V. Naturphilosophie. Zeit und Raum

[43] Wir kommen jetzt zur Naturphilosophie. Hier hat Herr Dühring wieder alle Ursache, mit seinen Vorgängern unzufrieden zu sein.

Die Naturphilosophie »sank so tief, daß sie zur wüsten, auf Unwissenheit beruhenden Afterpoesie wurde« und »der prostituierten Philosophasterei eines Schelling und ähnlicher, im Priestertum des Absoluten kramender und das Publikum mystifizierender Gesellen anheimgefallen« war. Die Ermüdung hat uns aus diesen »Mißgestalten« gerettet, aber sie hat bisher nur der »Haltlosigkeit« Platz gemacht; »und was das größere Publikum betrifft, so ist für dasselbe bekanntlich der Abtritt eines größern Scharlatans oft nur die Gelegenheit für einen kleinern, aber geschäftserfahrenen Nachfolger, die Produktionen jenes unter einem andern Aushängeschild zu wiederholen«. Die Naturforscher selbst verspüren wenig »Lust zu einem Ausflug in das Reich der weltumspannenden Ideen« und begehn daher lauter »zerfahrene Voreiligkeiten« auf theoretischem Gebiet.

Hier muß dringend Rettung geschaffen werden, und glücklicherweise ist Herr Dühring zur Stelle.

Um die nun folgenden Enthüllungen über die Entfaltung der Welt in der Zeit und ihre Begrenzung im Raum richtig zu würdigen, müssen wir wieder auf einige Stellen in der »Weltschematik« zurückgreifen.

Dem Sein wird, ebenfalls im Einklang mit Hegel (»Enzyklopädie« § 93), Unendlichkeit – was Hegel die schlechte Unendlichkeit nennt – zugeschrieben und nun diese Unendlichkeit untersucht.

[43] »Die deutlichste Gestalt einer widerspruchslos zu denkenden Unendlichkeit ist die unbeschränkte Häufung der Zahlen in der Zahlenreihe... Wie wir zu jeder Zahl noch eine weitere Einheit hinzufügen können, ohne jemals die Möglichkeit des Weiterzählens zu erschöpfen, so reiht sich auch an jeglichen Zustand des Seins ein fernerer an, und in der unbeschränkten Erzeugung dieser Zustände besteht die Unendlichkeit. Diese genau gedachte Unendlichkeit hat daher auch nur eine einzige Grundform mit einer einzigen Richtung. Wenn es nämlich auch für unser Denken gleichgültig ist, eine entgegengesetzte Richtung der Häufungen der Zustände zu entwerfen, so ist doch die rückwärts fortschreitende Unendlichkeit eben nur ein voreiliges Vorstellungsgebilde. Da sie nämlich in der Wirklichkeit in umgekehrter Richtung durchlaufen sein müßte, so würde sie bei jedem ihrer Zustände eine unendliche Zahlenreihe hinter sich haben. Hiermit wäre aber der unzulässige Widerspruch einer abgezählten unendlichen Zahlenreihe begangen, und so erweist es sich als widersinnig, noch eine zweite Richtung der Unendlichkeit vorauszusetzen.«

Die erste Folgerung, die aus dieser Auffassung der Unendlichkeit gezogen wird, ist, daß die Verkettung von Ursachen und Wirkungen in der Welt einmal einen Anfang gehabt haben muß:

»eine unendliche Zahl von Ursachen, die sich bereits aneinandergereiht haben soll, ist schon darum undenkbar, weil sie die Unzahl als abgezählt voraussetzt«.

Also eine Endursache erwiesen.

