§ 41.

[127] Der Inhalt der vorigen Reflexion war seiner wahren Bedeutung nach eine Kraftäusserung, aufgefasst als ein Punct in der Zeit. Sein anschaubares Bild ist die Construction einer Linie. Von jedem Puncte aus sind, nach der Unendlichkeit der möglichen Richtungen, unendliche Linien möglich, und die wirkliche Linie hängt durchaus ab von der Richtung und ist selbst die vollzogene Richtung.

1) Das sich ergreifende Ich ist ein Punct im überall ausgebreiteten Raume. Es kann sich nicht äussern, ausser in einer Richtung. – Diese Richtung ist nun überall und durchaus ein Punctbestimmen: der Punct aber ist das Bild des Ich. Sie ist daher anzuschauen, als schlechthin begründet im Ich, oder: sie selbst ist das Ich der Anschauung, das Ich wird nur in ihr und vermittelst ihrer, eben als das Richtende in ihr, angeschaut.

In diesem Wissen von der Richtung liegt der Focus der[127] Anschauung in dieser neuen Synthesis. Sie ist zuerst zu beschreiben: a) Sie hat dem Inhalte nach durchaus die Form einer Linie im Raume, des Fortgehens von einem Puncte und durch ihn hindurch zum anderen. Durch die ganze Linie hindurch aber wird Freiheit gesetzt, d.h. die Möglichkeit, dass in jedem einzelnen auffassbaren Puncte die Richtung, und so die Linie, aufhören oder ebenso ins Endlose anders seyn können: Bewusstseyn unendlicher Construirbarkeit und, in Bezug auf das wirklich Construirte oder in bestimmter Construction Angeschaute, der Zufälligkeit desselben.

b. Der Form nach ist die Synthesis eine merkwürdige und in ihren bald aufzuweisenden Folgen sogar wichtige Vermischung von Anschauen und Denken. Würde nemlich in jedem Puncte die Freiheit der Richtung, das Sichselbstergreifen und Fortführen der Linie (denn dies ist das Innere dieser Anschauung) gedacht, so käme es zu gar keiner Linie. Das Sichvergessen in der Anschauung ist daher nothwendig anzunehmen, um die Concretion der Linie erklären zu können: – aber ebenso auch das Sichselbstergreifen in ihr durch Denken und Herausgehen aus ihr, um ihr die Richtung zu geben, ohne welche sie abermals nicht Linie wäre Beides ist daher schlechthin vereinigt: es ist ein anschauendes Denken, ein denkendes Anschauen. In der Reflexion wird es geschieden, und da hat man das Eine nicht, wenn man das Andere hat, wiewohl nur das Zusammengehaltenseyn jenseits den eigentlichen Charakter jenes Begriffes ausmacht. (Keine Richtung, ohne ein stetiges Mannigfaltige, das durchaus nicht in der Richtung liegt, umgekehrt keine Mannigfaltigkeit für das Ich, ohne Richtung: so fallen auch hier Real- und Idealgrund schlechthin zusammen.)

2) Wir gehen zur Bestimmung der Synthesis im weiteren Zusammenhange. Das Ich, von welchem wir reden, ist an sich gebunden, – ein Seyn. Das Richtungnehmen ist daher ebenso ein unmittelbares, factisches, sowie wir den Charakter des empirischen Wissens überhaupt aufgestellt haben. Jeder nennt dies Wirken, Handeln – nemlich durchaus im physischen Sinne. Ihr Bild ist ein Fortbestimmen der gegebenen Construction der Materie durch Freiheit, d.h. hier durch materielle Kraft und[128] Bewegung. Weiter erstreckt sich kein materielles Handeln, und hier liegt der Grund davon: es ist ein Trennen und äusserliches Neuverbinden der Materie, nie aber von Innen organisirend, was Charakter der ursprünglichen Construction ist (§ 40.). – Wohlgemerkt: ich sage nicht, dass an sich wirklich gehandelt wird; denn eben dies ist unrichtig, sondern dass ein Wissen von einem wirklichen Handeln alles Wissen bedingt, und in der gegenwärtigen Synthesis der niedrigste Focus alles Wissens ist.

3) Das Ich ist auf dem empirischen Standpuncte durchaus an sein Seyn gebunden; seyn Seyn aber, sein gefundenes und findbares und die Anschauung fesselndes Seyn ist nichts Anderes, als Resultat der Wechselwirkung mit dem Universum: oder es ist selbst das Universum, in einem seiner ursprünglichen Durchdringungspuncte (§ 37. 38.). Ein Grund wird gesetzt in das Ich, heisst daher dasselbe, als ob gesagt würde: er wird gesetzt in der Welt. Ueberhaupt tritt erst hier ein Ich ein in das Wissen, dies aber ist nichts weiter, als der Gedanke der blossen Position der formalen Freiheit, des Dass, ohne alles Was: ein objectiver, empirischer, keinesweges reiner Gedanke. Es ist ein durchaus leeres, formales Ich, noch ohne alle Realität. Was demnach soeben gesagt wurde: Anschauen und Denken seyen hier auf eigenthümliche Weise verschmolzen, das Ich setze sich nicht in allen Puncten als Richtung gebend, sondern es wird fortgerissen, das bekommt hier eine noch weitere und höchstwichtige Bedeutung. Seine Freiheit ist überhaupt nur sein Gedanke; die Richtung ist enthalten in seinem Seyn im Universum. Das seyende reale Ich (wie es ja heissen soll, da es ein empirisch-reales Handeln ist,) giebt sich die Richtung, – oder: dieser Punct des Seyns im Universum hat die Richtung – bedeutet durchaus dasselbe. Nur der Blick, das Sichergreifen im Wissen, ist Sache der absoluten Freiheit, wie sich dies durchgreifend gezeigt hat; wäre dieser nicht, so wäre auch keine Richtung und keine Kraftäusserung, und es liesse dann weiter sich von Nichts reden. Wie er aber ist, so ist zugleich damit die Richtung in ihrer völligen Bestimmtheit da und Alles, was aus ihr folgt. Die Aeusserung[129] der ursprünglichen Kraft, von der wir eben gesprochen haben, fällt daher ebenso unmittelbar in jenen Blick, und dieser ist daher – ich denke, man nennt dies so – das Gefühl eines Triebes, und auch sein Inhalt ist unveränderlich bestimmt durch das Universum. – Trieb, als Substantielles in Beziehung auf ein Accidens, ist er nur insofern, als aus seinem blossen Gesetztseyn das formaliter freie Wissen noch nicht folgt, dies dazutreten kann oder auch nicht, also sein Accidens ist; – keineswegs aber, als ob er so oder auf entgegengesetzte Weise, zu a oder zu – a, treiben könnte, welches sich durchaus widerspricht; – auch eine von den Abschmacktheiten, die dem transcendentalen Idealismus aufgedrungen worden ist. In diesem Gegensatze allein ist er Trieb, mit der Reflexion (dem formalen Wissen) vereinigt wird er ein empirisches physisches Wirken, wie wir es beschrieben haben.

