VIII

[396] Bisher haben wir vorausgesetzt, der Vorschlag zur allmählichen gleichmäßigen Herabsetzung der Dienstzeit mit schließlichem Übergang zum Milizsystem sei allgemein angenommen worden. Die Frage ist aber vor allem: wird er angenommen?

Nehmen wir an, Deutschland stellt den Vorschlag zunächst an Österreich, Italien und Frankreich. Österreich wird eine Maximaldienstzeit von zwei Jahren mit Freuden annehmen und wahrscheinlich in seiner eignen Praxis noch weiter herabgehn. In der österreichischen Armee spricht man sich, scheint es, weit offener aus als in der deutschen über die günstigen Erfolge mit der kurzen Dienstzeit eines Teils der Truppen. Viele Offiziere dort erklären geradezu die Landwehr, die nur ein paar Monate dient, für eine bessere Truppe als die Linie; sie haben jedenfalls das für sich, daß ein Landwehrbataillon, wie mir versichert wird, in 24 Stunden mobil macht, während ein Linienbataillon mehrere Tage dazu braucht. Natürlich: bei der Linie fürchtet man sich, den altösterreichischen breitspurigen Schlendrian anzutasten, bei der Landwehr, wo alle Einrichtungen neu geschaffen, hat man dagegen den Mut gehabt, ihn nicht einzuführen. Jedenfalls seufzt in Österreich Volk wie Regierung nach Erleichterung der Militärlast, und die ist hier, gerade auf Grund der gemachten eignen Erfahrungen, am ehesten zu haben durch Herabsetzung der Dienstzeit.

Italien wird ebenfalls mit beiden Händen zugreifen. Es erliegt unter dem Druck des Kriegsbudgets, und zwar in solchem Grad, daß hier Abhilfe geschafft werden muß, und das bald. Auch hier ist Verkürzung der Maximaldienstzeit der nächste und einfachste Weg. Man kann also sagen: Entweder geht der Dreibund in die Brüche, oder er muß zu einem Mittel greifen, das mehr oder weniger auf unsern Vorschlag hinausläuft.

Wenn aber Deutschland, gestützt auf die Annahme durch Österreich und Italien, diesen Vorschlag der französischen Regierung unterbreitet, so[396] kommt diese in eine sehr fatale Stellung. Nimmt sie ihn an, so verschlechtert sie ihre relative militärische Lage absolut nicht. Im Gegenteil, sie erhielte Gelegenheit, diese relative Lage zu verbessern. Es ist in mancher Beziehung ein Nachteil für Frankreich, daß die allgemeine Wehrpflicht dort erst seit 20 Jahren eingeführt ist. Aber dieser Nachteil schließt den Vorteil ein, daß alles noch neu ist, daß der alte Zopf von Anno Tobak erst neuerdings abgeschnitten worden, daß weitere Verbesserungen leicht einzuführen sind, ohne auf den zähen Widerstand eingerosteter Vorurteile zu stoßen. Alle Armeen sind ungemein bildungsfähig nach großen Niederlagen. Eine bessere Ausnutzung der vertragsmäßigen Dienstzeit wäre daher in Frankreich weit leichter durchzuführen als anderswo, und da auch das Schulwesen, ganz wie die Armee, sich im Zustand der Revolutionierung befindet, so wird auch die allgemein körperliche und speziell militärische Vorbildung der Jugend sich dort weit rascher und leichter ins Werk setzen lassen als anderswo. Das würde aber bedeuten, daß die militärische Machtstellung Frankreichs gegenüber Deutschland sich verstärkt. Trotz alledem ist es möglich und selbst wahrscheinlich genug, daß die chauvinistische Strömung – der französische Chauvinismus ist genau so dumm wie der deutsche – stark genug wird, jede Regierung zu stürzen, die so etwas annimmt, namentlich wenn es von Deutschland kommt. Nehmen wir also an: Frankreich lehnt ab. Was dann?

