|
Unter den europäischen Fürsten, deren Persönlichkeit auch außer ihrem Lande Aufmerksamkeit erregt, sind besonders vier interessant: Nikolaus von Rußland, durch die Geradheit und unverhohlene Offenheit, mit der er zum Despotismus hinstrebt, Louis-Philippe, der den Machiavell unserer Zeit anpaßt, Viktoria von England, das vollendete Muster einer konstitutionellen Königin, und Friedrich Wilhelm IV., dessen Gesinnung, wie sie sich in den beiden Jahren seiner Regierung unverkennbar und deutlich dargelegt hat, hier einer genauem Betrachtung unterworfen werden soll. – – – – – Es ist nicht der Haß und die Rachlust einer von ihm zurückgesetzten und perhorreszierten, von seinen Beamten unterdrückten und gemißhandelten Partei, die hier sprechen sollen, nicht der bittere Groll, den die Zensur genährt hat, und der die Preßfreiheit benutzt, um Skandalgeschichten und Berliner Stadtgeklatsch an den Mann zu bringen. Der deutsche Bote beschäftigt sich mit andern Dingen. Aber bei der ehrlosen, niederträchtigen Schmeichelei, mit der die deutschen Fürsten und Völker täglich in den Zeitungen regaliert werden, ist es durchaus nötig, daß die Herrschaften einmal von einem andern Gesichtspunkt angesehen, ihre Handlungen und Gesinnungen, rücksichtslos wie die jedes andern, beurteilt werden. – – – – – – Die Reaktion im Staate begann in den letzten Jahren des vorigen Königs, sich mit der kirchlichen Reaktion zu vereinigen. Durch die Entwickelung des Gegensatzes zur absoluten Freiheit sah sich der orthodoxe Staat wie die orthodoxe Kirche genötigt, auf ihre Voraussetzungen zurückzugehen und das christliche Prinzip mit allen seinen Konsequenzen geltend zu machen. So ging die protestantische Rechtgläubigkeit auf den Katholizismus zurück, eine Phase, die in Leo und Krummacher ihre konsequentesten und würdigsten Vertreter findet, der protestantische Staat auf die konsequente christlich-feudalistische[446] Monarchie, wie sie Friedrich Wilhelm IV. ins Leben zu rufen trachtet.
Friedrich Wilhelm W. ist durchaus ein Produkt seiner Zeit, eine Gestalt, die ganz aus der Entwickelung des freien Geistes und seinem Kampfe gegen das Christentum, und nur hieraus zu erklären ist. Er ist die äußerste Konsequenz des preußischen Prinzips, das in ihm in seiner letzten Aufraffung, aber zugleich in seiner vollkommenen Kraftlosigkeit gegenüber dem freien Selbstbewußtsein zur Erscheinung kommt. Mit ihm ist die gedankenmäßige Entwickelung des bisherigen Preußens abgeschlossen; eine neue Gestaltung desselben ist nicht möglich, und wenn es Friedrich Wilhelm gelingt, sein System praktisch durchzusetzen, so muß Preußen entweder ein ganz neues Prinzip ergreifen – und dies kann nur das des freien Geistes sein – oder in sich selbst zusammenstürzen, wenn es zu jenem Fortschritt nicht die Kraft haben sollte.
