[449] Die Geschichte des Urchristentums bietet merkwürdige Berührungspunkte mit der modernen Arbeiterbewegung. Wie diese, war das Christentum im Ursprung eine Bewegung Unterdrückter: es trat zuerst auf als Religion der Sklaven und Freigelassenen, der Armen und Rechtlosen, der von Rom unterjochten oder zersprengten Völker. Beide, Christentum wie Arbeitersozialismus, predigen eine bevorstehende Erlösung aus Knechtschaft und Elend; das Christentum setzt diese Erlösung in ein jenseitiges Leben nach dem Tod, in den Himmel, der Sozialismus in diese Welt, in eine Umgestaltung der Gesellschaft. Beide werden verfolgt und gehetzt, ihre Anhänger geächtet, unter Ausnahmegesetze gestellt, die einen als Feinde des Menschengeschlechts, die andern als Reichsfeinde, Feinde der Religion, der Familie, der gesellschaftlichen Ordnung. Und trotz aller Verfolgungen, ja sogar direkt gefördert durch sie, dringen beide siegreich, unaufhaltsam vor. Dreihundert Jahre nach seinem Entstehen ist das Christentum anerkannte Staatsreligion des römischen Weltreichs, und in kaum sechzig Jahren hat sich der Sozialismus eine Stellung erobert, die ihm den Sieg absolut sicherstellt.
Wenn also Herr Professor Anton Menger in seinem »Recht auf den vollen Arbeitsertrag« sich wundert, warum bei der kolossalen Zentralisation des Grundbesitzes unter den römischen Kaisern und bei den maßlosen Leiden der damaligen, fast ausschließlich aus Sklaven bestehenden Arbeiterklasse »auf den Sturz des weströmischen Reichs nicht der Sozialismus gefolgt sei« – so sieht er eben nicht, daß dieser »Sozialismus«, soweit er damals möglich war, in der Tat bestand und auch zur Herrschaft kam – im Christentum. Nur daß dies Christentum, wie dies den geschichtlichen Vorbedingungen nach gar nicht anders sein konnte, die soziale Umgestaltung nicht in dieser Welt verwirklichen wollte, sondern im Jenseits,[449] im Himmel, im ewigen Leben nach dem Tod, im nahe bevorstehenden »Tausendjährigen Reich«.
Die Parallele beider geschichtlichen Erscheinungen drängt sich schon im Mittelalter auf, bei den ersten Erhebungen unterdrückter Bauern und namentlich städtischer Plebejer. Diese Erhebungen, wie alle Massenbewegungen des Mittelalters, trugen notwendig eine religiöse Maske, erschienen als Wiederherstellungen des Urchristentums aus eingerissener Entartung1; aber regelmäßig verbargen sich hinter der religiösen Exaltation sehr handfeste weltliche Interessen. Am großartigsten trat dies hervor in der Organisation der böhmischen Taboriten unter Johann Žižka glorreichen Angedenkens; aber durch das ganze Mittelalter geht dieser Zug, bis er nach dem deutschen Bauernkrieg allmählich einschläft, um wieder zu erwachen bei den Arbeiterkommunisten nach 1830. Sowohl die französischen revolutionären Kommunisten wie namentlich Weitling und seine Anhänger berufen sich aufs Urchristentum, lange bevor Ernest Renan sagte: Wollt ihr euch eine Vorstellung von den ersten christlichen Gemeinden machen, so seht euch eine lokale Sektion der Internationalen Arbeiterassoziation an.[450]
Der französische Belletrist, der auf Grundlage einer selbst in der modernen Journalistik beispiellosen Ausschlachtung der deutschen Bibelkritik den kirchengeschichtlichen Roman: »Origines du Christianisme« anfertigte, wußte selbst nicht, wieviel Wahres in obigem Worte lag. Ich möchte den alten »Internationalen« sehen, der z.B. den sogenannten zweiten Brief Pauli an die Korinther lesen kann, ohne daß wenigstens in einer Beziehung alte Wunden bei ihm aufbrechen. Der ganze Brief, vom achten Kapitel an, hallt den ewigen, ach so wohlbekannten Klageton wider: les cotisations ne rentrent pas – die Beiträge wollen nicht einkommen! Wie viele der eifrigsten Propagandisten der sechziger Jahre würden dem Verfasser dieses Briefs, wer er auch sei, verständnisinnig die Hand drücken und flüstern: also auch dir ging's so! Auch wir können ein Liedchen davon singen – auch in unsrer Assoziation wimmelte es von Korinthern – diese nicht einkommenden Beiträge, die unfaßbar vor unsren Tantalusblicken umherflatterten, das waren ja grade die berühmten »Millionen der Internationale«!
