Friedrich Engels

Karl Marx

Man hat sich in Deutschland daran gewöhnt, in Ferdinand Lassalle den Urheber der deutschen Arbeiterbewegung zu sehen. Und doch ist nichts unrichtiger. Wenn ihm vor sechs, sieben Jahren in allen Fabrikdistrikten, in allen großen Städten, den Zentren der arbeitenden Bevölkerung, das Proletariat in Massen zuströmte, wenn seine Reisen Triumphzüge waren, um die ihn die Landesfürsten beneiden konnten – war da der Boden nicht vorher etwa schon im stillen gedüngt worden, der so rasch aufschießende Frucht trug? Wenn die Arbeiter seinen Lehren Beifall zujauchzten, geschah dies, weil diese Lehren ihnen neu oder weil sie den Denkenden unter ihnen schon längst mehr oder weniger bekannt waren?

Die heutige Generation lebt rasch und vergißt rasch. Die Bewegung der vierziger Jahre, die in der Revolution von 1848 gipfelte und in der Reaktion von 1849 bis 1852 ihren Abschluß fand, ist bereits verschollen mitsamt ihrer politischen und sozialistischen Literatur. Es muß daher daran erinnert werden, daß vor und während der Revolution von 1848 unter den Arbeitern namentlich Westdeutschlands eine wohlorganisierte sozialistische Partei bestand, welche zwar nach dem Kölner Kommunistenprozeß auseinanderfiel, deren einzelne Mitglieder aber im stillen fortfuhren, den Boden vorzubereiten, dessen Lassalle sich nachher bemächtigte. Es muß ferner daran erinnert werden, daß ein Mann existierte, der, neben der Organisation dieser Partei, das wissenschaftliche Studium der sog. sozialen Frage, d.h. die Kritik der politischen Ökonomie, zu seiner Lebensaufgabe gemacht und bereits vor 1860 bedeutende Resultate seiner Forschungen veröffentlicht hatte. Lassalle war ein höchst talentvoller, vielseitig gebildeter Kopf, ein Mann von großer Energie und fast unbegrenzter[361] Versatilität; er war ganz dazu gemacht, unter allen Umständen eine politische Rolle zu spielen. Aber weder war er der ursprüngliche Initiator der deutschen Arbeiterbewegung, noch war er ein origineller Denker. Der ganze Inhalt seiner Schriften war entlehnt, selbst nicht ohne Mißverständnisse entlehnt, er hatte einen Vorgänger und einen intellektuellen Vorgesetzten, dessen Dasein er freilich verschwieg, während er seine Schriften vulgarisierte, und dieser intellektuelle Vorgesetzte heißt Karl Marx.

Karl Marx ist geboren am 5. Mai 1818 zu Trier, wo er seine Gymnasialbildung erhielt. Er studierte Rechtswissenschaften in Bonn und später in Berlin, wo ihn indes die Beschäftigung mit der Philosophie dem Jus bald abwendig machte. Nach fünfjährigem Aufenthalt in der »Metropole der Intelligenz« kehrte er 1841 nach Bonn zurück mit der Absicht, sich dort zu habilitieren. Damals herrschte in Preußen die erste »Neue Ära«. Friedrich Wilhelm IV. hatte erklärt, er liebe eine gesinnungstüchtige Opposition, und an verschiedenen Stellen wurde der Versuch gemacht, eine solche zu organisieren. So wurde in Köln die »Rheinische Zeitung« gestiftet; Marx kritisierte in ihr mit damals unerhörter Kühnheit die Verhandlungen des rheinischen Provinziallandtages in Artikeln, die großes Aufsehen machten. Ende 1842 übernahm er selbst die Redaktion und machte der Zensur so viel zu schaffen, daß man ihm die Ehre antat, für die »Rhein. Ztg.« einen Spezialzensor von Berlin zu schicken. Als auch dies nicht half, mußte die Zeitung doppelte Zensur durchmachen. Indem jede Nummer außer der gewöhnlichen noch in zweiter Instanz der Zensur des Kölner Regierungspräsidenten unterworfen wurde. Aber auch dies Mittel half nichts gegen die »verhärtete Böswilligkeit« der »Rhein. Zeitung«; und Anfang 1843 erließ das Ministerium ein Dekret, wonach die »Rhein. Zeitung« Ende des ersten Quartals aufhören mußte. Marx trat sofort ab, da die Aktionäre einen Vermittlungsversuch machen wollten, aber auch dieser schlug fehl, und die Zeitung hörte auf zu erscheinen.