Die zweite Folgerung ist

»das Gesetz der bestimmten Anzahl: die Häufung des identischen irgendeiner realen Gattung von Selbständigkeiten ist nur als Bildung einer bestimmten Zahl denkbar«. Nicht nur die vorhandne Zahl der Weltkörper muß in jedem Zeitpunkt eine an sich bestimmte sein, sondern auch die Gesamtzahl aller in der Welt existierenden kleinsten selbständigen Teile der Materie. Letztere Notwendigkeit ist der wahre Grund, warum keine Zusammensetzung ohne Atome gedacht werden kann. Alle wirkliche Geteiltheit hat stets eine endliche Bestimmtheit und muß sie haben, wenn nicht der Widerspruch der abgezählten Unzahl eintreten soll. Nicht nur muß aus demselben Grund die bisherige Anzahl der Umläufe der Erde um die Sonne eine bestimmte, wenn auch nicht angebbare, sein, sondern alle periodischen Naturprozesse müssen irgendeinen Anfang gehabt haben, und alle Differenzenbildung, alle Mannigfaltigkeiten der Natur, die einander folgen, müssen in einem sich selbst gleichen Zustand wurzeln. Dieser kann ohne Widerspruch von Ewigkeit her existiert haben, aber auch diese Vorstellung wäre ausgeschlossen, wenn die Zeit an sich selbst aus realen Teilen bestände und nicht vielmehr bloß durch die ideelle Setzung der Möglichkeiten von unserm Verstand nach Belieben eingeteilt würde. Mit dem realen und in sich unterschiednen Zeitinhalt hat es eine andre Bewandtnis; diese wirkliche Erfüllung der Zeit mit unterscheidbar gearteten Tatsachen und die Existenzformen dieses Bereichs gehören eben, ihrer Unterschiedenheit wegen, dem Zählbaren an. Denken wir uns einen Zustand, der ohne Veränderungen ist und in seiner Sichselbstgleichheit gar keine Unterschiede der Folge darbietet, so[44] verwandelt sich auch der speziellere Zeitbegriff in die allgemeinere Idee des Seins. Was die Häufung einer leeren Dauer bedeuten soll, ist gar nicht erfindlich.

Soweit Herr Dühring, und er ist nicht wenig erbaut von der Bedeutung dieser Entdeckungen. Er hofft zunächst, daß man sie »mindestens nicht als eine geringfügige Wahrheit ansehn« wird; später aber heißt es:

»Man erinnere sich der höchst einfachen Wendungen, mit denen wir den Unendlichkeitsbegriffen und deren Kritik zu einer bisher ungekannten Tragweite verholfen haben... die durch die gegenwärtige Verschärfung und Vertiefung so einfach gestalteten Elemente der universellen Raum- und Zeitauffassung.«

Wir haben verholfen! Gegenwärtige Vertiefung und Verschärfung! Wer sind wir, und wann spielt unsre Gegenwart? Wer vertieft und verschärft?

»Thesis. Die Welt hat einen Anfang in der Zeit und ist dem Raum nach auch in Grenzen eingeschlossen. – Beweis: Denn man nehme an, die Welt habe der Zeit nach keinen Anfang, so ist bis zu jedem gegebnen Zeitpunkt eine Ewigkeit abgelaufen, und mithin eine unendliche Reihe aufeinanderfolgender Zustände der Dinge in der Welt verflossen. Nun besteht aber eben darin die Unendlichkeit einer Reihe, daß sie durch sukzessive Synthesis niemals vollendet sein kann. Also ist eine unendliche verflossene Weltreihe unmöglich, mithin ein Anfang der Welt eine notwendige Bedingung ihres Daseins, welches zuerst zu beweisen war. – In Ansehung des Zweiten nehme man wiederum das Gegenteil an, so wird die Welt ein unendliches gegebnes Ganzes von zugleich existierenden Dingen sein. Nun können wir die Größe eines Quantums, welches nicht innerhalb gewisser Grenzen jeder Anschauung gegeben wird, auf keine Art als nur durch die Synthese der Teile, und die Totalität eines solchen Quantums nur durch die vollendete Synthese oder durch wiederholte Hinzusetzung der Einheit zu sich selbst denken. Demnach, um sich die Welt, die alle Räume erfüllt, als ein Ganzes zu denken, müßte die sukzessive Synthese der Teile einer unendlichen Welt als vollendet angesehn, d.i. eine unendliche Zeit müßte, in der Durchzählung aller koexistierenden Dinge, als abgelaufen angesehn werden, welches unmöglich ist. Demnach kann ein unendliches Aggregat wirklicher Dinge nicht als ein gegebnes Ganzes, mithin auch nicht als zugleich gegeben angesehn werden. Eine Welt ist folglich der Ausdehnung im Raum nach nicht unendlich, sondern in ihre Grenzen eingeschlossen, welches das Zweite« (zu beweisen) »war.«

