[340] Es sind mir nachträglich noch einige Kundgebungen bei Gelegenheit dieses Trauerfalles zugekommen, die beweisen, wie allgemein die Teilnahme war, und über die ich Rechenschaft abzulegen habe.
Am 20. März erhielt Fräulein Eleanor Marx von der Redaktion der »Daily News« folgendes Telegramm in französischer Sprache zugesandt:
»Moskau, 18. März. Redaktion ›Daily News‹, London. Haben Sie die Güte, an Herrn Engels, den Verfasser der ›Arbeitenden Klassen in England‹ und Intimen Freund des verstorbenen Karl Marx, unsere Bitte zu übermitteln, er möge auf den Sarg des unvergeßlichen Autors des ›Kapital‹ einen Kranz legen mit folgender Inschrift:
›Dem Verteidiger der Rechte der Arbeiter in der Theorie und ihrer Verwirklichung im Leben – die Studenten der landwirtschaftlichen Akademie von Petrowski in Moskau.‹
Herr Engels wird gebeten, seine Adresse und den Preis des Kranzes mitzuteilen; der Betrag wird ihm sofort übermittelt werden.
Studenten der Akademie Petrowski in Moskau.«
Die Depesche war unter allen Umständen zu spät für das am 17. stattgefundene Begräbnis.
Ferner sandte mir Freund P. Lawrow in Paris am 31. März eine Anweisung auf Frs. 124,50 = Pfd. St. 4. 18. 9, eingesandt von den Studenten des technologischen Instituts in Petersburg und von russischen studierenden Frauen, ebenfalls für einen Kranz auf das Grab von Karl Marx.
Drittens hat der »Sozialdemokrat« vorige Woche angezeigt, daß Odessaer Studenten ebenfalls einen Kranz auf Marx' Grab in ihrem Namen niedergelegt wünschen.
Da nun das aus Petersburg erhaltene Geld reichlich für alle drei Kränze genügt, so habe ich mir erlaubt, auch den Moskauer und Odessaer Kranz[340] daraus zu bestreiten. Die Anfertigung der Inschriften, hier eine ziemlich ungewohnte Sache, hat einige Verschleppung verursacht, doch wird die Niederlegung Anfang nächster Woche stattfinden, und werde ich alsdann im »Sozialdemokrat« Rechnung über das erhaltene Geld ablegen können.
Von Solingen kam durch den hiesigen Kommunistischen Arbeiterbildungsverein an uns ein schöner großer Kranz »auf das Grab von Karl Marx von den Arbeitern der Scheren-, Messer- und Schwerter-Industrie in Solingen«. Als wir ihn am 24. März niederlegten, fanden wir von den Kränzen vom »Sozialdemokrat« und vom Kommunistischen Arbeiterbildungsverein die langen Ende der seidenen roten Schleifen von grabschänderischer Hand abgeschnitten und gestohlen. Beschwerde beim Verwaltungsrat half nichts, wird aber wohl Schutz für die Zukunft schaffen.
Ein slawischer Verein in der Schweiz hofft,
»daß dem Andenken von Karl Marx durch Gründung eines seinen Namen führenden internationalen Fonds zur Unterstützung der Opfer des großen Emanzipationskampfes sowie zur Förderung dieses Kampfes selbst, ein besonderes Erinnerungszeichen gesetzt«
werde, und sendet einen ersten Beitrag ein, den ich einstweilen an mir behalten habe. Das Schicksal dieses Vorschlags hängt natürlich in erster Linie davon ab, ob er Anklang findet, und deshalb veröffentliche ich ihn hier.
Um den in den Zeitungen umlaufenden falschen Gerüchten etwas Tatsächliches entgegenzusetzen, teile ich folgende kurze Einzelheiten mit über Krankheitsverlauf und Tod unseres großen theoretischen Führers.
Von alten Leberleiden durch dreimalige Kur in Karlsbad fast ganz kuriert, litt Marx nur noch an chronischen Magenleiden und nervöser Abspannung, die sich in Kopfschmerz, zumeist aber in hartnäckiger Schlaflosigkeit äußerte. Beide Leiden verschwanden mehr oder weniger nach dem Besuch eines Seebades oder Luftkurortes im Sommer und traten erst nach Neujahr wieder störender an den Tag. Chronische Halsleiden, Husten, der ebenfalls zur Schlaflosigkeit beitrug, und chronische Bronchitis störten im ganzen weniger. Aber gerade hieran sollte er erliegen. Vier oder fünf Wochen vor dem Tode seiner Frau ergriff ihn plötzlich eine heftige Rippenfellentzündung (Pleuritis), verbunden mit Bronchitis und anfangender Lungenentzündung (Pneumonie). Die Sache war sehr gefährlich, verlief aber gut. Er wurde dann zuerst nach der Insel Wight geschickt (Anfang 1882) und darauf nach Algier. Die Reise war kalt, und er kam mit einer neuen Pleuritis in Algier an. Das hätte nicht so sehr viel ausgemacht unter Durchschnittsumständen. Aber Winter und Frühjahr waren in Algier kalt[341] und regnerisch wie sonst nie, im April machte man vergebens Versuche, den Speisesaal zu heizen! So war Verschlimmerung des Gesamtzustandes statt Verbesserung das Schlußresultat.