Der Staat, auf den Friedrich Wilhelm IV. hinarbeitet, ist seinem eigenen Ausspruche gemäß der christliche. Die Form, in der das Christentum auftritt, sobald es sich wissenschaftlich zergliedern will, ist die Theologie. Das Wesen der Theologie, namentlich in unserer Zeit, ist die Vermittlung und Vertuschung absoluter Gegensätze. Selbst der konsequenteste Christ kann sich nicht von den Voraussetzungen unserer Zeit ganz emanzipieren; die Zeit nötigt ihn zu Modifikationen des Christentums; er trägt Prämissen in sich, deren Entwickelung zum Atheismus führen könnte. Daher kommt denn jene Gestalt der Theologie, die an B. Bauer ihren Zergliederer gefunden hat und die mit ihrer innern Unwahrheit und Heuchelei unser ganzes Leben durchdringt. Dieser Theologie entspricht auf dem Gebiete des Staates das jetzige Regierungssystem in Preußen. Ein System hat Friedrich Wilhelm IV., das ist unleugbar, ein vollkommen ausgebildetes System der Romantik, wie dies auch eine notwendige Folge seines Standpunktes ist; denn wer von diesem aus einen Staat organisieren will, muß mehr wie ein paar abgerissene, zusammenhangslose Ansichten zu seiner Verfügung haben. Das theologische Wesen dieses Systems wäre also vorläufig zu entwickeln.
Indem der König von Preußen es unternimmt, das Prinzip der Legitimität in seinen Konsequenzen durchzusetzen, schließt er sich nicht nur der historischen Rechtsschule an, sondern führt sie sogar weiter fort und kommt fast bei der Hallerschen »Restauration« an. Zuerst, um den christlichen Staat zu verwirklichen, muß er den fast heidnisch gewordenen rationalistischen Beamtenstaat mit christlichen Ideen durchdringen, den Kultus heben, die Teilnahme an demselben zu fördern suchen. Dies hat er denn auch nicht unterlassen. Die Maßregeln zur Förderung des Kirchenbesuchs im allgemeinen und namentlich bei den Beamten, die strengere Aufrechthaltung der[447] Sonntagsfeier überhaupt, die beabsichtigte Verschärfung der Ehescheidungsgesetze, die teilweise schon begonnene Epurierung der theologischen Fakultäten, das Gewicht, welches ein starker Glaube gegen schwache Kenntnisse bei den theologischen Prüfungen in die Waagschale legt, die Besetzung vieler Beamtenstellen mit vorzugsweise gläubigen Männern – und viele andere weltkundige Tatsachen gehören hieher. Sie können als Belege dienen, wie sehr Friedrich Wilhelm IV. dahin strebt, das Christentum unmittelbar in den Staat wiedereinzuführen, die Gesetze des Staates nach den Geboten der biblischen Moral einzurichten. Das ist aber nur das Erste, Unmittelbarste. Das System des christlichen Staates kann hierbei nicht stehenbleiben. Der weitere Schritt ist nun die Trennung der Kirche vom Staate, ein Schritt, der über den protestantischen Staat hinausgeht. In diesem ist der König summus episcopus und vereinigt in sich die höchste kirchliche und staatliche Macht; die Verschmelzung von Staat und Kirche, wie sie bei Hegel ausgesprochen ist, ist das letzte Ziel dieser Staatsform. Wie aber der ganze Protestantismus eine Konzession an die Weltlichkeit ist, so auch das Episkopat des Fürsten. Es ist eine Bestätigung und Rechtfertigung des päpstlichen Primats, indem es die Notwendigkeit eines sichtbaren Oberhaupts der Kirche anerkennt; auf der andern Seite aber erklärt es die irdische, weltliche Gewalt, die Staatsgewalt, für das absolut Höchste und ordnet ihm die kirchliche Gewalt unter. Es ist nicht etwa eine Gleichstellung des Weltlichen und Geistlichen, sondern eine Unterordnung des Geistlichen unter das Weltliche. Denn der Fürst war eher Fürst, als er summus episcopus wurde, und bleibt auch nachher vorzugsweise Fürst, ohne je einen geistlichen Charakter zu tragen. Die andere Seite der Sache ist freilich die, daß der Fürst jetzt alle Gewalt, irdische wie himmlische, in sich vereinigt, und, als irdischer Gott, die Vollendung des religiösen Staates darstellt.