Die Kritik der Verhandlungen des rheinischen Landtags nötigte Marx, Fragen des materiellen Interesses zu studieren. Hier traten ihm neue Gesichtspunkte entgegen, Gesichtspunkte, die weder die Juristerei noch die Philosophie vorgesehen hatten. Anknüpfend an Hegels Rechtsphilosophie, kam Marx zu der Einsicht, daß nicht der von Hegel als »Krönung des Gebäudes« dargestellte Staat, sondern vielmehr die von ihm so stiefmütterlich behandelte »bürgerliche Gesellschaft« diejenige Sphäre sei, in der der Schlüssel zum Verständnis des geschichtlichen Entwicklungsprozesses der Menschheit zu suchen sei. Die Wissenschaft der bürgerlichen Gesellschaft[362] aber ist die politische Ökonomie, und diese Wissenschaft konnte nicht in Deutschland, sie konnte nur in England oder Frankreich gründlich studiert werden.

Nach seiner Verheiratung mit der Tochter des Geh. Regierungsrats v. Westphalen in Trier (Schwester des späteren preußischen Ministers des innern v. Westphalen) siedelte Marx daher im Sommer 1843 nach Paris über, wo er sich hauptsächlich dem Studium der Nationalökonomie und der Geschichte der großen französischen Revolution widmete. Zugleich gab er mit Rüge die »Deutsch-Französischen Jahrbücher« heraus, von denen indes nur ein Band erschien. 1845 von Guizot aus Frankreich ausgewiesen, ging er nach Brüssel und blieb dort, mit gleichen Studien beschäftigt, bis Ausbruch der Februarrevolution. Wie wenig er mit dem, selbst in seiner gelehrttuendsten Form, landläufigen Sozialismus einverstanden war, bewies seine Kritik des großen Proudhonschen Werks »Philosophie de la misère«, welche 1847 unter dem Titel »Misère de la philosophie«, Brüssel und Paris, erschien. In dieser Schrift finden sich bereits viele wesentliche Punkte seiner jetzt ausführlich dargelegten Theorie. Auch das »Manifest der Kommunistischen Partei«, London 1848, vor der Februarrevolution geschrieben und von einem Arbeiterkongreß in London adoptiert, ist wesentlich sein Werk.

Von der belgischen Regierung unter dem Einfluß der Panik der Februarrevolution wieder ausgewiesen, kam Marx auf Aufforderung der französischen provisorischen Regierung nach Paris zurück. Die Sturmflut der Revolution drängte alle wissenschaftlichen Beschäftigungen in den Hintergrund; es hieß jetzt eingreifen in die Bewegung. Nachdem Marx während der ersten aufgeregten Tage dem Unsinn der Agitatoren entgegengearbeitet hatte, welche deutsche Arbeiter von Frankreich aus als Freischaren zur Republikanisierung Deutschlands organisieren wollten, ging er mit seinen Freunden nach Köln und gründete dort die »Neue Rheinische Zeitung«, die bis zum Juni 1849 bestand und am Rhein noch in gutem Gedächtnis ist. Die Preßfreiheit von 1848 ist wohl nirgends so erfolgreich ausgebeutet worden als damals, mitten in einer preußischen Festung, von jener Zeitung. Nachdem die Regierung vergeblich versucht hatte, die Zeitung durch gerichtliche Verfolgung totzumachen – Marx stand zweimal vor den Assisen wegen Preßvergehen und wegen Aufforderung zur Steuerverweigerung und wurde beide Male freigesprochen –, wurde sie zur Zeit der Maiaufstände 1849 dadurch zum Fall gebracht, daß Marx unter dem[363] Vorwande, seine preußische Untertanenschaft verloren zu haben, und die übrigen Redakteure unter ähnlichen Vorwänden ausgewiesen wurden. Marx mußte daher wieder nach Paris, von wo er abermals ausgewiesen wurde und noch im Sommer 1849 nach seinem jetzigen Wohnsitz, London, ging.

