Dritte Vorlesung

[34] [Im Gegensatze mit dem Leben eines solchen Zeitalters bestehe das vernunftmässige Leben darin, dass das Individuum sein Leben an den Zweck der Gattung, oder an die Idee setze. Versuch an den Gemüthern der Zuhörer, ob sie sich entbrechen könnten, ein solches Leben zu billigen und zu bewundern; und was aus diesem Versuche, falls er gelingen sollte, folgen würde.]


Ehrwürdige Versammlung!


Nur allmählig kann Klarheit über unsere Untersuchung sich verbreiten – nur nach und nach die dunklen Partien derselben beleuchten, so lange, bis der Gegenstand als eine einzige Lichtflamme sich darstelle. Diese Beschränkung liegt, wie schon in der ersten Rede erinnert worden, in dem unveränderlichen Grundgesetze aller Mittheilung. Die Kunst des Vortragenden kann, ausser seiner unerlasslichen Pflicht, dass er jeden Gedanken an seinen rechten Ort stelle, dabei zur Erleichterung nur noch dies thun, dass sie bei den helleren Puncten, welche im Verlaufe des Vortrages aufstossen, sorgfältiger verweile, und von ihnen aus Licht über das vorhergegangene und nachfolgende verbreite.

Bei Einem dieser helleren Puncte in unserer ganzen unternommenen Untersuchung sind wir in der letzten Stunde angekommen; und es ist schicklich und zweckmässig, diesen Punct heute vollständiger auseinanderzusetzen. – Dass das Menschengeschlecht mit Freiheit alle seine Verhältnisse nach der Vernunft einrichte, war als Zweck des gesammten Erdenlebens unserer Gattung hingestellt; und der Charakter des von uns zu beschreibenden dritten Zeitalters wurde darein gesetzt, dass es sich von der Vernunft in jeglicher Gestalt entledige. Was aber Vernunft und insbesondere Leben nach der Vernunft, und welches die Verhältnisse seyen, die durch ein vernunftgemässes Leben nach dieser Vernunft eingerichtet werden sollten, ist zwar vielseitig angedeutet, noch nirgends aber klar in das Licht gesetzt worden. In der vorigen Stunde aber sagten wir: »Die Vernunft geht auf das Eine Leben. das als Leben der Gattung erscheint. Wird die Vernunft aus dem menschlichen Leben hinweggenommen, so bleibt lediglich die Individualität und[34] die Liebe derselben übrig.« Sonach besteht das vernünftige Leben darin, dass die Person in der Gattung sich vergesse, ihr Leben an das Leben des Ganzen setze und es ihm aufopfere; das vernunftlose hingegen darin, dass die Person nichts denke, denn sich selber, nichts liebe, denn sich selber und in Beziehung auf sich selber, und ihr ganzes Leben lediglich an ihr eigenes persönliches Wohlseyn setze: und falls das, was vernünftig ist, zugleich gut, und das, was vernunftwidrig ist, zugleich schlecht zu nennen seyn dürfte, – so giebt es nur Eine Tugend, die – sich selber als Person zu vergessen und nur Ein Laster, das – an sich selbst zu denken; dass daher die in der vorigen Stunde geschilderte Sittenlehre des dritten Zeitalters auch hier, wie allenthalben, die Sache gerade umkehrt und zur einzigen Tugend macht, was in der That das einzige Laster ist, und zum einzigen Laster, was in der That die einzige Tugend ist.

Die soeben ausgesprochenen Worte sind genau zu nehmen, und nach der Strenge so zu verstehen, wie sie lauten. Die Milderung, welche etwa hier versucht werden könnte, dass man nur nicht an sich allein, sondern an die anderen zugleich mit denken müsse, ist ganz dieselbe Sittenlehre, welche wir als die des dritten Zeitalters aufgestellt haben, nur dass sie hier noch obendrein inconsequent ist, und sich zu verhüllen strebt, da, wo sie noch nicht alle Scham überwunden. Wer auch nur überhaupt an sieh als Person denkt, und irgend ein Leben und Seyn, und irgend einen Selbstgenuss begehrt, ausser in der Gattung und für die Gattung, der ist im Grunde und Boden, mit welchen anderweitigen guten Werken er auch seine Misgestalt zu verhüllen suche, dennoch nur ein gemeiner, kleiner, schlechter und dabei unseliger Mensch: dieses, also, wie wir es ausgedruckt haben, ist unsere Meinung, gegen welche auch wohl in alle Ewigkeit sich nichts Gründliches wird vorbringen lassen.