Von Algier nach Monte Carlo (Monaco) geschickt, kam Marx infolge naßkalter Überfahrt mit einer dritten, jedoch gelinderen Pleuritis dort an. Dabei anhaltend schlechtes Wetter, das er speziell von Afrika mitgebracht zu haben schien. Also auch hier Kampf mit neuer Krankheit statt Stärkung. Gegen Sommersanfang ging er zu seiner Tochter, Frau Longuet, in Argenteuil und benutzte von da aus die Schwefelbäder des benachbarten Enghien gegen seine chronische Bronchitis. Trotz des andauernd nassen Sommers gelang die Kur, zwar langsam, aber doch zur Zufriedenheit der Ärzte. Diese schickten ihn nun nach Vevey am Genfer See, und da erholte er sich am meisten, so daß man ihm den Winteraufenthalt, zwar nicht in London, aber doch an der englischen Südküste erlaubte. Hier wollte er dann endlich seine Arbeiten wieder beginnen. Als er im September nach London kam, sah er gesund aus und erstieg den Hügel von Hampstead (zirka 300 Fuß höher als seine Wohnung) oft mit mir ohne Beschwerde. Als die Novembernebel drohten, wurde er nach Ventnor, der Südspitze der Insel Wight, geschickt. Sofort wieder nasses Wetter und Nebel; notwendige Folge: erneuerte Erkältung, Husten usw., kurz, schwächender Stubenarrest statt stärkender Bewegung in freier Luft. Da starb Frau Longuet. Am nächsten Tage (12. Januar) kam Marx nach London, und zwar mit entschiedener Bronchitis. Bald gesellte sich dazu eine Kehlkopfentzündung, die ihm das Schlucken fast unmöglich machte. Er, der die größten Schmerzen mit dem stoischsten Gleichmut zu ertragen wußte, trank lieber einen Liter Milch (die ihm sein Lebetag ein Greuel gewesen), als daß er die entsprechende feste Nahrung verzehrte. Im Februar entwickelte sich ein Geschwür in der Lunge. Die Arzneien versagten jede Wirkung auf diesen seit fünfzehn Monaten mit Medizin überfüllten Körper; was sie bewirkten, war höchstens Schwächung des Appetits und der Verdauungstätigkeit. Er magerte sichtbar ab, fast von Tag zu Tag. Trotzdem verlief die Gesamtkrankheit verhältnismäßig günstig. Die Bronchitis war fast gehoben, das Schlucken wurde leichter. Die Ärzte machten die besten Hoffnungen. Da finde ich – zwischen 2 und 3 war die beste Zeit, ihn zu sehen – plötzlich das Haus in Tränen: Er sei so schwach, es gehe wohl zu Ende. Und doch hatte er den Morgen noch Wein, Milch und Suppe mit Appetit genommen. Das alte treue Lenchen Demuth, die alle seine Kinder von der Wiege an erzogen und seit vierzig Jahren im Hause ist, geht herauf zu ihm, kommt gleich herunter: »Kommen Sie mit, er ist halb im Schlaf.« Als wir eintraten, war er ganz im Schlaf, aber[342] für immer. Einen sanfteren Tod, als Karl Marx in seinem Armsessel fand, kann man sich nicht wünschen.
Und nun zum Schluß noch eine gute Nachricht:
Das Manuskript zum zweiten Band des »Kapital« ist vollständig erhalten. Wieweit es in der vorliegenden Form druckfähig ist, kann ich noch nicht beurteilen, es sind über 1000 Seiten Folio. Aber »der Zirkulationsprozeß des Kapitals« wie »die Gestaltungen des Gesamtprozesses« sind in einer Bearbeitung abgeschlossen, die den Jahren 1867-1870 angehört. Der Anfang einer späteren Bearbeitung liegt vor sowie reiches Material in kritischen Auszügen, besonders über russische Grundeigentumsverhältnisse, woraus vielleicht noch manches benutzbar wird.
Durch mündliche Verfügung hat er seine jüngste Tochter Eleanor und mich zu seinen literarischen Exekutoren ernannt.
London, 28. April 1883
Friedrich Engels
Buchempfehlung
In der Nachfolge Jean Pauls schreibt Wilhelm Raabe 1862 seinen bildungskritisch moralisierenden Roman »Der Hungerpastor«. »Vom Hunger will ich in diesem schönen Buche handeln, von dem, was er bedeutet, was er will und was er vermag.«
340 Seiten, 14.80 Euro
Buchempfehlung
Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Michael Holzinger hat sechs eindrucksvolle Erzählungen von wütenden, jungen Männern des 18. Jahrhunderts ausgewählt.
468 Seiten, 19.80 Euro