In London fand sich damals die ganze fine fleur der kontinentalen Flüchtlingsschaft aller Nationen zusammen. Es wurden Revolutionskomitees aller Art gebildet, Kombinationen, provisorische Regierungen in partibus infidelium, es gab Streitigkeiten und Zänkereien aller Art, und die dabei beteiligt gewesenen Herren blicken jetzt sicher auf diese Periode als auf die mißlungenste ihres Lebens zurück. Marx hielt sich von allen diesen Umtrieben fern. Eine Zeitlang setzte er seine »Neue Rhein. Ztg.« in der Form einer Monatsrevue fort (Hamburg 1850), nachher zog er sich ins British Museum zurück und durchforschte die dortige ungeheure, großenteils noch ungekannte Bibliothek nach ihrer nationalökonomischen Seite hin. Gleichzeitig schrieb er regelmäßig in die »New-York Tribüne«, er war sozusagen der Redakteur dieses ersten englisch-amerikanischen Blattes für europäische Politik bis zum Ausbruche des Amerikanischen Bürgerkrieges.

Der Staatsstreich des 2. Dezember veranlaßte ihn zu einer Broschüre »Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte«, New York 1852, welche jetzt eben in neuem Abdruck (Hamburg bei Meißner) erscheint und zum Verständnis der haltlosen Lage, in die derselbe Bonaparte gerade jetzt geraten ist, nicht wenig beitragen wird. Der Held des Staatsstreiches wird hier eben in seiner nackten Wirklichkeit dargestellt, wie er erscheint ohne die Glorie, mit der der momentane Erfolg ihn umgeben hat. Der Philister, der seinen Napoleon III. für den größten Mann des Jahrhunderts hält und sich nun nicht erklären kann, wie dieses Wundergenie jetzt plötzlich Böcke über Böcke schießt und einen politischen Fehler über den anderen begeht – besagter Philister kann sich aus der erwähnten Marxschen Arbeit Rats erholen.

Sowenig Marx sich während seines ganzen Londoner Aufenthalts vordrängte, so zwang ihn doch Karl Vogt nach der italienischen Kampagne 1859 zu einer Polemik, die in Marx' »Herr Vogt«, London 1860, ihren Abschluß fand. Um dieselbe Zeit erschien die erste Frucht seiner nationalökonomischen Studien: »Zur Kritik der Politischen Oekonomie«, Berlin 1859, Erstes Heft. Dies Heft enthält bloß die Geldtheorie, welche von ganz neuen Gesichtspunkten dar gestellt ist; die Fortsetzung ließ auf sich[364] warten, da der Verfasser inzwischen so viel neues Material entdeckte, daß er neue Studien für nötig hielt.

1867 endlich erschien in Hamburg: »Das Kapital. Kritik der politischen Oekonomie«, Erster Band. Dies Werk enthält die Resultate des Studiums eines ganzen Lebens. Es ist die politische Ökonomie der arbeitenden Klasse, auf ihren wissenschaftlichen Ausdruck reduziert. Hier handelt es sich nicht um agitatorische Phrasen, sondern um streng wissenschaftliche Deduktionen. Mag man sich zum Sozialismus verhalten, wie man will, man wird immerhin anerkennen müssen, daß hier derselbe zuerst wissenschaftlich dargestellt ist und daß es eben Deutschland vorbehalten war, diese Leistung auch auf diesem Gebiet zu verwirklichen. Wer jetzt noch den Sozialismus bekämpfen will, wird mit Marx fertig werden müssen, gelingt ihm dies, dann braucht er freilich die dei minorum gentium nicht zu erwähnen.