Was dieses Geschlecht, seitdem es existirt, dagegen vorgebracht hat, und dagegen vorbringen wird, so lange es existiren wird, kommt zurück auf die dreiste Versicherung, dass der Mensch sich selbst vergessen gar nicht könne, und dass die[35] persönliche Selbstliebe mit seiner Natur innigst verwachsen und unaustilgbar in sie verweht sey. Ich frage diese Versicherer, woher sie denn wissen, was der Mensch könne, und was er nicht könne? Offenbar kann diese ihre Aussage durchaus auf nichts anderes sich gründen, als auf die Beobachtung ihrer selber; und es mag wohl wahr seyn, dass sie für ihre Person, nachdem sie nun einmal sind, was sie sind, und wenn sie es bleiben wollen, sich selbst zu vergessen nie vermögen werden. Aber was berechtigt sie denn, das Maass ihres Vermögens oder Nichtvermögens zum allgemeinen Maassstabe des Vermögens der Gattung zu erheben? Wohl kann der Edle wissen, wie dem Unedlen zu Muthe ist, denn wir alle werden im Egoismus erzeugt und geboren. und haben in ihm gelebt, und es kostet Kampf und Mühe, diese alte Natur in uns zu ertödten; keinesweges aber kann der Unedle wissen, wie dem Edlen zu Muthe ist, indem er nie in dessen Welt gekommen und durch sie den Durchgang gemacht hat, wie der Edle durch die seinige allerdings hindurch musste. Der letztere umfasset beide Welten, der erstere nur die Eine, die ihn gefangen hält; so wie der Wachende allerdings im Wachen den Traum, und der Sehende allerdings die Finsterniss zu denken vermag, der Träumende aber im Traume keinesweges das Wachen, noch der Blindgeborene das Licht. Erst nachdem sie in der höheren Welt angelangt seyn und in ihr Besitz genommen haben werden, werden sie können, was sie jetzt zu können läugnen und werden vermittelst dieses Könnens zugleich wissen, dass der Mensch es könne.

Darein also, dass das persönliche Leben gesetzt werde an das der Gattung, oder dass man sich selber vergesse in anderen, haben wir das rechte und vernunftmässige Leben gesetzt. Sichvergessen in anderen – es versteht sich, diese anderen gleichfalls nicht als Person, wo es doch immer bei der persönlichen Individualität bliebe, sondern als Gattung genommen. Verstehen Sie mich also: die Sympathie, die uns treibt, den persönlichen Schmerz anderer zu lindern und ihre Freude zu theilen und zu erhöhen, das Wohlwollen, das uns kettet an Freunde und Verwandte, die Liebe, die uns hinzieht zum Gatten und zu den Kindern, – alles dieses war oft mit beträchtlichen Aufopferungen[36] an eigener Bequemlichkeit und an eigenem Vergnügen, ist der erste stille und geheime Zug des Vernunftinstincts, um vorläufig nur den hartesten und gröbsten Egoismus zu brechen, und die Entwickelung einer sich verbreitenden und umfassenden Liebe anzufangen. Doch geht diese Liebe immer nur auf individuelle Personen, weit entfernt, dass sie die Menschheit schlechthin, ohne allen Unterschied der Personen, und als Gattung umfassen sollte; und ohnerachtet sie allerdings den Vorhof des höheren Lebens ausmacht, und wohl keiner den Eintritt in dasselbe erhalten dürfte, der nicht erst in diesem Gebiete der sanfteren Triebe die Weihe empfangen, so ist sie doch nicht selbst das höhere Leben. Dieses umfasst eben die Gattung als Gattung. Das Leben der Gattung aber ist ausgedruckt in den Ideen deren Grundcharakter sowohl, als die verschiedenen Arten derselben wir im Verlaufe dieser Vorträge. sattsam werden kennen lernen. Die obige Formel: sein Leben an die Gattung setzen, lasst daher sich auch also ausdrücken: sein Leben an die Ideen setzen; denn die Ideen gehen eben auf die Gattung als solche, und auf ihr Leben; und sonach besteht das vernunftmässige und darum rechte, gute und wahrhaftige Leben darin, dass man sich selbst in den Ideen vergesse, keinen Genuss suche noch kenne, als den in ihnen und in der Aufopferung alles anderen Lebensgenusses für sie.