Folgesatz: Ich daher handle nie, sondern in mir handelt das Universum. Eigentlich aber bandelt auch dieses nicht, und es giebt kein Handeln, sondern ich sehe das Treiben des Universum, in der Reflexion desselben, als Ich, nur an als ein Handeln. Es giebt daher auch keine real-empirische Freiheit – nemlich auf dem Boden der Empirie. Wollen wir zur Freiheit, so müssen wir uns auf ein anderes Gebiet erheben. (Wie sehr hat man die Wissenschaftslehre misverstanden, wenn sie sagte: es ist auszugehen von einem reinen Handeln – ein Satz, der in der gegenwärtigen Darstellung noch zukünftig; ist, – und man glaubte, es sey das vergängliche Wirken, das wir so gewöhnlich treiben, – Steinesammeln und Steinezerstreuen!)

4) Es ist hierdurch das Universum, als Boden der Empirie, weiter bestimmt, und wir wollen dies hier sogleich anwenden. Es ist dasselbe ein lebendiges System von Trieben, welches in einer unendlichen Zeit, in allen den Puncten, wo es durch ein Wissen aufgefasst wird, sich zufolge eines in seinem Seyn selbst liegenden Gesetzes fortentwickelt, und zwar wohl die Möglichkeit eines Wissens, durchaus aber nicht das Wissen selbst, in sich trägt. (Hier liegt abermals ein Hauptdifferenzpunct, oder vielmehr eine Folge des Einen Differenzpunctes, des wahren Idealismus der Wissenschaftslehre von spinozisirenden[130] neueren Systemen. In ihnen soll – und noch dazu das empirische Seyn – das Wissen als sein nothwendiges Resultat, als, »höhere Potenz« desselben, bei sich führen. Dies aber widerspricht dem inneren Charakter des Wissens, welches ein absolutes Entspringen ist, ein Entstehen aus der Substanz der Freiheit, nicht des Seyns, – und zeigt den Mangel an einer intellectuellen. Anschauung dieses Wissens an. Es muss allenthalben und in jeder Gestalt dasselbe Verhältniss des Wissens zum Seyn bleiben, das bei dem absoluten Wissen und Seyn sich gefunden hat, – dass nemlich das erstere nur ein zufälliges Seyn gegen das letztere habe, – ein Accidens des letzteren sey, hervorgehend aus dem Absoluten (somit auch nicht seyn könnenden) Sichvollziehen der Freiheit. In dem empirischen Wissen macht man die Sinnenwelt, – wenn es gründlich ist, in der Gestalt, wie wir sie oben aufgestellt haben, – selbst zum absoluten Seyn, und hat daran völlig recht; aber der philosophische Standpunct soll ein höherer, der transcendentale seyn.)

5) Hierbei noch folgende Bemerkung. Der Trieb drückt aus das blosse Seyn, noch ohne alles Wissen: er ist sonach blosse Natur. Diese ist dargelegt in einem räumlich materiellen Leibe, in der Raumform als Körperform. Sie ist organische Aeusserung. Erst durch das Denken tritt der Punct und die Form der Construction aus ihm, die Linienform, ein. Dies ist nun allerdings die einzig mögliche unmittelbare Handlungsweise der Intelligenzen; aber sie hat ihren Grund lediglich in der Form des Wissens. Es ist dies daher mir eine andere Ansicht der organisirenden Körperform, und beides ist jenseits des Factischen Eins. Die mechanische (so können wir sie im Unterschiede von der anderen nennen) und organische Aeusserung sind an sich nicht verschieden, sondern es ist nur eine Duplicität der Ansicht. Es ist kein mechanisches Wirken ausser durch organische (immerfort organisch sich erneuernde) Kraft: Realgrund; – und wiederum, es lässt sich keine Organisation begreifen, ausser durch Schematismus des Mechanismus:

Idealgrund. Beides verhält sich, wie Anschauung und Denken, und ist unabtrennbar von einander und ist die wechselseitig[131] sich voraussetzende Doppelansicht des so oft erwähnten Wissens kat' exochên.

Quelle:
Johann Gottlieb Fichtes sämmtliche Werke. Band 2, Berlin 1845/1846, S. 127-132.
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