Eine unsrer besten Quellen über die ersten Christen ist Lucian von Samosata, der Voltaire des klassischen Altertums, der gegen jede Art religiösen Aberglaubens sich gleich skeptisch verhielt und daher weder heidnisch-gläubige noch politische Gründe hatte, die Christen anders zu behandeln als irgendwelche andre Religionsgenossenschaft. Im Gegenteil, er verspottet sie alle ihres Aberglaubens halber, die Jupiter-Anbeter nicht minder als die Christus-Anbeter; für seinen flach-rationalistischen Standpunkt ist die eine Sorte Aberglauben ebenso albern wie die andre. Dieser jedenfalls unparteiische Zeuge erzählt unter anderm auch die Lebensgeschichte eines Abenteurers Peregrinus, der sich Proteus nannte, aus Parium am Hellespont. Besagter Peregrinus debütierte in seiner Jugend in Armenien mit einem Ehebruch, wurde auf frischer Tat ertappt und nach Landessitte gelyncht. Glücklich entrannt, erdrosselte er in Parium seinen Vater und mußte fliehen.
»Und da geschah es« – ich zitiere nach der Übersetzung von Schott –, »daß er auch die wundersame Weisheit der Christianer kennenlernte, mit deren Priestern und Schriftgelehrten er in Palästina Umgang gepflogen hatte. Und in kurzer Zeit brachte er es so weit, daß seine Lehrer nur Kinder gegen ihn zu sein schienen. Er ward Prophet, Gemeindeältester, Synagogenmeister, kurz, alles in allem: er legte ihre Schriften aus und schrieb selbst welche in großer Zahl, so daß sie am Ende ein höheres Wesen in ihm zu sehen glaubten, sich Gesetze von ihm geben ließen, und ihn zu ihrem Vorsteher (Bischof) ernannten...Aus dieser Veranlassung« (d.h. als Christ) »ward nun einmal auch Proteus von der Obrigkeit festgenommen und ins Gefängnis geworfen...Während er so in Banden lag, machten die Christianer, welche seine Gefangenmachung ein[451] großes Unglück dünkte, alle möglichen Versuche, ihn zu befreien. Allein es gelang nicht, und nun wurde ihm von ihnen alle mögliche Pflege mit der ungewöhnlichsten Sorgfalt erwiesen. Mit Tagesanbruch schon sah man alte Mütterchen, Witwen und junge Waisen vor der Tür seines Gefängnisses harren; die angeseheneren Christianer bestachen sogar die Gefangenwärter und brachten ganze Nächte bei ihm zu; sie trugen daselbst ihre Mahlzeiten zusammen, lasen bei ihm ihre heiligen Bücher; kurz, der liebe Peregrinus (so hieß er damals noch) war ihnen nichts Geringeres als ein andrer Sokrates. Sogar aus einigen kleinasiatischen Städten erschienen Abgeordnete der christianischen Gemeinden, ihm hülfreiche Hand zu leisten, ihn zu trösten und seine Fürsprecher vor Gericht zu sein. Es ist unglaublich, wie schnell diese Leute überall bei der Hand sind, wenn es eine Angelegenheit ihrer Gemeinschaft betrifft; sie sparen alsdann weder Mühe noch Kosten. Und so kamen auch dem Peregrinus damals Gelder von allen Seiten zu, so daß seine Gefangenschaft für ihn Quelle einer reichlichen Einnahme wurde. Die armen Leute haben sich nämlich beredet, mit Leib und Seele unsterblich zu sein und in alle Ewigkeit zu leben; daher kommt es auch, daß sie, den Tod verachten und viele von ihnen sich demselben sogar freiwillig hingeben. Sodann hat ihnen ihr vornehmster Gesetzgeber die Meinung beigebracht, daß sie alle untereinander Brüder wären, sobald sie übergegangen, d.h. die griechischen Götter verleugnet und sich zur Anbetung jenes gekreuzigten Sophisten bekannt hätten und nach dessen Vorschriften lebten. Daher verachten sie alle äußern Güter ohne Unterschied und besitzen sie gemeinschaftlich – Lehren, die sie auf Treu und Glauben, ohne Prüfung und Beweis, angenommen haben. Wenn nun ein geschickter Betrüger an sie kommt, der die Umstände schlau zu benutzen weiß, so kann es ihm in kurzem gelingen, ein reicher Mann zu werden und die einfältigen Tröpfe ins Fäustchen auszulachen. Übrigens wurde Peregrinus von dem damaligen Präfekten von Syrien wieder auf freien Fuß gesetzt.«
Nach einigen weiteren Abenteuern heißt es dann:
»Nun zog unser Mann zum zweitenmal« (von Parium) »aufs Landstreichen aus, wobei ihm statt alles Reisegeldes die Gutmütigkeit der Christianer genügte, welche ihm überall zur Bedeckung dienten und es ihm an nichts gebrechen ließen. Eine Zeitlang ward er auf diese Weise gefüttert. Als er aber auch gegen die Gesetze der Christianer verstieß – man hatte ihn, glaube ich, etwas bei ihnen Verbotnes essen sehen –, so schlossen sie ihn aus ihrer Gemeinschaft aus.«
Welche Jugenderinnerungen steigen mir auf bei dieser Stelle Lucians. Da ist zuerst der »Prophet Albrecht«, der von etwa 1840 an die Weitlingschen Kommunistengemeinden der Schweiz auf einige Jahre im buchstäblichen Sinn des Worts unsicher machte – ein großer starker Mann mit langem Bart, der die Schweiz zu Fuß durchwanderte und Zuhörer für sein geheimnisvolles neues Weltbefreiungs-Evangelium aufstöberte –, der aber im übrigen ein ziemlich harmloser Konfusionarius gewesen zu sein scheint und bald starb. Da ist sein weniger harmloser Nachfolger, der »Dr.« Georg[452] Kuhlmann aus Holstein, der die Zeit benutzte, da Weitling im Gefängnis saß, um die Gemeinden der französischen Schweiz zu seinem Evangelium zu bekehren, und zeitweilig mit solchem Glück, daß er sogar den weitaus geistreichsten, aber auch verbummeltsten unter ihnen, August Becker, einfing. Dieser Kuhlmann hielt ihnen Vorlesungen, die 1845 zu Genf veröffentlicht wurden unter dem Titel: »Die Neue Welt, oder das Reich des Geistes auf Erden. Verkündigung«. Und in der von seinen Anhängern (wahrscheinlich von August Becker) redigierten Einleitung heißt es:
»Es fehlte an einem Mann, in dessen Munde all' unsere Leiden und all' unser Sehnen und Hoffen, mit einem Wort alles was unsre Zeit im Innersten bewegt, zur Sprache würde...Dieser Mann, den unsre Zeit erwartet, er ist aufgetreten. Er ist der Dr. Georg Kuhlmann aus Holstein. Er ist aufgetreten mit der Lehre von der neuen Welt oder dem Reich des Geistes in der Wirklichkeit.«
Ich brauche wohl nicht hinzuzusetzen, daß diese Lehre von der neuen Welt weiter nichts ist als die allerordinärste Gefühlsduselei, in halbbiblische Redensarten à la Lamennais gebracht und mit Prophetenarroganz vorgetragen. Was die guten Weitlingianer nicht verhinderte, diesen Schwindler ebenso auf den Händen zu tragen wie jene asiatischen Christen den Peregrinus. Sie, die sonst erzdemokratisch und egalitär bis aufs äußerste waren, derart, daß sie gegen jeden Schulmeister, Journalisten, überhaupt Nicht-Handwerker, als gegen einen »Gelehrten«, der sie ausbeuten wolle, einen unauslöschlichen Verdacht hegten, sie ließen sich von dem melodramatisch ausstaffierten Kuhlmann beibringen, daß in der »neuen Welt« der Weiseste, id est Kuhlmann, die Verteilung der Genüsse regeln werde und deshalb auch schon jetzt, in der alten Welt, die Jünger demselben Weisesten die Genüsse scheffelweis zutragen, sich selbst aber mit den Brosamen begnügen müßten. Und Peregrinus-Kuhlmann lebte herrlich und in Freuden auf Kosten der Gemeinden – solange es währte. Sehr lange währte es freilich nicht; wachsendes Murren der Zweifler und Ungläubigen, drohende Verfolgungen der Waadtländer Regierung machten dem »Reich des Geistes« in Lausanne ein Ende – Kuhlmann verschwand.
Jedem, der die europäische Arbeiterbewegung in ihren Anfängen aus Erfahrung gekannt hat, werden ähnliche Beispiele zu Dutzenden ins Gedächtnis kommen. Heutzutage sind solche extreme Fälle, wenigstens in den größern Zentren, unmöglich geworden, aber in abgelegnern Gegenden, wo die Bewegung neues Terrain erobert, kann so ein kleiner Peregrinus noch auf zeitweiligen beschränkten Erfolg rechnen. Und wie sich an die Arbeiterpartei in allen Ländern alle Elemente herandrängen, die von der offiziellen[453] Welt nichts zu erwarten oder bei ihr ausgespielt haben – Impfgegner, Mäßigkeitsleute, Vegetarianer, Antivivisektionisten, Naturärzte, freigemeindliche Prediger, denen die Gemeinde aus dem Leim gegangen, Verfasser neuer Weltentstehungstheorien, erfolglose oder verunglückte Erfinder, Dulder wirklicher oder vermeintlicher Ungerechtigkeiten, die von der Bürokratie als »unnütze Querulanten« bezeichnet werden, ehrliche Narren und unehrliche Betrüger –, so ging es den ersten Christen auch. Alle die Elemente, die der Auflösungsprozeß der alten Welt freigesetzt, d.h. an die Luft gesetzt hatte, kamen nacheinander in den Anziehungskreis des Christentums als des einzigen Elements, das diesem Auflösungsprozeß widerstand – weil es eben sein eigenes notwendiges Produkt war – und das daher blieb und wuchs, während die andern Elemente nur Eintagsfliegen waren. Keine Schwärmerei, Narrheit oder Schwindelei, die nicht an die jungen Christengemeinden sich herangedrängt, die nicht wenigstens an einzelnen Orten zeitweilig offne Ohren und willige Gläubige gefunden hätte. Und wie unsre ersten kommunistischen Arbeitergemeinden, so waren auch die ersten Christen für Dinge, die in ihren Kram paßten, von einer beispiellosen Leichtgläubigkeit, so daß wir nicht einmal sicher sind, daß nicht aus »der großen Zahl Schriften«, die Peregrinus für die Christenheit verfaßte, das eine oder andre Fragment sich in unser Neues Testament verirrt hat.[454]
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