Wie jene Unterordnung aber dem christlichen Geiste widerspricht, so ist es durchaus nötig, daß der Staat, der den Anspruch der Christlichkeit macht, der Kirche ihre Selbständigkeit ihm gegenüber wieder einräume. Diese Rückkehr zum Katholizismus ist nun einmal unmöglich; die absolute Emanzipation der Kirche ist ebenfalls unausführbar, ohne die Grundsäulen des Staates zu untergraben; es muß also hier ein Vermittlungssystem durchgeführt werden. Dies hat Friedrich Wilhelm IV. denn auch in Beziehung auf die katholische Kirche bereits in Ausführung gebracht, und was die protestantische Kirche betrifft, so beweisen auch hier sonnenklare Tatsachen, wie er in diesem Punkte denkt; besonders ist die Aufhebung des Unionszwanges[448] und die Befreiung der Altlutheraner von dem Drucke, den sie erdulden mußten, zu erwähnen. Bei der protestantischen Konfession tritt nun ein ganz eignes Verhältnis ein. Sie hat kein sichtbares Oberhaupt, überhaupt keine Einheit, sie zerfällt in viele Sekten, und so kann der protestantische Staat sie nicht anders freilassen, als indem er die verschiedenen Sekten als Korporationen faßt und ihnen so für ihre innren Angelegenheiten absolute Freiheit läßt. Dennoch aber läßt der Fürst sein Episkopat nicht fallen, sondern behält sich das Bestätigungsrecht, überhaupt die Souveränität vor, während er auf der andern Seite das Christentum als Macht über sich anerkennt und konsequent also auch vor der Kirche sich beugen muß. So bleiben nicht nur die Widersprüche, in denen der protestantische Staat sich bewegt, trotz aller scheinbaren Auflösung bestehen, sondern es tritt noch eine Vermischung mit den Prinzipien des katholischen Staats ein, die eine wunderliche Verwirrung und Prinziplosigkeit herbeiführen muß. Das ist nicht theologisch.
Der protestantische Staat hat durch Altenstein und Friedrich Wilhelm III., durch das Verfahren gegen den Erzbischof von Köln den Satz ausgesprochen, daß der konsequente Katholik unmöglich ein brauchbarer Staatsbürger sein könne. Dieser Satz, dessen Bewährung die ganze Geschichte des Mittelalters ist, gilt nicht nur für den protestantischen, sondern überhaupt für jeden Staat. Wer sein ganzes Sein und Leben zu einer Vorschule des Himmels macht, kann am irdischen nicht das Interesse haben, das der Staat von seinen Bürgern fordert. Der Staat macht den Anspruch, seinen Bürgern alles zu sein; er erkennt keine Macht über sich und stellt sich überhaupt als absolute Gewalt hin. Der Katholik erkennt aber Gott und seine Einrichtung, die Kirche, als das Absolute an und kann sich also nie ohne inneren Vorbehalt auf den Boden des Staatsstellen. Dieser Widerspruch ist unlösbar. Selbst der katholische Staat muß sich für den Katholiken der Kirche unterordnen, oder der Katholik zerfällt mit ihm; wieviel mehr also wird er mit dem nichtkatholischen Staat zerfallen sein? In dieser Hinsicht war das Verfahren der vorigen Regierung vollkommen konsequent und wohlbegründet; der Staat kann nur solange die Freiheit der katholischen Konfession ungeschmälert lassen, als sie sich den bestehenden Gesetzen unterwirft. – Dieser Zustand der Dinge konnte dem christlichen Könige nicht genügen. Aber was war zu machen? Der protestantische Staat konnte nicht hinter den katholischen Hohenstaufen zurückbleiben, und bei der Höhe des Bewußtseins, zu welcher Staat und Kirche sich aufgeschwungen hatten, war eine definitive Lösung nur durch eine Unterwerfung des einen oder des andern möglich – eine Unterwerfung, die für den sich beugenden[449] Teil einer Selbstvernichtung gleichgekommen wäre. Die Frage war prinzipiell geworden, und vor den Prinzipien hatte der einzelne Fall als solcher zurücktreten müssen. Was tat nun Friedrich Wilhelm IV.? Echt theologisch drängte er die vorlauten, unbequemen Prinzipien zurück, hielt sich rein an den vorliegenden Fall, der nun ohne die Prinzipien vollends verwickelt wurde, und suchte diesen durch Vermittlung aus dem Wege zu schaffen. Die Kurie gab nichts nach – wer also das blaue Auge davontrug, war der Staat. Das ist die berühmte glorreiche Lösung der Kölner Wirren, auf ihren wahren Gehalt reduziert.