Diese Sätze sind buchstäblich kopiert aus einem wohlbekannten Buch, welches im Jahre 1781 zuerst erschien und betitelt ist: »Kritik der reinen Vernunft«, von Immanuel Kant, wo männiglich sie nachlesen kann im ersten Teil, zweite Abteilung, zweites Buch, zweites Hauptstück, zweiter Abschnitt: Erste Antinomie der reinen Vernunft. Herrn Dühring gehört hiernach lediglich der Ruhm, den Namen: Gesetz der bestimmten Anzahl, auf einen von Kant ausgesprochenen Gedanken geklebt und die Entdeckung gemacht zu haben, daß einmal eine Zeit war, wo es noch keine Zeit gab, wohl aber eine[45] Welt. Für alles übrige, also für alles, was in Herrn Dührings Auseinandersetzung noch einigen Sinn hat, sind »Wir« – Immanuel Kant, und die »Gegenwart« ist nur fünfundneunzig Jahre alt. Allerdings »höchst einfach«! Merkwürdige »bisher ungekannte Tragweite«!

Nun stellt aber Kant obige Sätze keineswegs als durch seinen Beweis erledigt auf. Im Gegenteil; auf der gegenüberstehenden Seite behauptet und beweist er das Entgegengesetzte: daß die Welt nach der Zeit keinen Anfang und nach dem Raum kein Ende habe; und darin setzt er grade die Antinomie, den unlösbaren Widerspruch, daß das eine ebenso beweisbar ist wie das andre. Leute von geringerm Kaliber wären vielleicht dadurch etwas bedenklich geworden, daß »ein Kant« hier eine unlösbare Schwierigkeit fand. Nicht so unser kühner Verfertiger »von Grund aus eigentümlicher Ergebnisse und Anschauungen«: was ihm von Kants Antinomie dienen kann, schreibt er unverdrossen ab und wirft den Rest beiseite.

Die Sache selbst löst sich sehr einfach. Ewigkeit in der Zeit, Unendlichkeit im Raum, besteht schon von vornherein und dem einfachen Wortsinne nach darin, nach feiner Seite hin ein Ende zu haben, weder nach vorn oder nach hinten, nach oben oder nach unten, nach rechts oder nach links. Diese Unendlichkeit ist eine ganz andre als die einer unendlichen Reihe, denn diese fängt von vornherein immer mit Eins, mit einem ersten Gliede an. Die Unanwendbarkeit dieser Reihenvorstellung auf unsern Gegenstand zeigt sich sofort, wenn wir sie auf den Raum anwenden. Die unendliche Reihe, ins Räumliche übersetzt, ist die von einem bestimmten Punkt in bestimmter Richtung ins Unendliche gezogne Linie. Ist damit die Unendlichkeit des Raums auch nur entfernt ausgedrückt? Im Gegenteil, es gehören allein sechs von diesem einen Punkt in dreifach entgegengesetzten Richtungen ausgezogne Linien dazu, um die Dimensionen des Raums zu begreifen; und dieser Dimensionen hätten wir hiernach sechs. Kant sah dies so gut ein, daß er seine Zahlenreihe auch nur indirekt, auf einem Umweg, auf die Räumlichkeit der Welt übertrug. Herr Dühring dagegen zwingt uns zur Annahme von sechs Dimensionen im Raum, und hat gleich nachher nicht Worte der Entrüstung genug über den mathematischen Mystizismus von Gauß, der sich nicht mit den gewöhnlichen drei Raumdimensionen begnügen wollte.

Auf die Zeit angewandt, hat die nach beiden Seiten endlose Linie oder Reihe von Einheiten einen gewissen bildlichen Sinn. Stellen wir uns aber die Zeit als eine von Eins angezählte oder von einem bestimmten Punkt ausgehende Linie vor, so sagen wir damit von vornherein, daß die Zeit einen Anfang hat: wir setzen voraus, was wir grade beweisen sollen. Wir geben[46] der Unendlichkeit der Zeit einen einseitigen, halben Charakter; aber eine einseitige, eine halbierte Unendlichkeit ist auch ein Widerspruch in sich, das grade Gegenteil von einer »widerspruchslos gedachten Unendlichkeit«. Über diesen Widerspruch kommen wir nur hinaus, wenn wir annehmen, daß die Eins, mit der wir anfangen, die Reihe zu zählen, der Punkt, von dem aus wir die Linie weitermessen, eine beliebige Eins in der Reihe, ein beliebiger Punkt in der Linie sind, von denen es für die Linie oder Reihe gleichgültig ist, wohin wir sie verlegen.

