[376] Die internationale Feststellung der Maximaldienstzeit bei der Fahne würde die Armeen aller Mächte gleichmäßig treffen. Es wird allgemein angenommen, daß bei Armeen, deren Mannschaft noch kein Pulver gerochen, für die erste Zeit eines Feldzugs die Länge der aktiven Dienstzeit – innerhalb gewisser Grenzen – den besten Maßstab abgibt für ihre Verwendbarkeit in allen Kriegslagen, namentlich für den strategischen wie taktischen Angriff. Unsere Krieger von 1870 haben die furia francese des Bajonettangriffs der langgedienten kaiserlichen Infanterie und die Wucht der Kavallerie-Attacken von Wörth und Sedan hinreichend kennengelernt; sie haben aber auch bei Spichern, gleich im Beginn des Kriegs, bewiesen, daß sie – selbst in der Minderzahl – dieselbe Infanterie aus einer starken Stellung werfen konnten. Also im allgemeinen zugegeben: Innerhalb gewisser, je nach dem Nationalcharakter verschiedner Grenzen entscheidet bei nicht kriegsgewohnten Truppen die Länge der Dienstzeit bei der Fahne über die allgemeine Kriegsverwendbarkeit und namentlich über die Tüchtigkeit zur Offensive.
Gelingt es, eine Maximalgrenze dieser Dienstzeit international festzusetzen, so bleibt das relative Tüch tigkeitsverhältnis der verschiednen Armeen so ziemlich, was es heute ist. Was die eine an unmittelbarer Verwendbarkeit einbüßt, das büßen die andern auch ein. Soweit heute die Überrumpelung eines Staats durch den andern ausgeschlossen ist, soweit bleibt sie es auch dann. Der Unterschied der aktiven Dienstzeit z.B. in Frankreich und Deutschland ist bis jetzt nicht derart gewesen, daß er ins Gewicht fällt; auch unter der verkürzten Dienstzeit würde, ganz wie heute, alles darauf ankommen, wie in jeder der beiden Armeen die vereinbarte Dienstzeit benutzt wird. Im übrigen würde die relative Stärke der beiden[376] Armeen ganz dem Verhältnis der Bevölkerung beider Länder entsprechen, und nachdem die allgemeine Wehrpflicht einmal wirklich durchgeführt ist, wird bei Ländern annähernd gleicher ökonomischer Entwickelung (worauf der Prozentsatz der Untauglichen beruht) die Bevölkerungszahl immer den Maßstab der Heeresstärke abgeben. Da gibt es keine Kunststücke mehr wie die preußischen von 1813; der Rahm ist abgeschöpft.
Aber sehr viel hängt eben davon ab, wie die festgesetzte Dienstzeit ausgenutzt wird. Und da gibt es fast in allen Armeen Leute, die etwas erzählen könnten, wenn sie – dürften, denn die liebe Geldnot hat überall dazu gezwungen, einen Teil der Rekruten nur »notdürftig«, in ein paar Monaten, auszubilden. Da muß man sich auf das Wesentliche beschränken, da fliegt ein ganzer Haufen traditioneller Firlefanz in die Ecke, und da findet man, zu seiner eignen Überraschung, wie wenig Zeit dazu gehört, aus einem passabel gewachsenen jungen Mann einen Soldaten zu machen. Wie das bei der deutschen Ersatzreserve die einübenden Offiziere in Erstaunen versetzt, hat Bebel im Reichstag erzählt. In der österreichischen Armee gibt es Offiziere die Menge, die da behaupten, die Landwehr, die mit der deutschen Ersatzreserve ungefähr gleiche Dienstzeit hat, sei besser als die Linie. Kein Wunder. Hier fehlt die Zeit, die bei der Linie mit den herkömmlichen und deswegen geheiligten Narrheiten vertrödelt wird, und eben deswegen wird sie nicht vertrödelt.
Das deutsche Exerzierreglement für die Infanterie von 1888 beschränkt die taktischen Formationen für das Gefecht auf das Notwendige. Neues enthalt es nicht; die Gefechtsfähigkeit in allen Inversionsstellungen hatten schon die Österreicher nach 1859, die Bildung aller Bataillonskolonnen durch einfachen Zusammenschluß der vier Kompaniekolonnen hatten die Darmhessen um ebendieselbe Zeit eingeführt und mußten sich diese rationelle Formation nach 1866 von den Preußen wieder verbieten lassen. Im übrigen beseitigt das neue Reglement einen massenhaften Wust altfränkischer, ebenso nutzloser wie geheiligter Zeremonien; gerade ich habe absolut keinen Anlaß, daran zu kritteln. Ich hatte mir nämlich nach dem Krieg von 1870 den Luxus gestattet, ein Schema der der heutigen Kriegsführung angemessenen geschlossenen Formationen und Bewegungen der Kompanie und des Bataillons zu entwerfen, und war nicht wenig verwundert, dies Stück »Zukunftsstaat« in den betreffenden Abschnitten des neuen Reglements fast in allen Zügen verwirklicht zu finden.