Dieselben nur oberflächlich verdeckten Widersprüche, die Friedrich Wilhelm IV. in der Stellung des Staats zur Kirche hervorrief, suchte er auch in den innern Verhältnissen des Staats zu erwecken. Er konnte sich hier an die bereits bestehenden Theorien der historischen Rechtsschule anlehnen und hatte so ein ziemlich leichtes Spiel. Der Verlauf der Geschichte hatte in Deutschland das Prinzip der absoluten Monarchie zum herrschenden gemacht, die Rechte der alten Feudalstände vernichtet, den König zum Gott im Staate erhoben. Dazu waren in der Zeit von 1807 bis 1812 die Reste des Mittelalters mit Entschiedenheit angegriffen und zum großen Teil weggeräumt worden. Wieviel auch seitdem redressiert sein mochte, die Gesetzgebung jener Zeit und das unter dem Einflusse der Aufklärung abgefaßte Landrecht blieben die Grundlagen der preußischen Gesetzgebung. Ein solcher Zustand mußte unerträglich sein. Daher knüpfte Friedrich Wilhelm IV. überall an, wo er noch etwas Mittelalterliches vorfand. Der Majoratsadel wurde begünstigt und durch neue Adelsverleihungen, die unter Bedingung der Majoratsstiftung erteilt wurden, verstärkt; der Bürgerstand als solcher, getrennt vom Adel und den Bauern, als aparter, Handel und Industrie repräsentierender Stand angesehen und behandelt; die Sonderung der Korporationen, die Abschließung einzelner Handwerke und ihre Annäherung an das Zunftwesen begünstigt etc. Überhaupt zeigten alle Reden und Handlungen des Königs von vornherein, daß er eine besondere Vorliebe für das Korporationswesen hat, und gerade dies bezeichnet seinen mittelalterlichen Standpunkt am besten. Dies Nebeneinanderbestehen privilegierter Verbindungen, die in ihren innern Angelegenheiten mit einer gewissen Freiheit und Selbständigkeit verfahren können, deren jede durch gleiche Interessen in sich verbunden ist, die sich aber auch gegenseitig bekämpfen und übervorteilen – diese Zersplitterung der Staatskräfte bis zur völligen Auflösung des Staats, wie sie das deutsche Reich darstellt, macht eines der wesentlichsten Momente des Mittelalters aus. Es versteht sich aber von selbst, daß Friedrich Wilhelm IV. nicht gesonnen ist, den christlichen Staat bis zu[450] dieser Konsequenz durchzuführen. Er glaubt zwar, zur Herstellung des wahrhaft christlichen Staats berufen zu sein, in Wahrheit aber will er nur den theologischen Schein desselben, den Glanz und Schimmer, nicht aber die Not, den Druck, die Unordnung und Selbstvernichtung des christlichen Staats, kurz ein juste-milieu-Mittelalter; gerade wie etwa Leo auch nur den glänzenden Kultus, die Kirchenzucht usw. vom Katholizismus will, nicht aber den ganzen Katholizismus mit Haut und Haar. Darum ist Friedrich Wilhelm auch nicht absolut illiberal und gewaltsam in seinen Bestrebungen, Gott bewahre, er will seinen Preußen alle möglichen Freiheiten lassen, aber eben nur in der Gestalt der Unfreiheit, des Monopols und Privilegiums. Er ist kein entschiedener Feind der freien Presse, er wird sie geben, aber auch als Monopol des vorzugsweise wissenschaftlichen Standes. Er will die Repräsentation nicht aufheben oder verweigern, er will nur nicht, daß der Staatsbürger, als solcher, vertreten sei: er arbeitet auf eine Repräsentation der Stände hin, wie sie in den preußischen Provinzialständen schon teilweise ausgeführt ist. Kurz, er kennt