§ 37. Kritische Bemerkung über die Gassendische Theorie des Ursprungs der Erkenntnis

[117] Die Gassendische Theorie vom Ursprung der allgemeinen Ideen ist eine Theorie des Scheines, die phainomeuê sophia ousa de mê. Die wahrhaft allgemeine Vorstellung aus den einzelnen, d. i. das Allgemeine aus dem Einzelnen realiter entspringen lassen, ist ebensoviel, als wenn man das Licht aus den Farben entspringen lassen wollte; denn das Einzelne ist nur dem Scheine nicht der Wahrheit nach früher als das Allgemeine, dieses ist das der Natur und dem Begriffe nach Frühere. Da die allgemeine Vorstellung die geistige ist, so kommt man überdem nur durch einen Salto mortale von der sinnlichen zur geistigen. Denn da die allgemeine Vorstellung erst die wahrhafte, die denkende, die vernünftige Vorstellung, d. i. ein Gedanke ist, ein Geist aber oder eine Vernunft, die gar keine Gedanken hat, also gar nichts denkt, doch hoffentlich wohl kein Geist, keine Vernunft ist, so wie ein Licht, das nicht leuchtet, kein Licht ist (denn was ist die Vernunft in dieser Beziehung anders als die Denk-, die Gedankentätigkeit?), so läßt man in jener Theorie eigentlich den Geist, die Vernunft aus den Sinnen entspringen. Aber wie man ohne Vernunft zu Vernunft, ohne Denken zum Denken, ohne Gedanken zu Gedanken kommen kann, wie die Vernunft aus den Sinnen entsteht, dürfte schwer einzusehen sein. Leibniz sagt daher schon vortrefflich in dieser Beziehung von Locke, der im wesentlichen dieselbe Theorie von dem Ursprunge der Begriffe und Erkenntnisse hatte wie Gassendi: »Idem non satis animadvertit, ideas entis, substantiae, unius et ejusdem, veri, boni, aliasque multas menti nostrae ideo innatas esse, quia ipsa innata est sibi et in se ipsa haec omnia deprehendit. Nempe nihil est in intellectu, quod non fuerit in sensu, nisi ipse intellectus.« Die Gassendische Vorstellungstheorie hat deswegen zu ihrem Prinzip[117] die hauptsächlich erst in der neuern Zeit allgemein gewordene und fast allen Theorien von der Erkenntnis und Seele zugrunde liegende Identifikation oder richtiger Verwechslung des Geistes, der Seele, der Vernunft mit dem einzelnen, sinnlichen, bestimmten Individuum. Denn dieses kommt notwendig als ein sinnliches Einzelwesen erst vermittelst des Sinnlichen zum Denken und zum Bewußtsein des Allgemeinen, aber die allgemeinen Ideen und Gedanken entstehen oder entspringen realiter ebensowenig erst aus den einzelnen, sinnlichen Vorstellungen, als die Vernunft in jedem einzelnen und mit jedem einzelnen realiter entsteht. Für den einzelnen entstehen sie wohl, aber diese Entstehung ist eben eine nur auf den einzelnen sich beziehende, nur eine scheinbare, keine wahrhafte reelle Entstehung. In jener Theorie wird daher der Schein für die Sache genommen.69

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Diese Kritik der Gassendischen Erkenntnislehre ist von dem Standpunkt gefällt, welchen ich in meinen »Grundsätzen der Philosophie«, § 9-18, charakterisierte, wo der Mensch das Wesen Gottes in die Vernunft metamorphosiert, von einer Entstehung der Vernunft und Allgemeinbegriffe daher ebensowenig eine Rede sein kann als auf dem Standpunkt des Theismus von einer Entstehung Gottes. Da aber gleichwohl die Erfahrung eine Genesis der Vernunft lehrt, so bleibt auf diesem Standpunkt nichts anderes übrig, als ihr nur eine scheinbare oder subjektive Bedeutung einzuräumen.

Quelle:
Ludwig Feuerbach: Geschichte der neuern Philosophie von Bacon bis Spinoza. Leipzig 1976, S. 117-118.
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