Soweit diese Auseinandersetzung. Gehen wir nun an ein anderes Vorhaben.

Ich sage: so gewiss nun etwa Sie selber, E. V., durch eine innere Gewalt genöthigt, sich nicht entbrechen könnten, ein Leben wie das beschriebene, welches sich selbst den Ideen aufopfert, zu billigen, zu bewundern und zu verehren, und es um so höher zu verehren, je sichtbarer und je grösser die Opfer sind, welche den Ideen gebracht wurden: so würde aus dieser Ihrer Billigung zu ersehen seyn, dass in Ihrem Gemüthe unaustilgbar ein Princip läge, des Inhalts: dass die Person der Idee zum Opfer gebracht werden solle, und dass dasjenige Leben, in welchen dieses geschieht, das einzige wahre und rechte sey; demnach, dass, wenn man die Sache nach der Wahrheit und wie sie; an sich ist ansehe, das Individuum; gar nicht[37] existire, da es nichts gelten, sondern zu Grunde geben solle; dagegen die Gattung allein existire, indem sie allein als existent betrachtet werden solle. Wir würden sonach auf diese Weise das Versprechen halten, welches wir in der vorigen Stunde für die gegenwärtige von uns gaben – das versprechen, Ihnen an sich selber auf eine populäre Weise zu zeigen, dass sie den damals ausgesprochenen und fürs erste paradox erschienenen Satz selber sehr wohl wüssten und zugeständen, und von jeher nicht anders als aus ihm heraus geurtheilt hätten, nur dass Sie sich desselben nicht so deutlich bewusst worden: und es würden auf diese Weise die beiden Zwecke, welche ich mit dem gegenwärtigen Vortrage habe, zugleich erreicht.

Dass Sie wirklich in die Nothwendigkeit versetzt werden, ein Leben wie das beschriebene zu billigen und zu verehren, war das erste Glied, wovon alles übrige abhängt, und woraus es von selber folgt, und dies ihrer eigenen Ueberlegung anheimgestellt wird, ohne dass wir darauf zurückzukommen gedenken. Es ist mir daher die Aufgabe eines an Ihnen und in Ihnen zu machenden Experiments auflegt; und falls dieses gelingt, wie ich hoffe, so ist bewiesen, was zu beweisen war.

Ein Experiment will ich an Ihrem Gemüthe anstellen, sonach allerdings einen gewissen Affect in Ihnen erregen; aber keinesweges Sie überraschend, und lediglich deswegen, damit er erregt sey und ich ihn einen Augenblick zu meinem Vortheile gebrauchen könne, wie der Redner es thut, sondern mit Ihrem eigenen hellen, klaren Bewusstseyn, und dass er Ihnen sichtbar werde, und dass er nicht durch seine blosse Existenz wirke, sondern damit er in dieser seiner Existenz bemerkt und aus derselben weiter geschlossen werde.

Der Philosoph ist schon durch die Regeln seiner Kunst genöthigt, durchaus redlich und offen zu verfahren; dagegen hat er die über alle sophistische Rednerkünste weit hinausliegende Kraft, seinen Zuhörern vorher sagen zu können, was er in ihnen erregen wolle, und es, falls sie ihn nur verstehen, dennoch ganz sicher zu erregen.

Dieser freie und offene Gebrauch dessen, was bewirkt werden soll, legt mir zugleich die Verbindlichkeit auf, Ihnen die[38] Natur des Affectes, den ich in Ihnen darzustellen suche, näher zu beschreiben, und ich sende, damit wir ununterbrochen in derselben Einen Klarheit bleiben, diese Beschreibung voraus. Hierbei werde ich zunächst nur um die Festhaltung einiger zuerst nicht ganz deutlicher Ausdrücke und Formeln zu bitten haben, welche der Verfolg noch heute vollkommen klarmachen wird.

Das vernunftmässige Leben muss sich selber lieben; denn alles Leben, als sich selbst vollkommen genügend und ausfüllend, ist Genuss seiner selber. So gewiss nun im Menschen die Vernunftmässigkeit nicht ganz ausgetilgt werden kann, so gewiss kann auch diese Liebe der Vernunftmässigkeit zu sich selber nicht ausgetilgt werden; ja diese Liebe wird, als die tiefste Wurzel aller vernünftigen Existenz und als der einzige übrigbleibende Funke, der den Menschen noch in der Vernunftkette erhält, gerade dasjenige seyn, worauf man bei jedem, wenn er nur ehrlich und unbefangen seyn will, sicher rechnen und ihn dabei fassen kann.

Nun liebt das vernunftwidrige Leben der blossen Individualität sich gleichfalls, da es doch immer ein Leben ist, und alles Leben nothwendig sich liebt. Da aber beide Leben durchaus entgegengesetzt sind, so wird auch die Art der Liebe und des Wohlgefallens beider an sich selber entgegengesetzt, ganz und durchaus specifisch verschieden, und in dieser specifischen Verschiedenheit gar leicht zu erkennen und von einander zu unterscheiden seyn.

Dass wir zuvörderst bei der Liebe des vernunftmässigen Lebens zu sich selber anheben: auch zu diesem kann wiederum der Mensch in einem doppelten Verhältnisse stehen, entweder also, dass er es nur in der Vorstellung und in einem schwachen Bilde besitze und durch andere mitgetheilt erhalte, oder, dass er dieses Leben selber wirklich und in der That sey und lebe. Dass der Mensch in dem letzteren Verhältnisse auch wohl nicht stehen könne, indem sodann gar kein Egoismus und gar kein drittes Zeitalter, aber auch keine wahre Freiheit stattfinden würde; ja dass wir alle ausserhalb dieses Verhältnisse erzeugt und geboren werden, und erst durch Mühe und Arbeit[39] uns hineinsetzen müssen, ist schon oben zugestanden. Demnach müsste es das erste Verhältniss seyn, der Besitz oder die Mittheilbarkeit des Vernunftlebens im Bilde, welches in der Menschheit niemals ganz ausstirbt und an jederman zu bringen ist, und wobei alle sich erfassen lassen.

Die Liebe des vernunftwidrigen Lebens zu sich selber, die ja wohl jeder am besten kennt, und bei der das Gespräch sich am leichtesten anknüpfen lässt, stellt in ihrer specifischen Verschiedenheit, sowohl im allgemeinen als im besonderen, sich dar: als Freude an der eigenen Klugheit, als kleinlicher Hochmuth und Eitelkeit auf seine Gewandtheit und Vorurtheilsfreiheit, und, um eine unedle Sache mit einem ihrer würdigen unedlen Ausdrucke zu bezeichnen, als ein sich Laben an seiner Pfiffigkeit. Darum stellte in der vorigen Stunde das dritte Zeitalter in seinem Grundprincip sich hin, hochmüthig herabsehend auf diejenigen, die durch einen Traum von Tugend sich Genüsse entwinden lassen, und seiner sich freuend, dass es aber solche Dinge hinweg sey und in dieser Weise sich nichts aufbinden lasse, und – mit einem Worte, welches sein wahres Wesen ganz vortrefflich bezeichnet, – als Auf- und Ausklärung. Ebendeswegen ist das höchste und geistigste, was derjenige, der seinen Vortheil wohl besorgt und gegen manche Schwierigkeiten durchgesetzt bat, am Ende empfindet, die Freude, dass er so schlau sey. Dagegen wird die Liebe des vernunftmässigen Lebens zu sich selber, als eines gesetzmässig bestimmten und geordneten, in ihrer specifischen Verschiedenheit sich darstellen nicht als unerwartete Freude, sondern in der strengeren Gestalt der Billigung, der Hochachtung und Verehrung.

Inwiefern auf die erste Weise des Vernunftleben lediglich im Bilde und als ein uns fremder Zustand an uns gebracht wird, wird eben dieses Bild selber sich liebend ergreifen und fassen, und mit Wohlgefallen auf sich selber ruhen; denn insoweit wenigstens sind wir sodann in die Sphäre des Vernunftlebens hineingekommen, dass wir eine Vorstellung besitzen, wie sie seyn sollte. (Es wird, was für die mit den Kunstausdrücken der Philosophie Bekannten angefügt wird, ein[40] ästhetisches Wohlgefallen, was lediglich ein Wohlgefallen. an der Vorstellung, ist, entstehen, und zwar das höchste ästhetische Wohlgefallen, welches es giebt.)

Dieses Wohlgefallen jedoch und diese Billigung, als Billigung eines fremden, und das wir selbst keinesweges sind, imponirt uns aus demselben Grunde und flösset uns Achtung ein und Ehrfurcht – verknüpft bei dem Besseren mit einem stillen nichtachtenden Rückblicke auf sich selbst und der geheimen Sehnsucht, auch also zu werden, aus welcher Sehnsucht eben allmählig das höhere Leben sich entwickelt. Inwiefern auf die zweite Weise das vernunftmässige Leben sich selber als eigenes wirkliches wahrhaftes Daseyn empfindet, überströmt es von einem unaussprechlichen Genusse, vor dessen Bilde der Egoist in Neid vergehen würde, wenn sich dieses Bild an ihn bringen liesse: es ist in dieser Liebe zu sich selber die Seligkeit. Denn alle Empfindungen des Misfallenden und Widerwärtigen, so wie die der Sehnsucht und der Leere sind nichts anderes, denn die Geburtsschmerzen des seiner vollendeten Entwickelung entgegenringenden höheren Lebens. Ist es entwickelt, so genügt es ganz ihm selber, und ist ausgefüllt von ihm selber, keines anderen bedürfend – die höchste Freiheit und Leichtigkeit aus ihm selber heraus und aus eigener Kraft. Versuchen wir in der heutigen Stunde den ersten Zustand an uns selbst; in der nächsten werde ich eine schwache Beschreibung des zweiten zu geben mich bestreben.

Ich behaupte für unseren nächsten Zweck folgendes: Alles grosse und gute, worauf unsere gegenwärtige Existenz sich stützet, wovon sie ausgeht, und unter dessen alleiniger Voraussetzung unser Zeitalter sein Wesen treiben kann, wie es dasselbe treibt, ist lediglich dadurch wirklich geworden, dass edle und kräftige Menschen allen Lebensgenuss für Ideen aufgeopfert. haben; und wir selber mit allem, was wir sind, sind das Resultat der Aufopferung aller früheren Generationen, und besonders ihrer würdigsten Mitglieder. Keinesweges aber gedenke ich diese Bemerkung also zu gebrauchen, dass ich Sie durch die Betrachtung des Nutzens, den jene Opfer Ihnen bringen, zur Toleranz gegen jene Vorgänger besteche; denn sodann[41] würde ich in Ihnen gerade diejenige Denkart wiederum erregen und sie zu meinem gegenwärtigen Zwecke gebrauchen, welche ich ganz aus der Welt vertilgen würde, falls ich es vermöchte; auch würde ich sodann die Antwort erwarten müssen: Gut für uns, dass jene Thoren waren, die uns im Schweisse ihres Angesichts Schätze sammelten, welche wir geniessen; wir werden, so viel an uns liegt, vor ähnlicher Thorheit uns hüten; mögen die künftigen Generationen sehen, wie sie zurechtkommen werden wenn wir nicht mehr leben: – und ich würde diese Antwort wenigstens als consequent rühmen müssen. Ist es doch erlebt worden, dass bei Versuchen mit der Menschheit, welche, wenn sie nur sonst in der Ordnung einhergegangen wären, von dieser Seite keinen Tadel verdient hätten, man laut die Stimme erhoben und gefragt: ob es denn auch wohl recht sey, dass die gegenwärtige Generation den künftigen so grosse Opfer bringe! worauf man sich triumphirend umgesehen, als ob man etwas sehr tiefsinniges und vor aller Gegenrede sicheres ausgesprochen hätte. Vielmehr möchte ich nur folgendes wissen: ob Sie eine solche Denk- und Handelsweise, ganz unabhängig davon, ob Sie dieselbe klug finden, worüber dermalen kein Urtheil begehrt wird, – nicht doch genöthigt sind höchlichst zu respectiren und zu bewundern?

Werfen Sie mit mir einen Blick auf die uns umgebende Welt. Sie wissen, dass noch bis diesen Augenblick mehrere Striche des Erdbodens mit faulenden Morästen und undurchdringlichen Waldungen bedeckt daliegen, deren kalte und dumpfe Atmosphäre giftige Insecten erzeugt und verheerende Seuchen aushaucht, fast ganz zum Wohnhause anheimgefallen dem Wilde und den wenigen menschlichen Gestalten, welche da leben, bloss ein dumpfes und freudenloses Daseyn, ohne Freiheit, Geschicklichkeit und Würde, verstattend. Es ist aus der Geschichte bekannt, dass der Boden, den wir dermalen bewohnen, ehemals grösstentheils dieselbe Gestalt trug. Jetzt sind die Moräste ausgetrocknet und die Waldungen ausgehauen, verwandelt in fruchttragende Ebnen und Rebenhügel, welche die Lüfte reinigen und sie mit belebenden Düften schwängern; den Flüssen sind ihre Betten angewiesen und dauernde Brücken[42] über sie gelegt; Dörfer und Städte sind dem Boden entstiegen, mit haltbaren bequemen und anständigen Wohnungen für die Menschen, und mit öffentlichen Gebäuden, welche schon Jahrhunderten trotzten, zum Gebrauche und zur Erhebung des Gemüthes. Sie wissen, dass noch bis diesen Augenblick wilde Stämme ungeheuere Wüsteneien durchstreifen, ihr kärgliches Leben mit unreinen und ekelhaften Nahrungsmitteln, an denen es öfter gebricht, fristend; doch, wie sie aneinanderstossen, sich bekriegend um diese dürftige Nahrung und ihre ärmlichen Erwerbs- und Luxuswerkzeuge erstreckend die Wuth der Rache bis zum Verzehren des Mitmenschen. Es ist höchst wahrscheinlich, dass wir insgesammt von dergleichen Stämmen herkommen, – wenigstens in einer der Generationen unserer Vorväter durch diesen Zustand hindurchgegangen sind. Jetzt sind die Menschen aus den Wäldern versammelt und zu Massen vereinigt. Wie in der Wildniss jede Familie ihre mannigfaltigen Bedürfnisse selber unmittelbar zu besorgen, zugleich die Erwerbswerkzeuge für jedes selber zu verfertigen hatte, mit mannigfaltigem Verluste an Zeit und vergeudeter Kraft: so sind die entstandenen Menschenmengen jetzt in Stände vertheilt, deren jeder nur das Eine treibt, dessen Erlernung und Uebung er sein Leben gewidmet, versorgend darin alle übrigen Stände, und versorgt von ihnen mit allen seinen übrigen Bedürfnissen; und so wird der Naturgewalt die möglichst grösste gebildete und geordnete Masse von vereinigter Vernunftkraft gegenübergestellt. Ihrer Wuth sich gegenseitig zu bekriegen und zu berauben, bieten Gesetze und die Verwalter derselben einen undurchdringlichen Damm; jeder Streit wird unblutig geschlichtet und die Lust des Verbrechens durch harte Strafen in das innerste Dunkel des Herzens zurückgeschreckt, und so ist der innere Friede geboren, und jeder bewegt sich sicher innerhalb der ihm angewiesenen Grenzen. Ansehnlichen Massen von Manschen, oft entsprungen aus sehr ungleichartigen Abstammungen, und vereinigt, man weiss kaum wie, stehen ebenso ansehnliche Massen, ebenso wunderbar vereinigt, gegenüber, und flössen, jede nicht recht bekannt mit der Kraft der anderen, sich gegenseitig Furcht ein, damit auch der äussere Friede[43] von Zeit zu Zeit die Menschen beglücke, oder, wenn es zum Kriege kommt, selbst die überwiegende Macht an dem Widerstande der anderen gleichfalls beträchtlichen ermatte und sich breche, und statt der insgeheim immer beabsichtigten Vertilgung der Friede erfolge; und so hat selbst zwischen unabhängigen Völkern sich eine Art von Völkerrecht, und aus getrennten Volkshaufen eine Art von Völkerrepublik erzeuget. Sie wissen, wie noch bis jetzt den scheuen und mit sich selbst unbekannten Wilden jede Naturkraft einengt oder tödtet. Uns ist durch die Wissenschaft unsere eigene geistige Natur aufgedeckt, und dadurch die äussere sinnliche Naturgewalt grössentheils uns unterworfen worden. Die Mechanik hat die schwache menschliche Kraft beinahe ins unendliche vervielfältiget, und fährt fort sie zu vervielfältigen. Die Chemie hat uns an mehreren Stellen in die geheime Werkstätte der Natur eingeführt und uns fähig gemacht, manches ihrer Wunder für unseren Zweck nachzuthun und vor grossen Beschädigungen durch sie uns zu schützen; die Astronomie hat den Himmel erobert und seine Bahnen gemessen. Sie wissen, und die gesammte Geschichte des Alterthums, so wie die Beschreibung der noch vorhandenen Wildlinge bezeugen es Ihnen, dass jene Völker, selbst die gebildetsten unter ihnen nicht ausgenommen, entronnen den Schrecknissen der äusseren Natur und eingekehrt in die geheime Tiefe ihres Herzens, erst da das furchtbarste Schreckniss fanden: die Gottheit, als ihren Feind. Durch kriechende Demüthigungen und Supplicationen, durch Aufopferung dessen, was ihnen am liebsten war, durch freiwillig sich zugefügte Martern, durch Menschenopfer, durch das Blut des eingeborenen Sohnes, wenn es galt, – suchten sie dieses auf alles menschliche Wohlseyn eifersüchtige, Wesen zu bestechen, mit ihren unerwarteten Glücksfällen es auszusöhnen, sie ihm abzubitten.