Aber der Widerspruch der »abgezahlten unendlichen Zahlenreihe«? Wir werden imstande sein, ihn näher zu untersuchen, sobald Herr Dühring uns das Kunststück vorgemacht haben wird, sie abzuzählen. Wenn er es fertiggebracht hat, von –∞ (minus Unendlich) bis Null zu zählen, dann mag er wiederkommen. Es ist ja klar, daß, wo auch immer er anfängt zu zählen, er eine unendliche Reihe hinter sich läßt und mit ihr die Aufgabe, die er lösen soll. Er kehre nur seine eigne unendliche Reihe 1 + 2 + 3 + 4... um und versuche, vom unendlichen Ende wieder nach Eins zu zählen; es ist augenscheinlich der Versuch eines Menschen, der gar nicht sieht, worum es sich handelt. Noch mehr. Wenn Herr Dühring behauptet, die unendliche Reihe der verflossenen Zeit sei abgezählt, so behauptet er damit, daß die Zeit einen Anfang hat; denn sonst könnte er ja gar nicht anfangen »abzuzählen«. Er schiebt also wieder als Voraussetzung unter, was er beweisen soll. Die Vorstellung der abgezählten unendlichen Reihe, mit andern Worten, das weltumspannende Dühringsche Gesetz der bestimmten Anzahl, ist also eine contradictio in adjecto, enthält einen Widerspruch in sich selbst, und zwar einen absurden Widerspruch.

Es ist klar: die Unendlichkeit, die ein Ende hat, aber keinen Anfang, ist nicht mehr und nicht weniger unendlich, als die, die einen Anfang hat, aber kein Ende. Die geringste dialektische Einsicht hätte Herrn Dühring sagen müssen, daß Anfang und Ende notwendig zusammengehören, wie Nordpol und Südpol, und daß, wenn man das Ende wegläßt, der Anfang eben das Ende wird – das eine Ende, das die Reihe hat, und umgekehrt. Die ganze Täuschung wäre unmöglich ohne die mathematische Gewohnheit, mit unendlichen Reihen zu operieren. Weil man in der Mathematik vom Bestimmten, Endlichen ausgehn muß, um zum Unbestimmten, Endlosen zu kommen, so müssen alle mathematischen Reihen, positive oder negative, mit Eins anfangen, sonst kann man nicht damit rechnen. Das ideelle Bedürfnis des Mathematikers ist aber weit davon entfernt, ein Zwangsgesetz für die reale Welt zu sein.

Übrigens wird Herr Dühring es nie fertigbringen, sich die wirkliche[47] Unendlichkeit widerspruchslos zu denken. Die Unendlichkeit ist ein Widerspruch und voll von Widersprüchen. Es ist schon ein Widerspruch, daß eine Unendlichkeit aus lauter Endlichkeiten zusammengesetzt sein soll, und doch ist dies der Fall. Die Begrenztheit der materiellen Welt führt nicht weniger zu Widersprüchen als ihre Unbegrenztheit, und jeder Versuch, diese Widersprüche zu beseitigen, führt, wie wir gesehn haben, zu neuen und schlimmeren Widersprüchen. Eben weil die Unendlichkeit ein Widerspruch ist, ist sie unendlicher, in Zeit und Raum ohne Ende sich abwickelnder Prozeß. Die Aufhebung des Widerspruchs wäre das Ende der Unendlichkeit. Das hatte Hegel schon ganz richtig eingesehn und behandelt daher auch die über diesen Widerspruch spintisierenden Herren mit verdienter Verachtung.