keine allgemeinen, keine staatsbürgerlichen, keine Menschenrechte, er kennt nur Korporationsrechte, Monopole, Privilegien. Deren wird er eine Masse geben, soviel wie er kann, ohne seine absolute Gewalt durch positiv-gesetzliche Bestimmungen zu beschränken. Vielleicht auch mehr. Vielleicht hat er schon jetzt, trotz der Königsberger und Breslauer Bescheide, im geheimen die Absicht, wenn er seine theologische Politik weit genug durchgeführt hat, das Werk durch Erteilung einer reichsständisch-mittelalterlichen Verfassung zu krönen und seinen möglicherweise andersgesinnten Nachfolgern die Hände dadurch zu binden. Konsequent wäre es – ob aber seine Theologie das zuläßt, steht dahin.
Wie schwankend und haltlos, wie inkonsequent dies System schon in sich selbst ist, haben wir gesehen; die Einführung desselben in die Praxis muß notwendigerweise neue Schwankungen und Inkonsequenzen herbeiführen. Der kalte preußische Beamtenstaat, das Kontrollewesen, die schnarrende Staatsmaschine will von der schönen, glänzenden, vertrauensvollen Romantik nichts wissen. Das Volk steht im Durchschnitt auf einer noch zu niedrigen Stufe der politischen Bildung, um das System des christlichen Königs durchschauen zu können. Der Haß gegen die Privilegien des Adels, gegen die Anmaßungen der Geistlichkeit jeder Konfession ist indes zu tief eingewurzelt, als daß Friedrich Wilhelm bei ganz offenem Verfahren hieran nicht scheitern müßte. Daher das bisher befolgte ängstliche Sondierungssystem, mit welchem er zuerst die öffentliche Meinung ausforschte und dann immer noch Zeit genug behielt, eine zu anstößige Maßregel zurückzuziehen. Daher die Methode, seine Minister vorzuschieben und bei zu gewaltsamen Handlungen[451] derselben sie zu desavouieren, wobei nur das merkwürdig ist, daß ein preußischer Minister sich das gefallen läßt, ohne seine Entlassung einzureichen. Namentlich mit Rochow geschah dies früher, und binnen kurzem wird Herr Eichhorn an die Reihe kommen, obwohl ihn der König noch jüngst für einen Ehrenmann erklärt und seinen Handlungen Beifall gezollt hat. Ohne solche theologische Mittel würde Friedrich Wilhelm IV. längst die Liebe des Volks verscherzt haben, die er sich bis jetzt nur noch durch seinen offenen, jovialen Charakter, durch möglichst große Liebenswürdigkeit und Leutseligkeit und durch seinen rücksichtslosen Witz, der selbst gekrönte Häupter nicht verschonen soll, erhalten hat. Auch hütet er sich wohl, die zu anstößigen oder gar die unvermeidlichen schlimmen Seiten seines Systems herauszukehren; er spricht im Gegenteil davon, als wenn es lauter Pracht und Herrlichkeit und Freiheit wäre, und läßt sich nur da ganz gehen, wo sein System anscheinend liberaler ist als die bestehende preußische Bevormundung; wo er aber illiberal erscheinen würde, hält er sich klugerweise zurück. Zudem, während er den gewöhnlichen Konstitutionalismus stets mit den Ehrennamen: oberflächlich und ordinär belegt, hat er sich dessen Terminologie dennoch angeeignet und gebraucht sie in seinen Reden – soll man sagen als Ausdruck oder als Verdeckung seiner Ideen? – mit vielem Geschick. Genauso machen es die modernen Vermittlungstheologen, die sich ebenfalls politischer Redeweisen mit Vorliebe bedienen und sich so den Forderungen der Zeit zu akkommodieren wähnen. Bruno Bauer nennt das kurzweg Heuchelei.
