen wurden.

A2

(2. Fassung:) Die Chancen standen übrigens

A3

(2. Fassung:) Kämen auch

A4

(2. Fassung:) Klassen

A5

(2. Fassung:) für was sie eintreten sollen

A6

(2. Fassung:) herrschenden

A7

(2. Fassung:) die Entscheidung

A8

(2. Fassung:) dem es grade jetzt so gut bekommt

Quelle:
Karl Marx, Friedrich Engels: Werke. Berlin 1963, Band 22.
Entstanden zwischen 14. Februar und 6.März 1895 als Einleitung für die Einzelausgabe der »Klassenkämpfe in Frankreich«, die 1895 in Berlin erschien. Da der Vorstand der SPD ein erneutes Verbot der Partei fürchtete, mußte Engels den revolutionären Ton seiner Einleitung an verschiedenen Stellen abmildern. Der Text folgt deshalb den Setzerfahnen. Dort gestrichene Textstellen sind durch spitze Klammern gekennzeichnet; inhaltliche Änderungen werden als Lesarten mitgeteilt.
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