Aber das Reglement ist eins, und die Ausführung ist ein andres. Das Kamaschenrittertum, das in allen Friedensepochen in der preußischen Armee floriert hat, bringt die in der Vorschrift abgeschaffte Zeitvergeudung[377] wieder herein durch die Hintertür der Parade. Da ist auf einmal der Paradedrill absolut notwendig als Gegengewicht gegen die Unbändigkeit der zerstreuten Gefechtsordnung, als einziges Mittel zur Schaffung wahrer Disziplin usw. usw. Das heißt nichts andres, als daß Ordnung und Disziplin nur dadurch herzustellen sind, daß man die Leute gänzlich nutzlose Dinge üben läßt. Allein die Abschaffung des »Stechschrittes« würde ganze Wochen für rationelle Übungen freisetzen, abgesehn davon, daß dann die fremden Offiziere eine deutsche Revue ansehn könnten, ohne sich das Lachen zu verbeißen.
Eine ähnliche veraltete Institution ist der Wachdienst, der auch nach althergebrachter Vorstellung dazu dient, die Intelligenz und besonders das Selbstdenken der Leute zu entwickeln, indem man ihnen die Kunst beibringt – falls sie sie nicht schon verstehn –, zwei Stunden lang auf Posten an gar nichts zu denken. Bei der heutigen allgemeinen Sitte, den Vorpostendienst im Terrain zu üben, hat das Postenstehn in der Stadt, wo es doch Sicherheitspolizei aller Art gibt, allen Sinn verloren. Man schaffe es ab, man wird mindestens zwanzig Prozent freie Dienstzeit fürs Militär und Sicherheit auf den Straßen fürs Zivil gewinnen.
Dann gibt's überall eine Menge Soldaten, die unter allerlei Vorwänden möglichst wenig Dienst tun: Kompaniehandwerker, Offiziersburschen usw. Da läßt sich auch manches ändern.
Ja – aber wie ist's mit der Reiterei? Die muß doch längere Dienstzeit haben? – Wünschenswert ist's gewiß, wenn man mit Rekruten zu tun hat, die weder reiten noch Pferde warten können. Aber da läßt sich auch manches tun. Wenn die Pferderationen weniger kärglich bemessen wären – die Pferde müssen ja zum Manöver erst aufgefüttert werden, um auf das Normalmaß von Kräften zu kommen! – und wenn bei jeder Schwadron eine Anzahl überzähliger Pferde vorhanden wären, so daß die Leute mehr und länger im Sattel üben könnten, kurz, wenn man einmal ernstlich daran ginge, die verkürzte Dienstzeit durch intensiveres Betreiben der wesentlichen und durch Beseitigung der überflüssigen Dinge aufzuwiegen, dann würde man bald finden, daß es auch so geht. Auch für das Remontereiten, auf das man sich jetzt so sehr stützt und dessen unbedingte Notwendigkeit ich gern zugebe, werden sich Mittel und Wege finden lassen. Und übrigens steht ja nichts im Wege, für so lange man es nötig hält, das System drei- oder vierjähriger Freiwilliger oder auch Kapitulanten für Reitertruppen beizubehalten und auszudehnen – gegen entsprechende Kompensationen in der Reserve- und Landwehrpflicht, ohne die man dergleichen nicht bekommt.[378]
Wenn man auf die militärischen Autoritäten hört, da ist das freilich anders. Da geht das alles absolut nicht, da darf an nichts gerüttelt werden, ohne daß alles zusammenbricht. Ich habe aber jetzt schon seit fünfzig Jahren so viel militärische Institutionen heute als unantastbar und geheiligt ausposaunen und morgen rücksichtslos in die Rumpelkammer werfen sehn, und zwar von genau denselben Autoritäten; ich habe ferner so oft gesehn, daß, was in der einen Armee über das Bohnenlied verhimmelt, in der andern unter der Kanone befunden wurde; ich habe so oft erlebt, daß die altbewährtesten und höchstgepriesenen Gewohnheiten und Einrichtungen vor dem Feind sich als Torheit erwiesen; ich habe endlich so oft erfahren, daß in jeder Armee eine besondere konventionelle Tradition besteht, die, für die unteren Chargen, den gemeinen Mann und das Publikum bestimmt, von den höheren Vorgesetzten gepflegt, von den selbstdenkenden Offizieren aber belächelt und von jedem Feldzug in Nichts aufgelöst wird – kurz, ich habe da so viel geschichtliche Erfahrungen gemacht, daß ich jedem rate, gegen nichts mißtrauischer zu sein als gegen militärisches »Fachurteil«.[379]
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