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[387] Wir kommen jetzt auf Rußland. Und da ist es, grade herausgesagt, ziemlich gleichgültig, nicht nur, ob Rußland einen Vertrag zur allmählichen gleichmäßigen Herabsetzung der Dienstzeit einhält, sondern selbst, ob es ihn überhaupt eingeht. Wir können Rußland in Beziehung auf unsern Fragepunkt in der Tat fast ganz außer acht lassen, und zwar aus folgenden Gründen.

Das russische Reich enthält zwar über hundert Millionen Menschen, also reichlich doppelt soviel wie das Deutsche Reich, ist aber weit entfernt davon, eine annähernd der deutschen gleichkommende militärische Angriffskraft zu besitzen. Die fünfzig Millionen in Deutschland sind zusammengedrängt auf 540000 Quadratkilometer; die höchstens 90 bis 100 Millionen in Rußland, die militärisch für uns in Betracht kommen, sind zerstreut über, mäßig berechnet, 3 1/2 Millionen Quadratkilometer; der Vorteil, der den Deutschen aus dieser weit größern Bevölkerungsdichtigkeit erwächst, wird noch bedeutend gesteigert durch das unvergleichlich bessere Eisenbahnnetz. Trotzdem bleibt die Tatsache, daß hundert Millionen auf die Dauer mehr Soldaten stellen können als fünfzig. Es wird, wie die Dinge liegen, längere Zeit kosten, bis sie kommen; aber kommen müssen sie schließlich doch. Was dann?

Zu einer Armee gehören nicht nur Rekruten, sondern auch Offiziere. Und damit sieht es in Rußland schofel aus. In Rußland kommen für den Offiziersrang nur der Adel und die Bürgerschaft der Städte in Betracht; der Adel ist verhältnismäßig sehr wenig zahlreich, der Städte sind wenige, höchstens der zehnte Mann wohnt in einer Stadt, und von diesen Städten verdienen die wenigsten den Namen; die Zahl der Mittelschulen und der sie besuchenden Schüler ist äußerst gering; wo sollen da die Offiziere herkommen für alle die Mannschaften?[387]

Eines schickt sich nicht für alle. Das System der allgemeinen Wehrpflicht setzt einen gewissen Grad ökonomischer und intellektueller Entwickelung voraus; wo diese fehlt, richtet das System mehr Schaden als Nutzen an. Und dies ist offenbar der Fall in Rußland.

Erstens braucht es überhaupt eine verhältnismäßig lange Zeit, um aus dem russischen Durchschnittsrekruten einen ausgebildeten Soldaten zu machen. Der russische Soldat ist von unbezweifelter großer Tapferkeit. Solange die taktische Entscheidung in dem Angriff geschlossener Infanteriemassen lag, war er in seinem Element. Seine ganze Lebenserfahrung hatte ihn angewiesen auf den Anschluß an seine Kamera den. Auf dem Dorf die noch halbkommunistische Gemeinde, in der Stadt die genossenschaftliche Arbeit des Artels; überall die krugovaja poruka, die gegenseitige Haftbarkeit der Genossen; kurz ein Gesellschaftszustand, der handgreiflich hinweist einerseits auf den Zusammenhalt, in dem alles Heil liegt, andrerseits auf die hilflose Verlassenheit des vereinzelten, auf die eigene Initiative angewiesenen Individuums. Dieser Charakter bleibt dem Russen auch im Militär; die Bataillonsmassen sind fast nicht zu sprengen, je größer die Gefahr, desto fester ballen sich die Klumpen zusammen. Aber dieser Instinkt des Zusammenschließens, der noch zur Zeit der napoleonischen Feldzüge von unschätzbarem Werte war und manche weniger brauchbare Seite des russischen Soldaten aufwog – er ist heute eine entschiedne Gefahr. Heute sind die geschlossenen Massen aus der Gefechtslinie verschwunden, heute handelt es sich um den Zusammenhalt aufgelöster Schützenschwärme, wo Truppen der verschiedensten Verbände durcheinander geworfen werden und das Kommando oft und rasch genug an Offiziere übergeht, die den meisten Mannschaften total fremd sind; heute soll jeder Soldat imstande sein, selbständig das zu tun, was im Moment getan werden muß, und doch den Zusammenhalt mit dem Ganzen nicht verlieren. Das ist ein Zusammenhalt, der nicht durch den primitiven Herdeninstinkt des Russen, sondern nur durch Ausbildung des Verstandes bei jedem einzelnen ermöglicht werden kann, und dazu finden wir die Vorbedingungen nur auf einer Kulturstufe von höherer »individualistischer« Entwicklung, wie sie bei den kapitalistischen Nationen des Westens besteht. Der kleinkalibrige Magazinhinterlader und das rauchschwache Pulver haben die Eigenschaft, die bisher die größte Stärke der russischen Armee war, in eine ihrer größten Schwächen verwandelt. Es wird also heutzutage noch längere Zeit erfordern als früher, bis der russische Rekrut ein gefechtsbrauchbarer Soldat wird, und den Soldaten des Westens tut er's überhaupt nicht mehr gleich.

