§ 34.

[95] Jetzt zu einer Untersuchung, die uns in das zweite Nebenglied unserer Synthesis führen dürfte. In dem ewigen Raume lag das Mannigfaltige desselben ruhend und stetig bei einander in Einem und vor Einem Blicke, der nur, inwiefern Alles so ruht und vollständig ist, ein Blick und Ein und derselbe Blick ist. – Reflectire man auf irgend einen bestimmten Theil dieser Anschauung. Wodurch wird dieser Theil in seiner Gediegenheit und Ruhe gehalten? Offenbar durch alle übrigen und alle übrigen durch ihn. Keiner ist im Blicke, wenn nicht alle übrigen es sind: das Ganze bestimmt die Theile, die Theile das Ganze, jeder Theil jeden, und nur, inwiefern es so ist, ist es die stehende Anschauung, die wir aufstellten. Nichts ist, wenn nicht in derselben stehenden Einheit des Blickes Alles ist Es ist die vollkommenste innere Wechselwirkung und Organisation, – welche letztere sonach sich schon in der reinen Anschauung des Raumes vorfindet.

In der Construction dagegen wird ausgegangen von irgend einem einzelnen, durch Analyse gesetzten Puncte, und die Theile (z.B. der früher construirten Linie) kommen in einer gewissen Folge zu stehen, so dass, diese Richtung vorausgesetzt, zu dem Puncte b nicht gekommen werden kann, ausser von a aus u.s.f.

Aber wie haben wir sagen können, was wir soeben sagten? Nur inwiefern wir dergleichen Puncte, formal beliebig, setzten, also eben nur dachten und uns im Standpuncte der Construction erhielten. Im stehenden Raume, jenseits der Construction, sind keine Puncte, keine Discretionen, sondern es ist der Eine, in sich selbst zusammenfliessende concrete Blick, den wir soeben wiederum näher beschrieben. Die Discretion sonach – so wollen wir uns um der Strenge und Schärfe der Untersuchung willen ausdrücken, welche für die Folge vorauszusetzen[95] ist, – ihren Ursprung im Denken des Construirens, und was daraus folgt, im Verwandeln des Construirens in ein Denken.

Und worin hat das bestimmte Gesetz der Folge seinen Grund? Hier zuvörderst formaliter: in der Freiheit der Richtung; diese ist durchaus ungebunden und wandelbar, schwebend in jedem Puncte zwischen, der Unendlichkeit. Diese sonach muss, wenn von Folge auch nur die Rede seyn soll, vorausgesetzt werden; und wir bekommen den alten Satz von der Freiheit, als dem Grunde aller Quantitabilität, hier wieder in einem engeren, näher bestimmten Sinne. Diese aber gesetzt, ist die Folge bestimmt durch das Beieinanderseyn und Sichhalten des Mannigfaltigen in der stehenden Anschauung, dem Raume. Das Bewusstseyn der Folge steht daher, eben wie das vorige, weder in dem Puncte der Construction, noch in dem der Anschauung, sondern in beiden und in der Vereinigung beider.

Indem nun das – untenliegende, objective – Denken oder Construiren, immer unter Voraussetzung einer in ihm selbst durch Freiheit begründeten bestimmten Richtung, an das durch die Anschauung gegebene Gesetz der Folge gebunden wird, wie wird es denn da gedacht? Offenbar als ursprünglich und jenseits alles Denkens und Wissens gebunden für jede mögliche Richtung, die es sich gegeben wird, – nicht absolut gebunden, sondern eben unter Bedingung dieser oder jener bestimmten Richtung, die es sich giebt. Es wird daher, so wie oben eine ursprüngliche, nothwendige Anschauung, hier ein ursprüngliches, nothwendiges Denken vorausgesetzt, und dieses selbst gedacht; denn das Angezeigte ist doch wohl selbst ein Gedanke. Wie aber die angezeigte Anschauung war und blieb eine blosse Quantitabilität; so ist auch der Gedanke nur Quantitabilität, aber eine durch Freiheit der Richtung ins Unendliche bestimmbare. (Denke Eine Reihe, eine zweite, dritte u.s.f., so hast du die einzelne Bestimmtheit der Quantitabilität gedacht. Nun aber sollst du keine einzelne, sondern schlechthin alle denken, und so denkst du eben eine Gebundenheit des Denkens.)[96]