Gehn wir weiter. Also, die Zeit hat einen Anfang gehabt. Was war vor diesem Anfang? Die in einem sich selbst gleichen, unveränderlichen Zustand befindliche Welt. Und da in diesem Zustand keine Veränderungen aufeinanderfolgen, so verwandelt sich auch der speziellere Zeitbegriff in die allgemeinere Idee des Seins. Erstens geht es uns hier gar nichts an, welche Begriffe sich im Kopf des Herrn Dühring verwandeln. Es handelt sich nicht um den Zeitbegriff, sondern um die wirkliche Zeit, die Herr Dühring so wohlfeilen Kaufs keineswegs los wird. Zweitens mag sich der Zeitbegriff noch so sehr in die allgemeinere Idee des Seins verwandeln, so kommen wir damit keinen Schritt weiter. Denn die Grundformen alles Seins sind Raum und Zeit, und ein Sein außer der Zeit ist ein ebenso großer Unsinn, wie ein Sein außerhalb des Raums. Das Hegelsche »zeitlos vergangne Sein« und das neuschellingsche »unvordenkliche Sein« sind rationelle Vorstellungen verglichen mit diesem Sein außer der Zeit. Darum geht Herr Dühring auch sehr behutsam zu Werke: eigentlich ist es wohl eine Zeit, aber eine solche, die man im Grunde keine Zeit nennen kann: die Zeit besteht ja nicht an sich selbst aus realen Teilen und wird bloß von unserm Verstand nach Belieben eingeteilt – nur eine wirkliche Erfüllung der Zeit mit unterscheidbaren Tatsachen gehört dem Zählbaren an – was die Häufung einer leeren Dauer bedeuten soll, ist gar nicht erfindlich. Was diese Häufung bedeuten soll, ist hier ganz gleichgültig; es fragt sich, ob die Welt, in dem hier vorausgesetzten Zustand, dauert, eine Zeitdauer durchmacht? Daß nichts dabei herauskommt, eine solche inhaltslose Dauer zu messen, ebensowenig wie dabei, in den leeren Raum zwecklos und ziellos hinauszumessen, das wissen wir längst, und Hegel nennt ja auch, gerade wegen der Langweiligkeit dieses Verfahrens, diese Unendlichkeit die schlechte. Nach Herrn Dühring existiert die Zeit nur durch die Veränderung, nicht die Veränderung[48] in und durch die Zeit. Eben weil die Zeit von der Veränderung verschieden, unabhängig ist, kann man sie durch die Veränderung messen, denn zum Messen gehört immer ein von dem zu messenden Verschiednes. Und die Zeit, in der keine erkennbaren Veränderungen vorgehn, ist weit entfernt davon, keine Zeit zu sein; sie ist vielmehr die reine, von keinen fremden Beimischungen affizierte, also die wahre Zeit, die Zeit als solche. In der Tat, wenn wir den Zeitbegriff in seiner ganzen Reinheit, abgetrennt von allen fremden und ungehörigen Beimischungen erfassen wollen, so sind wir genötigt, alle die verschiednen Ereignisse, die neben- und nacheinander in der Zeit vor sich gehn, als nicht hierhergehörig beiseite zu setzen und uns somit eine Zeit vorzustellen, in der nichts passiert. Wir haben damit also nicht den Zeitbegriff in der allgemeinen Idee des Seins untergehn lassen, sondern wir sind damit erst beim reinen Zeitbegriff angekommen.

Alle diese Widersprüche und Unmöglichkeiten sind aber noch pures Kinderspiel gegen die Verwirrung, in die Herr Dühring mit seinem sich selbst gleichen Anfangszustand der Welt gerät. War die Welt einmal in einem Zustand, in dem absolut keine Veränderung in ihr vorging, wie konnte sie aus diesem Zustand zur Veränderung übergehn? Das absolut Veränderungslose, noch dazu, wenn es von Ewigkeit in diesem Zustand war, kann durch sich selbst unmöglich aus diesem Zustand herauskommen, in den der Bewegung und Veränderung übergehn. Es muß also von außen her, von außerhalb der Welt, ein erster Anstoß gekommen sein, der sie in Bewegung setzte. Der »erste Anstoß« ist aber bekanntlich nur ein andrer Ausdruck für Gott. Der Gott und das Jenseits, die Herr Dühring in seiner Weltschematik so schön abgetakelt zu haben vorgab, er bringt sie beide hier, verschärft und vertieft, selbst wieder in die Naturphilosophie.

Ferner. Herr Dühring sagt:

»Wo die Größe einem beharrlichen Element des Seins zukommt, wird sie in ihrer Bestimmtheit unverändert bleiben. Dies gilt... von der Materie und der mechanischen Kraft.«

Der erste Satz gibt, beiläufig gesagt, ein kostbares Beispiel von der axiomatisch-tautologischen Grandiloquenz des Herrn Dühring: Wo die Größe sich nicht verändert, da bleibt sie dieselbe. Also die Menge der mechanischen Kraft, die einmal in der Welt ist, bleibt ewig dieselbe. Wir sehn davon ab, daß, soweit dies richtig, in der Philosophie Descartes dies schon vor beinahe dreihundert Jahren gewußt und gesagt hat, und daß in der Naturwissenschaft die Lehre von der Erhaltung der Kraft seit zwanzig Jahren allgemein grassiert; daß Herr Dühring, indem er sie auf die mechanische[49] Kraft beschränkt, sie keineswegs verbessert. Wo aber war die mechanische Kraft zur Zeit des veränderungslosen Zustands? Auf diese Frage verweigert uns Herr Dühring hartnäckig jede Antwort.

Wo, Herr Dühring, war damals die sich ewig gleichbleibende mechanische Kraft, und was trieb sie? Antwort:

»Der Ursprungszustand des Universums, oder deutlicher bezeichnet, eines veränderungslosen, keine zeitliche Häufung von Veränderungen einschließenden Seins der Materie, ist eine Frage, die nur derjenige Verstand abweisen kann, der in der Selbstverstümmlung seiner Zeugungskraft den Gipfel der Weisheit sieht.«

Also: Entweder ihr nehmt meinen veränderungslosen Urzustand unbesehn hin oder ich, der zeugungsfähige Eugen Dühring, erkläre euch für geistige Eunuchen. Das mag allerdings manchen abschrecken. Wir, die wir von der Zeugungskraft des Herrn Dühring schon einige Beispiele gesehn haben, können uns erlauben, das elegante Schimpfwort vorderhand unerwidert zu lassen und nochmals zu fragen: Aber, Herr Dühring, wenn's gefällig ist, wie ist das mit der mechanischen Kraft?

Herr Dühring wird sofort verlegen.

In der Tat, stammelt er, »die absolute Identität jenes anfänglichen Grenzzustandes liefert an sich selbst kein Übergangsprinzip. Erinnern wir uns jedoch, daß es mit jedem kleinsten neuen Gliede in der uns wohlbekannten Daseinskette im Grunde eine gleiche Bewandtnis hat. Wer also in dem vorliegenden Hauptfall Schwierigkeiten erheben will, mag zusehn, daß er sie sich nicht bei weniger scheinbaren Gelegenheiten erlasse. Überdies steht die Einschaltungsmöglichkeit von allmählich graduierten Zwischenzuständen, und mithin die Brücke der Stetigkeit offen, um rückwärts bis zu dem Erlöschen des Wechselspiels zu gelangen. Rein begrifflich hilft freilich diese Stetigkeit nicht über den Hauptgedanken hinweg, aber sie ist uns die Grundform aller Gesetzmäßigkeit und jedes sonst bekannten Übergangs, so daß wir ein Recht haben, sie auch als Vermittlung zwischen jenem ersten Gleichgewicht und dessen Störung zu gebrauchen. Dächten wir uns nun aber das sozusagen (!) regungslose Gleichgewicht nach Maßgabe der Begriffe, die in unsrer heutigen Mechanik ohne sonderliche Anstandnahme (!) zugelassen werden, so ließe sich gar nicht angeben, wie die Materie zu dem Veränderungsspiel gelangt sein könnte.« Außer der Mechanik der Massen gebe es aber auch noch eine Verwandlung von Massenbewegung in Bewegung kleinster Teilchen, aber wie diese erfolge, »dafür haben wir bis jetzt kein allgemeines Prinzip zur Verfügung, und wir dürfen uns daher nicht wundern, wenn diese Vorgänge ein wenig ins Dunkle auslaufen«.

