§ 75. Die verschiedenen Erkenntnisarten des Geistes

[264] Es gibt vier verschiedene Erkenntnisweisen. Die Seele erkennen wir nicht wie die Körper außer uns durch ihre Idee; wir sehen sie daher nicht in Gott, wir erkennen sie allein durch unser Selbstgefühl oder Bewußtsein. Darum ist unsere Erkenntnis von ihr unvollkommen. Wir wissen von unsrer Seele nichts weiter, als was wir von ihr durch unser Gefühl erfahren. Hätten wir nie das Gefühl des Schmerzes, der Wärme, des Lichtes gehabt, so könnten wir nicht wissen, ob unsere Seele eine Empfänglichkeit für diese Gefühle hätte. Könnten wir dagegen in Gott die Idee sehen, die unsrer Seele entspricht, so könnten wir zugleich alle ihre möglichen Eigenschaften erkennen, wie wir in der Idee der Ausdehnung alle ihre möglichen Eigenschaften erkennen können. (Ebd., ch. 7)

Was wir von unsrer Seele erkennen, ist vielleicht soviel als wie nichts in Vergleich zu dem, was sie an sich ist. Denn unser Bewußtsein von uns selbst stellt uns vielleicht nur das wenigste von unserm Wesen vor. Wir haben daher von der Natur der Seele keine so vollkommne Erkenntnis wie von der Natur der Körper, ob wir gleich viel deutlicher die Existenz unserer Seele als die Existenz unsres Körpers und der uns umgebenden Körper einsehen. Wir können darum auch keine Definitionen von den Modifikationen oder Bestimmungen der Seele geben. Denn da wir weder die Seele noch ihre Modifikationen durch Ideen, sondern allein durch Empfindungen erkennen und solche Empfindungen wie Schmerz, Vergnügen, Wärme nicht an Worte gebunden sind, so ist klar, daß, wenn einer nie die Gefühle des Vergnügens und des Schmerzes gehabt hätte, er unmöglich durch Definitionen die Erkenntnis derselben bekommen könnte. Wir selbst für uns sind uns daher ganz dunkel und undurchsichtig, um uns zu sehen, müssen wir uns außer uns betrachten, und wir werden daher unser Wesen nicht erkennen, bis daß wir uns in dem betrachten, der unser Licht ist und in dem erst alle Dinge Licht werden. Denn außer Gott sind selbst die geistigsten[264] Substanzen ganz unsichtbar.

Die Seelen der andern Menschen aber und die reinen Geister erkennen wir nur durch Vermutung. Wir erkennen sie weder in ihnen selbst noch durch ihre Ideen, und da sie von uns verschieden sind, so können wir sie auch nicht durch das Bewußtsein erkennen. Wir vermuten allein, daß die Seelen andrer Menschen ebenso sind wie die unsrigen. Wir behaupten von ihnen, daß sie dieselben Gefühle wie wir haben, und selbst dann, wenn diese Gefühle keine Beziehung auf den Körper haben, sind wir gewiß, daß wir uns nicht täuschen, weil wir in Gott gewisse unveränderliche Ideen und Gesetze erblicken, aus denen wir mit Gewißheit erkennen, daß Gott auf die andern Geister ebenso einwirkt wie auf uns. (Liv. III, ch. 7, u. Éclairc. sur le III. liv.) Durch sich selbst aber und ohne Ideen erkennt man die Gegenstände, wenn sie durch sich selbst intelligibel oder erkennbar sind, d.h., wenn sie auf den Geist einwirken und daher sich ihm offenbaren können; denn der Verstand ist ein rein passives Vermögen der Seele. Es ist nun aber nur Gott allein, den man durch sich selbst erkennt, denn ob es gleich außer ihm noch andere geistige Wesen gibt, die auch durch ihre Natur erkennbar zu sein scheinen, so ist es doch nur Gott allein, der in dem Geiste wirken und sich ihm enthüllen kann. Nur von Gott allein haben wir daher eine unmittelbare und direkte Anschauung; denn nur er kann den Geist durch seine eigne Substanz erleuchten, und es ist daher auch in diesem Leben nur unsre Einheit mit Gott die Ursache, daß wir das zu erkennen fähig sind, was wir erkennen. Es ist unmöglich, zu denken, daß etwas Erschaffnes das Unendliche vorstellen könne, daß das Wesen ohne Einschränkung, das unendliche, das allgemeine Wesen, durch eine Idee, d.h. ein besonderes, ein von dem allgemeinen und unendlichen Wesen verschiedenes Wesen, könnte vorgestellt werden. Was aber die besondern Wesen betrifft, so ist es nicht schwer, zu begreifen, daß sie durch das unendliche Wesen, welches sie in seiner höchst wirksamen und folglich höchst intelligiblen Substanz enthält, können vorgestellt werden. Wir müssen daher behaupten, daß wir Gott durch sich selbst erkennen, obgleich unsre Erkenntnis von ihm in diesem Leben sehr unvollkommen ist. (Liv. III, ch. 7)[265]

Quelle:
Ludwig Feuerbach: Geschichte der neuern Philosophie von Bacon bis Spinoza. Leipzig 1976, S. 264-266.
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