Ich habe die Quantitabilität überhaupt oben als Natur, Sinnenwelt, charakterisirt. Das Gesetz der Folge sonach, von dem hier die Rede ist, ist offenbar das Naturgesetz: und es ist schon hier klar, wie die Freiheit an dasselbe gebunden ist, nicht nur insofern, dass sie überhaupt erst in sich selbst sich aufgehen muss, um eine Folge zu haben, sondern auch, dass, nachdem sie eine hat, kein Gesetz derselben sie bindet, ausser unter Bedingung einer in sich selbst genommenen Richtung, die von jedem Puncte aus (der Raum ist hier ein durchaus adäquates Bild) unendlich vor ihr liegen.

Selbst nachdem die Welt ist, und vorausgesetzt, dass Jemand in ihr befangen sey und nicht über sie hinauskomme, – im zweiten Nebengliede der Synthesis stehen bliebe und daher sein Wissen nur Product der jenseits alles Wissens entsprungenen Anschauung wäre: so wäre ihm die Welt doch noch nicht absolute Potenz und Macht. Denn selbst in der Welt sind unendliche Richtungen möglich; diese hängen von ihm ab: sein Verhältniss zur Welt und das Gesetz in ihr, an das er gebunden ist, hängt daher ewig von ihm ab.

Die Klagen über die menschliche Gebrechlichkeit, Schwäche, Abhängigkeit, sind ebensowenig, als die über die Schwäche des menschlichen Verstandes, zu widerlegen. Wer darauf besteht, wird es ja wohl wissen und an sich erlebt haben; man kann seiner Versicherung trauen. Nur darf Einer oder der Andere ihn bitten, dass er ihn nicht miteinschliesse (Friedrich und Garve). Von der unmittelbaren Wirklichkeit kann man übrigens oft nicht schlecht genug denken. So niedrig man oft ihr Bild nimmt, so übertrifft es doch die Erfahrung. Wer aber von der Menschheit nach ihrem allgemeinen Vermögen schlecht denkt, der lästert die Vernunft und verurtheilt nebenbei sich selbst! –

Noch eine sich uns aufdringende und zur Sache gehörende, Bemerkung: – Sichtbar trägt das beschriebene objective Denken, von dessen Gliedern jedes bedingt ist durch ein anderes) das dadurch nicht hinwiederum bedingt ist (während in dem Begriffe des ruhenden Raumes jedes durch jedes bedingt wird), wo also die Bedingungen einseitig und in einer nicht rückwärtsgreifenden[97] Reihe fortgehen, vielmehr eine Folge und Konsequenz enthalten, – zugleich den formalen Charakter der Zeit an sich, deren Momente sich bekanntermaassen ebenso verhalten. Jedoch will ich durch das Gesagte keinesweges die Zeit schon abgeleitet haben: die hier aufgestellte Consequenz hat noch das Eigene und Widersprechendscheinende, dass die discreten Gedanken denn doch auch neben einander hingelegt und in Einen Blick gefasst werden. Hier aber fehlt noch die Gediegenheit, das Anhalten der Momente, die in der Zeit doch auch seyn soll. Wir mögen also wohl nur zu dem höchsten Grunde der Zeit, keinesweges aber noch zu ihrer Realität selbst in der Erscheinung gekommen seyn, denn soviel ist freilich klar, dass, wenn wir uns über die Zeit erheben und sie selbst erklären sollen, wir nicht in den Momenten derselben gefangen seyn, sondern sie mit Einem Blicke übersehen müssen, wie wir es mit unseren Gliedern des Denkens nach dem Gesetze der Consequenz eben also thaten.