Das ist alles, was Herr Dühring zu sagen hat. Und in der Tat, wir müßten nicht nur in der Selbstverstümmelung der Zeugungskraft, sondern auch im blinden Köhlerglauben den Gipfel der Weisheit sehn, wollten wir uns mit diesen wahrhaft jammervollen faulen Ausflüchten und Redensarten[50] abspeisen lassen. Aus sich selbst, das gesteht Herr Dühring ein, kann die absolute Identität nicht zur Veränderung kommen. Aus sich selbst gibt es kein Mittel, wodurch das absolute Gleichgewicht in Bewegung überzugehn vermag. Was gibt's denn? Drei falsche faule Wendungen.

Erstens: Es sei ebenso schwer, von jedem kleinsten Gliede in der uns wohlbekannten Daseinskette zum nächsten den Übergang nachzuweisen. – Herr Dühring scheint seine Leser für Säuglinge zu halten. Der Nachweis der einzelnen Übergänge und Zusammenhänge der kleinsten Glieder in der Daseinskette macht eben den Inhalt der Naturwissenschaft aus, und wenn es dabei irgendwo hapert, so denkt niemand, selbst nicht Herr Dühring, daran, die vorgegangne Bewegung aus Nichts zu erklären, sondern stets nur aus der Übertragung, Verwandlung oder Fortpflanzung einer vorgängigen Bewegung. Hier aber handelt es sich eingestandnermaßen darum, die Bewegung aus der Bewegungslosigkeit, also aus Nichts entstehn zu lassen.

Zweitens haben wir die »Brücke der Stetigkeit«. Diese hilft uns freilich rein begrifflich nicht über die Schwierigkeiten hinweg, aber wir haben doch ein Recht, sie als Vermittlung zwischen der Bewegungslosigkeit und der Bewegung zu gebrauchen. Leider besteht die Stetigkeit der Bewegungslosigkeit darin, sich nicht zu bewegen; wie also damit Bewegung zu erzeugen ist, bleibt geheimnisvoller als je. Und wenn Herr Dühring seinen Übergang vom Nichts der Bewegung zur universellen Bewegung noch so sehr in unendlich kleine Teilchen zerlegt und ihm eine noch so lange Zeitdauer zuschreibt, so sind wir noch keinen Zehntausendstel Millimeter weiter vom Fleck. Von Nichts können wir nun einmal ohne Schöpfungsakt nicht zu Etwas kommen, und wäre das Etwas so klein wie ein mathematisches Differential. Die Brücke der Stetigkeit ist also nicht einmal eine Eselsbrücke, sie ist nur für Herrn Dühring passierbar.

Drittens. Solange die heutige Mechanik gilt, und diese ist nach Herrn Dühring einer der wesentlichsten Hebel zur Bildung des Denkens, läßt sich gar nicht angeben, wie man von der Bewegungslosigkeit zur Bewegung kommt. Aber die mechanische Wärmetheorie zeigt uns, daß Massenbewegung unter Umständen in Molekularbewegung umschlägt (obwohl auch hier Bewegung aus andrer Bewegung hervorgeht, nie aber aus Bewegungslosigkeit), und dies, deutet Herr Dühring schüchtern an, könnte möglicherweise eine Brücke bieten zwischen dem streng Statischen (Gleichgewichtlichen) und Dynamischen (sich Bewegenden). Aber diese Vorgänge laufen »ein wenig ins Dunkle aus«. Und im Dunklen ist es, wo Herr Dühring uns sitzen läßt.[51]

Dahin sind wir gekommen mit aller Vertiefung und Verschärfung, daß wir uns stets tiefer in stets verschärften Blödsinn vertieft haben und endlich anlanden, wo wir notwendig anlanden müssen – im »Dunkeln«. Das aber geniert Herrn Dühring wenig. Gleich auf der nächsten Seite hat er die Stirn zu behaupten, er habe

»den Begriff der sich selbst gleichen Beharrung unmittelbar aus dem Verhalten der Materie und der mechanischen Kräfte mit einem realen Inhalt ausstatten können«.

Und dieser Mann bezeichnet andere Leute als »Scharlatans«! Zum Glück bleibt uns bei all dieser hülflosen Verirrung und Verwirrung »im Dunkeln« noch ein Trost, und der ist allerdings herzerhebend:

»Die Mathematik der Bewohner andrer Weltkörper kann auf keinen andern Axiomen beruhen, als die unsrige!«

Quelle:
Karl Marx, Friedrich Engels: Werke. Berlin 1962, Band 20, S. 43-52.
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