Dann ist Deutschland durch die bloße Tatsache, daß es diesen Vorschlag gemacht, in enormen Vorteil gesetzt. Wir dürfen nicht vergessen: Die siebenundzwanzig Jahre Bismarckwirtschaft haben Deutschland – nicht mit Unrecht – im ganzen Ausland verhaßt gemacht. Weder die Annexion der nordschleswigschen Dänen noch die Nichteinhaltung und schließliche Eskamotage des auf sie bezüglichen Präger Friedensartikels, noch die Annexion Elsaß-Lothringens, noch die kleinlichen Maßregeln gegen die preußischen Polen hatten mit der Herstellung der »nationalen Einheit« das geringste zu tun. Bismarck hat es verstanden, Deutschland in den Ruf der Ländergier zu bringen; der deutsche chauvinistische Bürger, der die Deutschösterreicher hinauswarf und dennoch Deutschland noch immer »von der Etsch bis an die Memel« über alles brüderlich zusammenhalten will, der dagegen Holland, Flandern, die Schweiz und die angeblich »deutschen« Ostseeprovinzen Rußlands mit dem Deutschen Reich vereinigen möchte – dieser deutsche Chauvin hat Bismarck redlich geholfen, und mit so herrlichem Erfolg, daß heute den »biedern Deutschen« kein Mensch in Europa mehr traut. Geht, wohin ihr wollt, ihr werdet überall Sympathien mit Frankreich finden, aber Mißtrauen gegen Deutschland, das man für die Ursache der gegenwärtigen Kriegsgefahr hält. Dem allem würde ein Ende[397] gemacht, entschlösse Deutschland sich zur Stellung unsres Antrages. Es träte als Friedensstifter auf in einer Weise, die keinen Zweifel zuläßt. Es erklärte sich bereit, voranzugehn im Werk der Abrüstung, wie dies von Rechts wegen dem Lande zukommt, das das Signal zur Rüstung gegeben hat. Das Mißtrauen müßte sich in Zutrauen, die Abneigung in Sympathie verwandeln. Nicht nur die Redensart, der Dreibund sei ein Friedensbund, würde endlich zur Wahrheit, sondern auch der Dreibund selbst, der jetzt nur ein Schein ist. Die ganze öffentliche Meinung Europas und Amerikas träte auf seiten Deutschlands. Und das wäre eine moralische Eroberung, die selbst alle möglicherweise noch herauszuspintisierenden militärischen Nachteile unseres Vorschlags überreichlich aufwöge.

Frankreich dagegen, das den Abrüstungsvorschlag abgelehnt, käme in dieselbe ungünstige Verdachtsstellung, wie Deutschland jetzt. Nun sehn wir alle, würde der europäische Philister sagen – und der ist die größte Großmacht –, nun sehn wir alle, wer den Frieden will und wer den Krieg. Und wenn dann vielleicht einmal eine wirklich kriegslustige Regierung in Frankreich ans Ruder käme, sie stände vor einer Lage, die ihr bei einigem Verstande den Krieg absolut verböte. Wie sie sich auch anstellte, vor ganz Europa stände sie da als der Teil, der den Krieg heraufbeschworen, heraufgezwungen hat. Damit hätte sie nicht nur die Kleinen, nicht nur England gegen sich gestimmt, sie würde nicht einmal der Hülfe Rußlands sicher sein, nicht einmal jener traditionellen Hülfe Rußlands, die darin besteht, daß es seine Bundesgenossen erst hineinreitet und dann im Stiche läßt.

Vergessen wir nicht: Im nächsten Kriege entscheidet England. Der Dreibund, im Krieg gegen Rußland und Frankreich, ebensowohl wie Frankreich, von Rußland getrennt durch feindliches Gebiet, sie alle sind für die ihnen unentbehrliche starke Korneinfuhr angewiesen auf den Seeweg. Diesen beherrscht England unbedingt. Stellt es seine Flotte dem einen Teil zur Verfügung, so wird der andre einfach ausgehungert, die Kornzufuhr wird abgeschnitten; es ist die Aushungerung von Paris auf kolossal vergrößertem Maßstab, und der ausgehungerte Teil muß kapitulieren; so sicher zweimal zwei vier ist.

Nun gut: in diesem Augenblick hat die liberale Strömung in England Oberwasser, und die englischen Liberalen haben entschieden französische Sympathien. Dazu ist der alte Gladstone persönlich ein Russenfreund. Bricht ein europäischer Krieg aus, so bleibt England solange wie möglich neutral; aber selbst seine »wohlwollende« Neutralität kann unter den erwähnten Umständen einer der kriegführenden Parteien von entscheidender Hülfe sein. Macht Deutschland unsern Vorschlag und wird er von Frankreich[398] abgelehnt, so hat Deutschland nicht nur alle entgegenstehenden englischen Sympathien überwunden und sich Englands wohlwollende Neutralität gesichert; es hat außerdem der englischen Regierung so gut wie unmöglich gemacht, im Krieg den Gegnern Deutschlands sich anzuschließen.

Also zum Schluß:

Entweder nimmt Frankreich den Vorschlag an. Dann ist die Kriegsgefahr, die aus den stets gesteigerten Rüstungen erwächst, tatsächlich beseitigt, die Völker kommen zur Ruhe, und Deutschland hat den Ruhm, dies eingeleitet zu haben.

Oder Frankreich nimmt nicht an. Dann verschlechtert es seine eigne Stellung in Europa und verbessert Deutschlands Stellung in einem solchen Grad, daß Deutschland einen Krieg absolut nicht mehr zu fürchten braucht und sogar ohne alle Gefahr im Verein mit seinen Bundesgenossen, die dann erst wahrhaft seine Bundesgenossen, auf eigne Faust zu einer allmählichen Herabsetzung der Dienstzeit und Vorbereitung zum Milizsystem schreiten kann.

Wird man den Mut haben, den rettenden Schritt zu tun? Oder will man warten, bis Frankreich, aufgeklärt über die Lage Rußlands, den ersten Schritt tut und den Ruhm für sich einerntet?[399]


Quelle:
Karl Marx, Friedrich Engels: Werke. Berlin 1963, Band 22.
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