III

[380] Es ist ein sonderbarer Kontrast: Unsere höheren Militärs sind gerade in ihrem Fach meist so entsetzlich konservativ, und doch gibt es heute kaum ein andres Gebiet, das so revolutionär ist wie das militärische. Zwischen dem glatten Sechspfünder und der siebenpfündigen Haubitze, womit ich dazumal am Kupfergraben hantierte, und den heutigen gezogenen Hinterladungsgeschützen, zwischen dem damaligen grobkalibrigen glatten Gewehr und dem heutigen Fünfmillimeter-Magazinhinterlader scheinen Jahrhunderte zu liegen; und noch ist kein Abschluß da, noch jeden Tag wirft die Technik alles eben erst neu Eingeführte rücksichtslos über den Haufen. Jetzt beseitigt sie sogar den romantischen Pulverdampf und gibt damit dem Gefecht einen total veränderten, im voraus absolut unberechenbaren Charakter und Verlauf. Mit solchen Unberechenbarkeiten aber haben wir inmitten dieser ununterbrochenen Revolutionierung der technischen Grundlage der Kriegführung immer mehr uns abzufinden.

Noch vor vierzig Jahren ging der wirksame Feuerbereich der Infanterie bis 300 Schritt, auf welcher Entfernung ein einzelner eine ganze Bataillonssalve gefahrlos aushalten konnte, vorausgesetzt nur, die Leute zielten wirklich alle auf ihn. Der Feuerbereich der Feldartillerie war schon bei 1500 bis 1800 Schritte praktisch unwirksam. Im Deutsch-Französischen Krieg war die wirksame Schußweite des Gewehrs 600-1000 Schritt, die des Geschützes höchstens 3000-4000 Schritt. Die neuen, noch nicht kriegserprobten kleinkalibrigen Gewehre aber haben eine Tragweite, die sich der des Geschützes nähert, ihre Geschoßbolzen besitzen eine aufs Vier- bis Sechsfache gesteigerte Durchschlagskraft; das Magazingewehr gibt einer Sektion heute die Feuerwirksamkeit, die früher einer Kompanie zukam; die Artillerie kann sich zwar keiner gleichen Verlängerung der Schußweite rühmen, hat dagegen ihre Sprenggeschosse mit ganz neuen Explosivstoffen von früher ungeahnter Wirkung geladen; freilich ist noch nicht ganz sicher, wer die Wirkung wird aushalten müssen, der Schießende oder der Angeschossene.[380]

Und mitten in dieser unaufhörlichen, immer rascher vor sich gehenden Umwälzung des ganzen Kriegswesens haben wir militärische Autoritäten uns gegenüber, die noch vor fünf Jahren ihre Truppen in alle die konventionellen Feierlichkeiten und künstlichen Eiertänze der auf dem Schlachtfeld längst verstorbnen Lineartaktik des alten Fritz einpaukten und Reglements heilighielten, wonach man noch immer geschlagen werden konnte, bloß weil man rechts abmarschiert war und kein Raum da war, links aufzumarschieren! Autoritäten, die bis auf den heutigen Tag nicht einmal wagen, die blanken Knöpfe und Metallbeschläge der Ausrüstung des Soldaten anzutasten – ebensoviel Magnete zur Anziehung der Fünfmillimeterbolzen –, die die Ulanen mit breiten roten Brustlätzen und die Kürassiere zwar ohne Küraß – endlich! –, aber im weißen Rock ins Gewehrfeuer schicken und sich nur schwer, wie schwer, entschlossen haben, die zwar entsetzlich geschmacklosen, aber dafür um so heiliger gehaltenen Epauletten lieber auf dem Altar des Vaterlandes zu opfern als den Epaulettenträger selbst.

Es will mir scheinen, als läge es weder im Interesse des deutschen Volkes noch selbst der deutschen Armee, daß dieser konservative Aberglaube die Herrschaft im Heer behält, inmitten der ihn umwogenden technischen Revolution. Wir brauchen frischere, kühnere Köpfe, und ich müßte mich sehr täuschen, wenn es deren nicht genug gäbe unter unsern fähigsten Offizieren, nicht genug, die sich nicht sehnten nach Befreiung aus der Routine und Kamaschenwirtschaft, die in den zwanzig Friedensjahren wieder üppig emporgewuchert. Aber bis diese den Mut und die Gelegenheit finden, ihre Überzeugung geltend zu machen, solange müssen wir andern von draußen her in den Riß treten und unser möglichstes tun, zu beweisen, daß wir beim Militär auch etwas gelernt haben.

Ich habe weiter oben nachzuweisen versucht, daß die zweijährige Dienstzeit schon jetzt für alle Waffengattungen durchführbar ist, wenn man den Leuten das beibringt, was sie im Krieg brauchen können, und sie mit zeitraubenden traditionellen Antiquitäten verschont. Ich habe aber gleich von vornherein gesagt, daß es nicht bei den zwei Jahren bleiben soll. Es handelt sich vielmehr darum, daß der Antrag auf internationale zweijährige Dienstzeit nur der erste Schritt sein soll zu einer allmählichen weitren Herabsetzung der Dienstzeit – sage zunächst auf achtzehn Monate, zwei Sommer und ein Winter, – dann ein Jahr – dann...? Hier fängt der Zukunftsstaat an, das unverfälschte Milizsystem, und davon wollen wir weiterreden, wenn die Sache erst wirklich in Gang gebracht ist.