Das Marxsche Buch hat aber auch noch nach anderer Seite hin ein Interesse. Es ist die erste Schrift, in der die tatsächlichen Verhältnisse, die zwischen Kapital und Arbeit bestehen, in ihrer klassischen Form, wie sie solche in England erlangt haben, vollständig und übersichtlich geschildert werden. Die parlamentarischen Untersuchungen lieferten hierzu ein reichliches, einen Zeitraum von fast vierzig Jahren umfassendes und selbst in England so gut wie ungekanntes Material über die Verhältnisse der Arbeiter in fast allen Industriezweigen, über die Arbeit von Weibern und Kindern, über Nachtarbeit usw.; dies alles ist hier zum erstenmal zugänglich gemacht. Daran reiht sich die Geschichte der Fabrikgesetzgebung in England, welche, von den bescheidenen Anfängen der ersten Akte von 1802 an, jetzt dahin gekommen ist, die Arbeitszeit in fast allen fabrikmäßig oder häuslich betriebenen Geschäftszweigen für Weiber und junge Leute unter 18 Jahren auf 60 Stunden wöchentlich, für Kinder unter 13 Jahren auf 39 Stunden wöchentlich zu beschränken. Nach dieser Seite hin ist das Buch von höchstem Interesse für jeden Industriellen.

Marx ist lange Jahre unbedingt der »bestverleumdete« deutsche Schriftsteller gewesen, wogegen ihm niemand das Zeugnis verwehren wird, daß er dafür auch tapfer um sich gehauen hat und daß seine Hiebe alle scharf saßen. Aber die Polemik, in der er doch soviel »gemacht« hat, war im Grunde doch nur Sache der Notwehr bei ihm. Sein eigentliches Interesse war schließlich doch immer bei seiner Wissenschaft, die er fünfundzwanzig Jahre mit einer Gewissenhaftigkeit studiert und durchdacht hat,[365] die ihresgleichen sucht, einer Gewissenhaftigkeit, die ihn verhindert hat, seine Schlußfolgerungen in systematischer Form vor das Publikum zu bringen, ehe sie ihm nach Form und In halt selbst genügten, ehe er darüber mit sich klar war, daß er kein Buch ungelesen, keinen Einwurf unerwogen gelassen, daß er jeden Punkt vollständig erschöpft habe. Originelle Denker sind in dieser Zeit der Epigonen sehr rar; wenn aber ein Mann nicht nur ein origineller Denker, sondern auch im Besitz einer in seinem Fache unerreichten Gelehrsamkeit ist, so verdient er doppelte Anerkennung.

Außer seinen Studien beschäftigt sich Marx, wie nicht anders zu erwarten, mit der Arbeiterbewegung; er ist einer der Gründer der Internationalen Arbeiter-Assoziation, welche in letzter Zeit soviel von sich reden machte und bereits an mehr als einem Ort Europas bewiesen hat, daß sie eine Macht ist. Wir glauben nicht zu irren, wenn wir sagen, daß auch in dieser jedenfalls in der Arbeiterbewegung epochemachenden Gesellschaft das deutsche Element – dank namentlich Marx – die ihm gebührende einflußreiche Stellung einnimmt.[366]

Quelle:
Karl Marx, Friedrich Engels: Werke. Berlin 1962, Band 16.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Apuleius

Der goldene Esel. Metamorphoses, auch Asinus aureus

Der goldene Esel. Metamorphoses, auch Asinus aureus

Der in einen Esel verwandelte Lucius erzählt von seinen Irrfahrten, die ihn in absonderliche erotische Abenteuer mit einfachen Zofen und vornehmen Mädchen stürzen. Er trifft auf grobe Sadisten und homoerotische Priester, auf Transvestiten und Flagellanten. Verfällt einer adeligen Sodomitin und landet schließlich aus Scham über die öffentliche Kopulation allein am Strand von Korinth wo ihm die Göttin Isis erscheint und seine Rückverwandlung betreibt. Der vielschichtige Roman parodiert die Homer'sche Odyssee in burlesk-komischer Art und Weise.

196 Seiten, 9.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Dass das gelungen ist, zeigt Michael Holzingers Auswahl von neun Meistererzählungen aus der sogenannten Biedermeierzeit.

434 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon