II

[455] Die deutsche Bibelkririk, bis jetzt die einzige wissenschaftliche Grundlage unsrer Kenntnis der Geschichte des Urchristentums, ist in doppelter Richtung verlaufen.

Die eine Richtung ist die der Tübinger Schule zu der im weitern Sinn auch D. F. Strauß zu rechnen ist. Sie geht in der kritischen Untersuchung so weit, wie eine theologische Schule gehn kann. Sie gibt zu, daß die vier Evangelien keine Berichte von Augenzeugen, sondern spätere Überarbeitungen verlorner Schriften, und daß von den dem Apostel Paulus zugeschriebnen Briefen höchstens vier echt sind usw. Sie streicht alle Wunder und alle Widersprüche als unzulässig aus der Geschichtserzählung aus; von dem übrigen aber sucht sie »zu retten, was noch zu retten ist«, und dabei kommt dann ihr Charakter als der einer Schule von Theologen sehr zum Vorschein. Sie hat es damit möglich gemacht, daß Renan, der großenteils auf ihr fußt, durch Anwendung derselben Methode noch viel mehr »gerettet« hat und uns außer vielen mehr als zweifelhaften neutestamentlichen Erzählungen auch noch eine Menge sonstiger Märtyrerlegenden als historisch beglaubigt aufnötigen will. Jedenfalls aber kann alles, was die Tübinger Schule im Neuen Testament als ungeschichtlich oder untergeschoben verwirft, als endgültig für die Wissenschaft beseitigt gelten.

Die andere Richtung ist vertreten nur durch einen Mann – Bruno Bauer. Sein großes Verdienst besteht nicht nur in der rücksichtslosen Kritik der Evangelien und apostolischen Briefe, sondern auch darin, daß er zum erstenmal Ernst gemacht hat mit der Untersuchung, nicht nur der jüdischen und griechisch-alexandrinischen, sondern auch der rein griechischen und griechisch-römischen Elemente, die dem Christentum erst die Laufbahn zur Weltreligion eröffnet haben. Die Sage von dem aus dem Judentum fix und fertig erstandnen Christentum, das von Palästina aus mit in der Hauptsache feststehender Dogmatik und Ethik die Welt eroberte, ist[455] seit Bruno Bauer unmöglich geworden; nur in den theologischen Fakultäten kann sie noch fortvegetieren und bei Leuten, die »dem Volk die Religion erhalten« wollen selbst auf Kosten der Wissenschaft. Der gewaltige Anteil, den die philonische Schule Alexandriens und die griechisch-römische Vulgärphilosophie – platonische und namentlich stoische – an dem Christentum haben, das unter Konstantin Staatsreligion wurde, ist noch lange nicht im einzelnen festgestellt, aber sein Dasein ist erwiesen, und das ist vorwiegend Bruno Bauers Werk; er hat den Grund des Beweises gelegt, daß das Christentum nicht von außen, von Judäa in die römisch-griechische Welt importiert und ihr aufgenötigt worden, sondern daß es, wenigstens in seiner Weltreligionsgestalt, das eigenste Produkt dieser Welt ist. Natürlich schoß Bauer, wie alle gegen eingewurzelte Vorurteile ankämpfenden Leute, bei dieser Arbeit weit übers Ziel hinaus. Um den Einfluß Philos und namentlich Senecas auf das werdende Christentum auch literarisch zu fixieren und die neutestamentlichen Schriftsteller förmlich als Plagiatoren jener Philosophen darzustellen, muß er die Entstehung der neuen Religion um ein halbes Jahrhundert später setzen, die entgegenstehenden Berichte der römischen Geschichtschreiber verwerfen und überhaupt mit der Geschichtsdarstellung sich starke Freiheiten erlauben. Das Christentum als solches entsteht nach ihm erst unter den flavischen Kaisern, die neutestamentliche Literatur erst unter Hadrian, Antonin und Marcus Aurelius. Damit verschwindet bei Bauer denn auch jeder historische Hintergrund für die neutestamentlichen Erzählungen von Jesus und seinen Jüngern; sie lösen sich auf in Sagen, worin die inneren Entwicklungsphasen und Gemütskämpfe der ersten Gemeinden auf mehr oder weniger fingierte Personen übertragen sind. Nicht Galiläa und Jerusalem, sondern Alexandria und Rom sind nach Bauer die Geburtsstätten der neuen Religion.

Wenn also die Tübinger Schule uns in dem von ihr unangefochtenen Residuum der neutestamentlichen Geschichte und Literatur das äußerste Maximum dessen bot, was die Wissenschaft sich heute selbst noch als streitig gefallen lassen kann, so bietet uns Bruno Bauer das Maximum dessen, was sie darin anfechten kann. Zwischen diesen Grenzen liegt die tatsächliche Wahrheit. Ob diese mit den heutigen Mitteln sich bestimmen läßt, scheint sehr zweifelhaft. Neue Funde namentlich in Rom, im Orient, vor allem in Ägypten werden viel mehr dazu beitragen als alle Kritik.

Nun aber haben wir im Neuen Testament ein einziges Buch, dessen Abfassungszeit sich bis auf wenige Monate feststellen läßt, das zwischen Juni 67 und Januar oder April 68 geschrieben sein muß; ein Buch, das also der allerersten christlichen Zeit angehört und uns deren Vorstellungen mit der[456] naivsten Treue und in entsprechend idiomatischer Sprache widerspiegelt, und das daher, meiner Ansicht nach, für die Feststellung dessen, was das Urchristentum wirklich war, weit wichtiger ist als das ganze übrige, in seiner jetzigen Fassung weit spätere Neue Testament. Dies Buch ist die sogenannte Offenbarung Johannis, und da dies scheinbar dunkelste Buch der ganzen Bibel zudem, dank der deutschen Kritik, heute das allerverständlichste und durchsichtigste ist, so will ich meinen Lesern darüber berichten.

Man braucht nur einen Blick in dies Buch zu werfen, um sich zu überzeugen, wie exaltiert nicht nur der Verfasser war. sondern auch das »umgebende Mittel«, worin er sich bewegte. Unsre »Offenbarung« ist nicht die einzige ihrer Art und ihrer Zeit. Vom Jahr 164 vor unsrer Zeitrechnung, wo die erste uns erhaltene, das sog. Buch Daniel, geschrieben wurde, bis zu etwa 250 unsrer Zeitrechnung, dem ungefähren Datum des Commodianischen »Carmen«, zählt Renan nicht weniger als fünfzehn uns erhaltne klassische »Apokalypsen« auf, ungerechnet die späteren Nachahmungen. (Ich zitiere Renan deshalb, weil sein Buch auch außerhalb Fachkreisen am bekanntesten und am leichtesten zugänglich ist.) Es war eine Zeit, wo selbst in Rom und Griechenland, noch weit mehr aber in Kleinasien, Syrien und Ägypten eine absolut kritiklose Mischung des krassesten Aberglaubens der verschiedensten Völker unbesehen akzeptiert und durch frommen Betrug und direkten Scharlatanismus ergänzt wurde; wo Wunder, Verzückungen, Visionen, Geisterkram, Erforschung der Zukunft, Goldmacherei, Kabbala und andrer verborgner Zauberkram die erste Rolle spielten. Das war die Atmosphäre, worin das Urchristentum entstand, und zwar unter einer Klasse von Leuten, die mehr als jede andre für diese übernatürlichen Phantastereien offne Ohren hatte. Haben doch die christlichen Gnostiker Ägyptens während des zweiten Jahrhunderts der christlichen Zeitrechnung, wie u.a. die Leydenschen Papyrusschriften beweisen, stark in Alchimie mitgemacht und alchimistische Vorstellungen in ihre Lehren aufgenommen. Und die chaldäischen und jüdischen mathematici, die nach Tacitus zweimal, unter Claudius und nochmals unter Vitellius, aus Rom vertrieben wurden wegen Zauberei, sie trieben keine andren Geometriekünste, als die wir im Kernpunkt der Offenbarung Johannis wiederfinden werden.

Dazu kommt noch ein Zweites. Alle Apokalypsen schreiben sich das Recht zu, ihre Leser zu täuschen. Nicht nur sind sie in der Regel von ganz andern – meist weit spätern – Leuten geschrieben als von ihren angeblichen Verfassern, z.B. das Buch Daniel, das Buch Henoch, die Apokalypsen des[457] Esra, Baruch, Juda etc., die Sibyllinischen Bücher, sondern sie prophezeien auch, ihrem Hauptinhalt nach, lauter Dinge, die längst geschehen und dem wirklichen Verfasser vollkommen bekannt sind. So läßt der Verfasser des Buchs Daniel im Jahr 164, kurz vor dem Tod des Antiochus Epiphanes, den angeblich zur Zeit Nebukadnezars lebenden Daniel den Aufgang und Niedergang der persischen und makedonischen und den Anfang der römischen Weltherrschaft vorhersagen, um auf diesen Beweis seiner Prophetenpotenz hin den Leser empfänglich zu machen für die Schlußprophezeiung, daß das Volk Israel alle Leiden überstehn und endlich siegreich sein wird. Wäre also die Offenbarung Johannis wirklich das Werk des angeblichen Verfassers, so wäre sie die einzige Ausnahme unter der ganzen apokalyptischen Literatur.

Der Johannes, der sich als Verfasser angibt, war jedenfalls ein unter den kleinasiatischen Christen sehr angesehener Mann. Dafür bürgt der Ton der Sendschreiben an die sieben Gemeinden. Möglicherweise also der Apostel Johannes, dessen historische Existenz allerdings nicht durchaus beglaubigt, aber doch sehr wahrscheinlich ist. Und sollte dieser Apostel wirklich der Verfasser sein, dann um so besser für unsern Standpunkt. Es wäre die beste Beglaubigung dafür, daß das Christentum dieses Buchs das wirkliche, echte Urchristentum ist. Nebenbei sei nur noch bemerkt, daß die Offenbarung erwiesenermaßen nicht von demselben Verfasser herrührt wie das Evangelium oder die drei Briefe, die auch dem Johannes zugeschrieben werden.

Die Offenbarung besteht aus einer Reihe von Visionen. In der ersten erscheint Christus, als Hoherpriester gekleidet, wandelnd zwischen sieben Leuchtern, die die sieben asiatischen Gemeinden darstellen, und diktiert dem »Johannes« Briefe an die sieben »Engel« dieser Gemeinden. Gleich hier im Anfang tritt der Unterschied dieses Christentums und der vom Nicänischen Konzil formulierten konstantinischen Weltreligion schlagend hervor. Die Dreieinigkeit ist nicht nur unbekannt, sie ist hier eine Unmöglichkeit. Statt des späteren, einen heiligen Geistes haben wir hier die von den Rabbinern aus Jesaia 11,2 herauskonstruierten »sieben Geister Gottes«. Christus ist der Sohn Gottes, der Erste und der Letzte, das Alpha und das Omega, aber durchaus nicht selbst Gott oder Gott gleich, sondern im Gegenteil »der Anfang der Kreatur Gottes«, also eine von Ewigkeit existierende, aber untergeordnete Emanation Gottes, ähnlich wie die erwähnten sieben Geister. Kap. 15,3 singen die Märtyrer im Himmel »das Lied Mosis des Knechtes Gottes und das Lied des Lammes« zur Verherrlichung Gottes. Hier erscheint also Christus nicht nur als Gott untergeordnet,[458] sondern sogar in gewisser Beziehung mit Moses auf dieselbe Stufe gestellt. Christus ist in Jerusalem gekreuzigt (11,8), aber auferstanden (1, 5 [und] 18), er ist »das Lamm«, das geopfert worden für die Sünden der Welt und mit dessen Blut die Gläubigen Gott erkauft sind aus allerlei Volk und Zungen. Hier finden wir die Grundvorstellung, die es dem Urchristentum möglich machte, sich zur Weltreligion fortzuentwickeln. Allen damaligen Religionen der Semiten und Europäer war die Ansicht gemeinsam, die durch Handlungen der Menschen beleidigten Götter könnten durch Opfer versöhnt werden; die erste revolutionäre (der philonischen Schule entlehnte) Grundvorstellung im Christentum war die, daß durch das eine große, freiwillige Opfer eines Mittlers aller Zeiten und Menschen Sünden ein für allemal gesühnt seien – für die Gläubigen. Hiermit fiel die Notwendigkeit aller ferneren Opfer weg und damit die Grundlage einer Menge religiöser Zeremonien; Freiheit von Zeremonien, die den Umgang mit Andersgläubigen erschweren oder verbieten, war aber erste Bedingung einer Weltreligion. Und trotzdem saß die Gewohnheit des Opferns so tief in den Volkssitten, daß der Katholizismus – der so viel Heidnisches wieder aufnahm – es für angemessen fand, dieser Tatsache durch Einführung wenigstens des symbolischen Meßopfers sich anzubequemen. – Vom Dogma von der Erbsünde dagegen findet sich in unsrem Buche nicht eine Spur.

Das bezeichnendste in diesen Sendschreiben wie im ganzen Buch ist aber, daß es dem Verfasser nie und nirgends einfällt, sich und seine Glaubensgenossen anders zu bezeichnen denn als – Juden. Den Sektierern in Smyrna und Philadelphia, gegen die er eifert, wirft er vor: »sie sagen, sie seien Juden, und sind es nicht, sondern sind des Satans Schule«; von denen in Pergamus heißt es: sie halten an der Lehre Balaams, welcher lehrete durch den Balak ein Ärgernis aufrichten vor den Kindern Israels, zu essen der Götzen Opfer und Hurerei zu treiben. Wir haben es hier also nicht mit bewußten Christen zu tun, sondern mit Leuten, die sich für Juden ausgeben; ihr Judentum ist allerdings eine neue Entwicklungsstufe des früheren, aber eben deshalb auch das einzig wahre. Daher kommen bei dem Erscheinen der Heiligen vor dem Thron Gottes zuerst 144000 Juden, je 12000 von jedem Stamm, und erst dann die unzählige Masse der zu diesem erneuerten Judentum bekehrten Heiden. So wenig wußte unser Verfasser im 69. Jahr der christlichen Zeitrechnung, daß er eine ganz neue Phase der religiösen Entwicklung vertrat, die eins der revolutionärsten Elemente in der Geschichte des menschlichen Geistes werden sollte.

Wir sehen also, das damalige, sich selbst noch unbewußte Christentum war himmelweit verschieden von der späteren, dogmatisch fixierten Weltreligion[459] des Nicänischen Konzils; das eine ist in der andern gar nicht wiederzuerkennen. Weder die Dogmatik noch die Ethik des späteren Christentums existiert hier; dafür aber ein Gefühl, daß man sich im Kampf gegen eine ganze Welt befindet und diesen Kampf siegreich bestehn wird; eine Kampfeslust und eine Siegesgewißheit, die dem heutigen Christen total abhanden gekommen und die in unsrer Zeit sich nur findet am andern Gesellschaftspol, bei den Sozialisten.

In der Tat, der Kampf gegen eine anfangs übermächtige Welt und der gleichzeitige Kampf der Neuerer untereinander, ist beiden gemeinsam, den Urchristen wie den Sozialisten. Beide große Bewegungen sind nicht von Führern und Propheten gemacht – obwohl Propheten genug bei beiden vorkommen –, sie sind Massenbewegungen. Und Massenbewegungen sind im Anfang notwendig konfus; konfus, weil alles Massendenken sich zuerst in Widersprüchen, Unklarheiten, Zusammenhangslosigkeiten bewegt, konfus aber auch eben wegen der Rolle, die die Propheten anfangs noch darin spielen. Die Konfusion zeigt sich in der Bildung zahlreicher Sekten, die sich untereinander mit mindestens ebenderselben Heftigkeit bekämpfen wie den gemeinsamen Feind draußen. So war's im Urchristentum, so war's in den ersten Zeiten der sozialistischen Bewegung, so sehr das auch die wohlmeinenden Biedermänner betrübte, die Einigkeit predigten, wo keine Einigkeit möglich war.

War denn die Internationale zusammengehalten durch ein einheitliches Dogma? Im Gegenteil. Da waren Kommunisten französischer Tradition von vor 1848, diese selbst wieder verschiedner Schattierung; Kommunisten Weitlingscher Schule und andre des regenerierten Bundes der Kommunisten; Proudhonisten, in Frankreich und Belgien vorherrschend; Blanquisten; die deutsche Arbeiterpartei; endlich bakunistische Anarchisten, die einen Augenblick in Spanien und Italien die Oberhand hatten – und das waren nur die Hauptgruppen. Von der Stiftung der Internationale an hat es ein volles Vierteljahrhundert gebraucht, bis die Scheidung von den Anarchisten endgültig und überall vollzogen und eine Einheit wenigstens für die allgemeinsten ökonomischen Gesichtspunkte hergestellt werden konnte. Und das mit unsern Verkehrsmitteln, mit den Eisenbahnen, den Telegraphen, den industriellen Riesenstädten, der Presse, den organisierten Volksversammlungen.

Bei den ersten Christen dieselbe Spaltung in zahllose Sekten, die grade das Mittel war, die Diskussion und eben dadurch die spätere Einheit zu erzwingen. Schon in diesem unserm unzweifelhaft ältesten christlichen Dokument finden wir sie, und unser Verfasser eifert gegen sie mit derselben[460] unversöhnlichen Heftigkeit wie gegen die große sündige Welt draußen. Da sind zuerst die Nikolaiten in Ephesus und in Pergamus; diejenigen, die da sagen, sie seien Juden, aber sind die Synagoge des Satans, in Smyrna und Philadelphia; die Anhänger der Lehre des als Bileam bezeichneten falschen Propheten in Pergamus; die so da sagen, sie seien Apostel und sind es nicht, in Ephesus; endlich die Anhänger der falschen Prophetin, die als Jesabel bezeichnet wird, in Thyatira. Näheres über diese Sekten erfahren wir nicht, nur von den Nachfolgern des Bileam und der Jesabel wird gesagt, sie äßen Götzenopfer und trieben Hurerei. Man hat nun versucht, alle diese fünf Sekten als Paulinische Christen, und alle diese Sendschreiben als gegen Paulus, den falschen Apostel, den angeblichen Bileam und »Nikolaus« gerichtet zu fassen. Die diesbezüglichen, sehr wenig stichhaltigen Argumente findet man zusammengestellt bei Renan, »Saint-Paul«, Paris 1869, S. 303 bis 305, 367-370. Sie laufen alle darauf hinaus, die Sendschreiben zu erklären durch die Apostelgeschichte und die sog. Paulinischen Briefe, Schriften, die wenigstens in ihrer jetzigen Fassung um mindestens 60 Jahre jünger sind als die Offenbarung, und deren diesbezügliche tatsächliche Angaben also nicht nur äußerst zweifelhaft, sondern auch einander total widersprechend sind. Entscheidend aber ist, daß es unserm Verfasser nicht einfallen konnte, eine und dieselbe Sekte mit fünf verschiedenen Bezeichnungen zu belegen, ja sogar für Ephesus allein mit zwei (falsche Apostel und Nikolaiten) und für Pergamus ebenfalls mit zwei (Bileamiten und Nikolaiten), und zwar jedesmal ausdrücklich als zwei verschiedene Sekten. Wobei die Wahrscheinlichkeit nicht geleugnet werden soll, daß sich unter diesen Sekten ebenfalls Elemente befanden, die man heute als paulinisch bezeichnen würde.

In den beiden Fällen, wo Näheres angegeben ist, läuft die Anklage hinaus auf das Essen von Götzenopfern und Hurerei, die beiden Punkte, worüber die Juden – die alten sowohl wie die christlichen – in ewigem Streit lagen mit den übergetretenen Heiden. Fleisch von heidnischen Opfern wurde nicht nur bei Festmahlzeiten aufgetragen, wo die Zurückweisung des Dargebrachten unanständig scheinen, ja gefährlich werden konnte, sondern auch auf öffentlichen Märkten verkauft, wo ihm nicht immer anzusehn war, ob es koscher oder nicht. Unter Hurerei verstanden dieselben Juden nicht nur außerehelichen geschlechtlichen Umgang, sondern auch die Ehe in nach jüdischem Gesetz verbotnen Verwandtschaftsgraden oder auch zwischen Juden und Heiden; und dies ist der Sinn, der dem Wort in der Stelle Apostelgeschichte 15, 20 und 29 gewöhnlich beigelegt wird. Unser Johannes aber hat eigne Ansichten auch über den den orthodoxen Juden erlaubten[461] Geschlechtsverkehr. Er sagt 14, 4 von den 144000 himmlischen Juden: »Diese sind es, die mit Weibern nicht befleckt sind, denn sie sind Jungfrauen.« Und in der Tat, in dem Himmel unsres Johannes gibt es keine einzige Frau. Er gehört also der auch in andern urchristlichen Schriften oft auftretenden Richtung an, die den Geschlechtsverkehr überhaupt für sündhaft ansieht. Und wenn wir dann noch bedenken, daß er Rom die große Hure nennt, mit welcher gehuret haben die Könige der Erde und sind trunken worden von dem Wein ihrer Hurerei, und ihre Kaufleute sind reich geworden von ihrer großen Wollust, so können wir unmöglich das Wort in den Sendschreiben in dem engen Sinn nehmen, den die theologische Apologetik ihm beilegen möchte, um dadurch eine Bestätigung für andre neutestamentliche Stellen herauszuklauben. Im Gegenteil. Diese Stellen der Sendschreiben weisen offenbar hin auf die allen tieferregten Zeiten gemeinsame Erscheinung, daß, wie an allen andern Schranken, auch an den überlieferten Banden des Geschlechtsverkehrs gerüttelt wird. Auch in den ersten christlichen Jahrhunderten tritt, neben der Askese, die das Fleisch abtötet, oft genug die Tendenz auf, die christliche Freiheit auf mehr oder weniger schrankenlosen Umgang zwischen Mann und Weib auszudehnen. Ebenso ging's in der modernen sozialistischen Bewegung. Welch greuliches Entsetzen rief nicht in der damaligen »frommen Kinderstube« Deutschland in den dreißiger Jahren die saint-simonistische réhabilitation de la chair hervor, die man verdeutschte als »Wiedereinsetzung des Fleisches«! Und am greulichsten waren entsetzt jene damals herrschenden vornehmen Stände (Klassen gab's damals noch nicht bei uns), die in Berlin ebensowenig wie auf ihren Landgütern leben konnten, ohne stets wiederholte Wiedereinsetzung ihres Fleisches! Ja, hätten die guten Leute erst den Fourier gekannt, der dem Fleisch noch ganz andre Sprünge in Aussicht stellt! Mit der Überwindung des Utopismus haben diese Extravaganzen einer rationelleren und in Wirklichkeit weit radikaleren Auffassung Platz gemacht, und seitdem Deutschland aus der frommen Kinderstube Heines sich zum Zentralgebiet der sozialistischen Bewegung entwickelt hat, lacht man über die heuchlerische Entrüstung der vornehmen frommen Welt.

Das ist der ganze dogmatische Inhalt der Sendschreiben. Im übrigen feuern sie die Genossen auf zu eifriger Propaganda, zu kühnem und stolzem Bekennen ihres Glaubens angesichts der Gegner, zu unablässigem Kampf gegen die Feinde draußen und drinnen – und soweit dies geht, hätten sie ebensogut geschrieben sein können von einem prophetisch angehauchten Enthusiasten aus der Internationale.[462]

Quelle:
Karl Marx, Friedrich Engels: Werke. Berlin 1963, Band 22, S. 455-463.
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