Und dies, daß die Sache in Gang gebracht werde, ist die Hauptsache.[381] Sieht man erst einmal der Tatsache ins Auge, daß die Herabsetzung der Dienstzeit eine Notwendigkeit ist für die ökonomische Existenz aller Länder und für die Erhaltung des europäischen Friedens, dann ist der nächste Gewinn die Einsicht, daß das Schwergewicht der militärischen Ausbildung in die Jugenderziehung zu legen ist.

Als ich nach zehnjährigem Exil wieder an den Rhein kam, war ich angenehm überrascht, auf den Höfen der Dorfschulen überall Barren und Reck aufgestellt zu sehen. Soweit sehr schön, leider ging's nicht sehr weit. Auf gut preußisch wurden die Geräte vorschriftsmäßig angeschafft, aber mit der Benutzung hat es immer gehapert. Die stand auf einem andern – oder vielmehr meist auf gar keinem Blatt. Ist es zuviel verlangt, daß damit endlich einmal Ernst gemacht werde? Daß der Schuljugend aller Klassen das Frei- und Gerüstturnen systematisch und gründlich beigebracht werde, solange die Glieder noch elastisch und gelenk sind, statt daß man, wie jetzt, die zwanzigjährigen Burschen im Schweiß ihres – und seines eignen – Angesichts vergebens abrackert, um die steifgearbeiteten Knochen, Muskeln und Bänder wieder locker und gefügig zu machen? Jeder Arzt wird euch sagen, daß die Teilung der Arbeit jeden ihr unterworfenen Menschen verkrüppelt, ganze Muskelreihen auf Kosten von andern entwickelt, und daß dies in jedem einzelnen Arbeitszweige verschieden wirkt, jede Arbeit ihre eigne Verkrüppelung erzeugt. Ist es da nicht Wahnsinn, die Leute erst verkrüppeln zu lassen und sie dann im Militär nachträglich wieder gerad' und beweglich zu machen? Gehört denn ein für den amtlichen Horizont unerreichbarer Grad von Einsicht dazu, daß man dreimal bessere Soldaten erhält, wenn man dieser Verkrüppelung in Volksschule und Fortbildungsschule rechtzeitig vorbeugt?

Das ist aber nur der Anfang. Den Jungen kann auf der Schule die Bildung und Bewegung militärisch geschlossener Trupps mit Leichtigkeit gelehrt werden. Der Schuljunge steht und geht von Natur gerade, namentlich wenn er Turnunterricht hat; wie unsere Rekruten stehn und wie schwer es ist, manchem das Geradestehn und Geradegehn beizubringen, das hat jeder von uns während seiner Dienstzeit gesehn. Die Bewegungen im Zug und in der Kompanie lassen sich in jeder Schule einüben, und mit einer in der Armee unbekannten Leichtigkeit. Was dem Rekruten eine verhaßte, oft fast unausführbare Schwierigkeit, das ist für den Schuljungen ein Spiel und eine Erheiterung. Die Fühlung und Richtung im Frontmarsch und Schwenken, die bei erwachsenen Rekruten so schwer zu erreichen sind, werden von Schuljungen spielend erlernt, sobald das Exerzieren systematisch mit ihnen betrieben wird. Wird ein guter Teil des Sommers zu[382] Märschen und Übungen im Terrain verwandt, so wird Körper und Geist der Jungen nicht weniger dabei gewinnen als der Militärfiskus, der ganze Monate Dienstzeit damit erspart. Daß solche militärische Spaziergänge sich ganz besonders dazu eignen, Aufgaben des Felddienstes von den Schülern lösen zu lassen, und daß dies in hohem Grade geeignet ist, die Intelligenz der Schüler zu entwickeln und sie zu befähigen, eine speziell militärische Ausbildung in relativ kurzer Zeit sich anzueignen, dafür hat mein alter Freund Beust, selbst ehemaliger preußischer Offizier, in seiner Schule in Zürich den praktischen Beweis geliefert. Bei dem heutigen komplizierten Stand des Kriegswesens ist ohne militärische Vorbildung der Jugend an einen Übergang zum Milizsystem gar nicht zu denken, und gerade auf diesem Gebiete sind die erfolgreichen Versuche von Beust von der höchsten Bedeutung.

Und nun erlaube man mir, eine ganz spezifisch preußische Saite anzuschlagen. Die Lebensfrage des preußischen Staates ist: Was soll aus dem ausgedienten Unteroffizier werden? Bisher hat man ihn verwandt zum Gendarmen, zum Grenzwächter, zum Portier, zum Schreiber, zum Zivilbeamten jeder nur möglichen Art; es gibt kein noch so armseliges Loch in der preußischen Bürokratie, wohinein man nicht zivilversorgungsberechtigte Unteroffiziere gesteckt. Nun gut: Ihr habt euch abgearbeitet bis aufs Blut, Unterkommen zu finden für die Unteroffiziere; ihr habt darauf bestanden, sie dahin zu stecken, wohin sie nicht taugten, sie zu Dingen zu verwenden, wovon sie nichts verstanden; sollte es nicht an der Zeit sein, sie endlich einmal in dem Fach unterzubringen, wovon sie etwas verstehn und wo sie etwas leisten können? Schulmeister sollen sie werden, aber nicht Lesen, Schreiben und Rechnen, sondern Turnen und Exerzieren sollen sie lehren, das wird ihnen und den Jungen guttun. Und wenn die Unteroffiziere erst aus der Heimlichkeit der Kaserne und Militärgerichtsbarkeit ans Tageslicht des Schulhofes und des bürgerlichen Strafprozesses versetzt sind, dann, wette ich, bringt unsere rebellische Schuljugend auch dem ärgsten ehemaligen Soldatenschinder Mores bei.[383]

Quelle:
Karl Marx, Friedrich Engels: Werke. Berlin 1963, Band 22, S. 380-384.
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