[373] Seit fünfundzwanzig Jahren rüstet ganz Europa in bisher unerhörtem Maß. Jeder Großstaat sucht dem andern den Rang abzugewinnen in Kriegsmacht und Kriegsbereitschaft. Deutschland, Frankreich, Rußland erschöpfen sich in Anstrengungen, eins das andre zu überbieten. Gerade in diesem Augenblick mutet die deutsche Regierung dem Volk eine neue, so gewaltsame Kraftanspannung zu, daß selbst der gegenwärtige sanfte Reichstag davor zurückbebt. Ist es da nicht Torheit, von Abrüstung zu reden?
Und doch rufen in allen Ländern die Volksklassen, die fast ausschließlich die Masse der Soldaten zu stellen und die Masse der Steuern zu zahlen haben, nach Abrüstung. Und doch hat überall die Anstrengung den Grad erreicht, wo die Kräfte – hier die Rekruten, dort die Gelder, am dritten Ort beide – zu versagen beginnen. Gibt es denn keinen Ausweg aus dieser Sackgasse außer durch einen Verwüstungskrieg, wie die Welt noch keinen gesehn hat?
Ich behaupte: Die Abrüstung und damit die Garantie des Friedens ist möglich, sie ist sogar verhältnismäßig leicht durchführbar, und Deutschland, mehr als ein andrer zivilisierter Staat, hat zu ihrer Durchführung die, Macht wie den Beruf.
Nach dem Kriege von 1870/71 war die Überlegenheit des Systems der allgemeinen Dienstpflicht mit Reserve und Landwehr – selbst in seiner damaligen verkümmerten preußischen Gestalt – über das System der Konskription mit Stellvertretung endgültig dargetan. Alle kontinentalen Länder nahmen es, mehr oder weniger modifiziert, an. Das wäre an sich kein großer Schaden gewesen. Die Armee, die ihren Hauptrückhalt in den verheirateten Männern mittleren Alters hat, ist von Natur weniger offensiv, als die stark mit Einstehern – geworbenen Berufssoldaten – durchsetzte Konskriptionsarmee Louis-Napoleons war. Nun kam aber dazu die[373] Annexion von Elsaß-Lothringen, die den Frankfurter Frieden für Frankreich ebensosehr zu einem bloßen Waffenstillstand machte, wie der Tilsiter Friede dies für Preußen gewesen war. Und nun begann das fieberhafte Wettrüsten zwischen Frankreich und Deutschland, in welches allmählich auch Rußland, Österreich, Italien hineingezogen wurden.
Man begann damit, die Landwehrverpflichtung zu verlängern. In Frankreich erhielt die Territorialarmee eine Reserve von älteren Leuten, in Deutschland wurde das zweite Aufgebot der Landwehr und selbst der Landsturm wiederhergestellt. Und so ging's weiter, Schritt um Schritt, bis die von der Natur gesetzte Altersgrenze erreicht oder gar überschritten war.
Dann wurde die Rekrutenaushebung verstärkt und die dadurch nötig gewordnen neuen Ausbildungscadres errichtet; aber auch hier ist die Grenze fast oder ganz erreicht, in Frankreich sogar schon überschritten. Die letzten Aushebungsjahrgänge der französischen Armee schließen bereits eine ziemliche Anzahl junger Leute ein, die noch nicht oder überhaupt nicht den Strapazen des Dienstes gewachsen sind. Die englischen, hierin unparteiischen Offiziere, die den großen Manövern in der Champagne 1891 beiwohnten und die hohe Tüchtigkeit der heutigen französischen Armee vollauf und stellenweise bewundernd anerkannten, berichten einstimmig, daß eine unverhältnismäßig große Zahl junger Soldaten auf den Märschen und in den Gefechtsübungen liegenblieb. Und in Deutschland haben wir zwar unsre Reservebestände dienstfähiger Mannschaft noch nicht ganz erschöpft, aber dem abzuhelfen ist ja gerade die neue Militärvorlage da. Kurz, auch in dieser Beziehung stehn wir vor der Grenze der Leistungsfähigkeit.
Nun besteht gerade die moderne, die revolutionäre Seite des preußischen Wehrsystems in der Forderung, die Kraft jedes wehrfähigen Mannes für die ganze Dauer seines wehrfähigen Alters in den Dienst der nationalen Verteidigung zu stellen. Und das einzig Revolutionäre, das in der ganzen militärischen Entwicklung seit 1870 zu entdecken ist, liegt eben darin, daß man – oft genug wider Willen – sich genötigt gesehn hat, diese bisher nur in der chauvinistischen Phantasie erfüllte Forderung mehr und mehr wirklich durchzuführen. Weder an der Länge der Dienstverpflichtung, noch an der Einstellung aller wehrfähigen jungen Leute kann heute noch gerüttelt werden, am wenigsten von Deutschland, am allerwenigsten von der Sozialdemokratischen Partei, die im Gegenteil auch diese Forderung vollauf in die Praxis zu übersetzen in Deutschland allein imstande ist.
Es bleibt hiernach nur noch ein Punkt, wo das Bedürfnis nach Abrüstung den Hebel ansetzen kann: die Länge der Dienstzeit bei der Fahne. Und[374] hier liegt in der Tat der Punkt des Archimedes: Internationale Festsetzung, zwischen den Großmächten des Kontinents, des Maximums der aktiven Dienstzeit bei der Fahne für alle Waffengattungen, meinetwegen zuerst auf zwei Jahre, aber mit dem Vorbehalt sofortiger weiterer Herabsetzung, sobald man sich von der Möglichkeit überzeugt, und mit dem Milizsystem als Endziel. Und ich behaupte, daß gerade Deutschland vor allen berufen ist, diesen Antrag zu stellen, und daß Deutschland vor allen Vorteil daraus ziehn wird, daß es ihn stellt, selbst wenn er nicht angenommen wird.[375]