Was zu einer solchen gediegenen und realen Zeit gehören wird, lässt sich vorläufig wohl schon ahnen; dies nemlich, dass die Glieder derselben nicht ein blosses Denken, sondern zugleich ein solches organisches, sich selbst haltendes und tragendes Anschauen seyn müssen, wie wir oben die Anschauung des stehenden Raumes beschrieben. Dies kann aber nur nach einer Disjunction dieses Raumes von sich selbst, nach einer höchst wahrscheinlich unendlichen Vermannigfaltigung desselben geschehen, bleibt also einer neuen Reflexion vorbehalten. So viel ist aber schon klar, dass die Zeit kein vollkommenes Wechsel- und Nebenglied des Raumes ist, wofür sie auch fast immer genommen worden. Man hat beide wie äussere und innere Anschauung unterschieden: lauter Einseitigkeiten. Wir würden nie den Raum aus uns herausbekommen, wenn wir ihn nicht in uns hätten. Und sind wir denn nicht selbst Raum? Jenes Fassen desselben als äussere Anschauung, kam von der sonderbaren Immaterialität, welche uns zugesichert werden sollte, nachdem die ebenso verunedelte und vergröberte Materie nicht mehr vornehm genug für uns war. – (Die Zeit steht in derselben Reihe der Reflexionen, wie der ächte, wahre[98] Raum. Freilich aber wird sie, wegen ihrer Verwandtschaft mit dem Denken und als seine Form höher hinauf, über allen Raum, hinweggetragen, und dies eben hat Veranlassung zu den gerügten Misverständnissen gegeben, sie direct ihm entgegenzusetzen.)

Durch das Bisherige ist ein wichtiger Schritt geschehen, sich dem factischen Wissen zu nähern. Jeder weiss, dass alles wirkliche Wissen oder Wissen vom Wirklichen ein besonderes seyn soll innerhalb eines unbestimmten Mannigfaltigen, und dass eben in seinem Verhältnisse zu dem Mannigfaltigen sein bestimmter Charakter, sein Seyn überhaupt besteht. Sodann muss aber das Mannigfaltige übersehen werden können, dem Blicke Stand halten und ihn tragen. Eine solche tragende Sphäre haben wir dem Denken an dem Gesetze der Consequenz in dem ewigen stehenden und ruhenden Raume gegeben. Er ist eben, wie beschrieben worden, das der Construction Standhaltende und sie Tragende, nicht in unendlicher Theilung in Nichts Zerfliessende. Aber darum ist er nicht schon gefüllt. Er ist an sich weder leer (er ist voll von sich selbst), noch voll von etwas Anderem; in dieser Rücksicht ist er freilich leer. Er ist eben die gediegene, gleichartige, in sich ruhende Anschauung.

Es ist klar, dass unser nächstes Geschäft seyn muss, in diese stehende Sphäre irgend Etwas, das ein Besonderes seyn könne, wodurch der an sich selbst allenthalben gleiche Raum (wenn man diesen Gedanken bei der doch zugleich in ihm vorhandenen Mannigfaltigkeit widersprechend findet, so habe ich Nichts dagegen) von sich unterschieden und die Glieder einer Reihe der Consequenz von einander ausgeschlossen werden, hineinzubringen, von wo aus das Gesagte erst seine vollkommene Verständlichkeit erhalten wird. Wer nun, eben von dem Begriffe des Raumes ausgehend, vermuthet; dass dies die Materie seyn werde, der hat Recht. Nur dürfte höchst wahrscheinlich nach dem eigenthümlichen Charakter unseres Systemes Materie eine ganz andere, als die gewöhnliche, Bedeutung haben. Es ist ja auch eine Geisterwelt, und diese so discret, wie jene. Wir werden daher wohl von der Einheit dieser[99] beiden Welten erst zu ihrer Unterscheidung fortgehen können und nachweisen, dass die Materie nothwendig geistig, der Geist nothwendig materiell sey: – keine Materie ohne Leben und Seele, kein Leben ausser in der Materie. –

Quelle:
Johann Gottlieb Fichtes sämmtliche Werke. Band 2, Berlin 1845/1846, S. 95-100.
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