Was die Finanzverwaltung unter Friedrich Wilhelm IV. betrifft, so hat er sich nicht an die Art von Zivilliste halten können, die sein Vater für sich festsetzte, indem dieser gesetzlich bestimmte, daß vom Ertrage der Domänen jährlich 21/2 Million Taler für den König und sein Haus bestimmt, das übrige aber, gleich allen andern Einkünften, zu Staatszwecken verwendet werden sollte. Man kann dem Könige nachrechnen, selbst wenn man seine Privateinkünfte hin zuzählt, daß er mehr verbraucht als 21/2 Millionen – und doch sollte von diesen noch die Apanage der andern Prinzen bestritten werden. Bülow-Cummerow hat zudem erwiesen, daß die sogenannte Rechnungsablage des preußischen Staats rein illusorisch sei. Es ist also durchaus Geheimnis, wie die Staatseinkünfte verwaltet werden. Der vielbesprochene Steuererlaß ist kaum der Rede wert und hätte schon unter dem vorigen Könige längst eintreten können, wenn dieser es nicht gescheut hätte, je in die Notwendigkeit einer Steuererhöhung zu kommen.
Ich glaube hiermit über Friedrich Wilhelm IV. genug gesagt zu haben. Es versteht sich bei seinem unbezweifelt gutmütigen Charakter von selbst, daß er in Dingen, die mit seiner Theorie nicht in Berührung stehen, aufrichtig[452] das tut, was die öffentliche Stimme von ihm fordert und was wirklich gut ist. Es bleibt nur noch die Frage, ob er jemals sein System durchsetzen werde? Darauf läßt sich glücklicherweise nur mit Nein antworten. Das preußische Volk hat seit einem Jahre, seit der angeblich freieren Bewegung der Presse, die im Augenblick wieder die unfreiste geworden ist, einen Aufschwung genommen, der mit der Geringfügigkeit jener Maßregel fast in gar keinem Verhältnis steht. Der Druck der Zensur hält in Preußen eine so ungemeine Masse von Kräften gefesselt, daß die geringste Erleichterung eine Unverhältnismä ßig starke Reaktion derselben hervorruft. Die öffentliche Meinung in Preußen konzentriert sich immer mehr auf zwei Dinge: Repräsentativverfassung und besonders Preßfreiheit; der König mag sich stellen wie er will, man wird ihm vorläufig die letztere abnötigen, und besitzt man diese, so muß die Verfassung in einem Jahre nachfolgen. Ist aber eine Repräsentation erst da, so läßt sich gar nicht absehen, welchen Gang Preußen dann nehmen wird. Eine der ersten Folgen wird die Zerstörung der russischen Allianz sein, wenn der König nicht schon früher genötigt sein sollte, diese Folge seines Prinzips fahrenzulassen. Dann aber kann noch manches folgen, und Preußens jetzige Lage hat viel Ähnlichkeit mit der Frankreichs vor – doch ich enthalte mich aller voreiligen Schlüsse.
F. O.[453]
Buchempfehlung
Der historische Roman aus der Zeit des Dreißigjährigen Krieges erzählt die Geschichte des protestantischen Pastors Jürg Jenatsch, der sich gegen die Spanier erhebt und nach dem Mord an seiner Frau von Hass und Rache getrieben Oberst des Heeres wird.
188 Seiten, 6.40 Euro
Buchempfehlung
Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Für den zweiten Band hat Michael Holzinger sechs weitere bewegende Erzählungen des Sturm und Drang ausgewählt.
424 Seiten, 19.80 Euro