Zweitens aber: Woher sollen die Offiziere kommen, um alle diese[388] Massen im Krieg in Neuformationen einzurahmen? Wenn Frankreich schon Schwierigkeit hat, die hinreichende Zahl von Offizieren zu finden, wie wird es erst Rußland gehn? Rußland, wo die gebildete Bevölkerung, aus der allein tüchtige Offiziere genommen werden können, einen so unverhältnismäßig geringen Prozentsatz der Gesamtzahl ausmacht, und wo dennoch der Soldat, selbst der ausgebildete, einen größern Prozentsatz von Offizieren braucht als in andern Armeen?

Und drittens: Bei dem in Rußland notorischen allgemeinen System des Unterschleifs und Diebstahls von seiten der Beamten und oft genug auch der Offiziere, wie soll da eine Mobilmachung verlaufen? Bei allen bisherigen Kriegen Rußlands stellte sich sofort heraus, daß selbst ein Teil der Friedensarmee und ihrer Ausrüstungsbestände nur auf dem Papier existierte. Wie soll es erst gehn, wenn die beurlaubten Reserveleute und die Opoltschenie (Landwehr) unters Gewehr treten und mit Uniform, Bewaffnung, Munition versehn werden sollen? Wenn bei einer Mobilmachung nicht alles klappt, nicht alles zur rechten Zeit und am rechten Ort vorhanden ist, dann ist die Konfusion vollständig. Wie soll aber alles klappen, wenn alles durch die Hände diebischer und bestechlicher russischer Tschinowniks geht? Die russische Mobilmachung – das wird ein Schauspiel für Götter.

Eins mit dem andern: Wir können den Russen schon aus rein militärischen Gründen erlauben, soviel Soldaten einzustellen und sie solange bei der Fahne zu behalten, wie es dem Zaren beliebt. Außer den Truppen, die jetzt schon unterm Gewehr stehn, wird er schwerlich viel mehr auf die Beine bringen, und auch dies schwerlich zur rechten Zeit. Das Experiment mit der allgemeinen Wehrpflicht kann Rußland teuer zu stehn kommen.

Und dann, wenn's zum Krieg kommt, dann steht die russische Armee an der ganzen Grenze von Kowno bis Kaminiec auf ihrem eigenen Gebiet in Feindesland, mitten unter Polen und Juden, denn auch die Juden hat die zarische Regierung sich zu Todfeinden gemacht. Ein paar für Rußland verlorne Schlachten, und das Kampfesfeld wird von der Weichsel an die Düna und den Dnepr verlegt; im Rücken der deutschen Armee, unter ihrem Schutze, bildet sich ein Heer polnischer Bundesgenossen; und es wird eine gerechte Strafe für Preußen sein, wenn es dann zu seiner eignen Sicherheit ein starkes Polen wiederherstellen muß.

Soweit haben wir nur die direkt militärischen Verhältnisse betrachtet und gefunden, daß für den vorliegenden Fragepunkt Rußland außer acht gelassen werden kann. Noch mehr aber wird sich dies zeigen, sobald wir einen Blick werfen auf die allgemeine ökonomische und speziell die finanzielle Lage Rußlands.[389]

Quelle:
Karl Marx, Friedrich Engels: Werke. Berlin 1963, Band 22, S. 387-390.
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