Dies ist die Religion der alten Welt und der noch vorhandenen Wildlinge, und ich fordere Jeden Geschichtsforscher auf, in diesem Gebiete eine andere nachzuweisen. Uns ist jenes Schreckbild längst entschwunden, und die Erlösung, und Genugthuung, von der in einem gewissen Systeme gesprochen[44] wird, ist offenbare Thatsache, wir mögen nun daran glauben oder nicht; und sie ist um So mehr Thatsache, je weniger wir daran glauben wollen. Unser Zeitalter, weit entfernt die Gottheit zu scheuen, hat in seinen Repräsentanten dieselbe sogar zu ihrem Lustdiener bestallt. Wir unseres Orts, weit entfernt dasselbe über diesen seinen Mangel an Gottesfurcht zu tadeln, rechnen denselben vielmehr unter seine Vorzüge: und nachdem sie nun einmal zu dem rechten Genusse der Gottheit, sie zu lieben, und in ihr zu leben und selig zu seyn, nicht fähig sind, so mögen wir es ihnen wohl gönnen, dass sie dieselbe nicht fürchten. Mögen sie, wenn sie wollen, sich derselben ganz erledigen, oder mögen sie auch dieselbe sich also verarbeiten, wie sie ihnen erfreulich werden kann.

So wie ich zuerst sagte, E. V., war ehemals die Gestalt der Menschheit, und ist es zum Theil noch; so wie ich zuletzt sagte, ist jetzt wenigstens unter uns ihre Gestalt. Wie und durch wen, und auf welcherlei Antriebe ist denn diese neue Schöpfung vollbracht worden?

Wer hat denn zuvörderst, besonders den neu-europäischen Ländern, ihre bewohnbare und gebildeter Menschen würdige Gestalt gegeben? Hierauf antwortet die Geschichte: Religiose waren es, welche in dem festen Glauben, dass es Gottes Wille sey, dass der scheue Flüchtling in den Wäldern zu einem gesitteten Leben, und in ihm zu der beseligenden Erkenntniss der menschenliebenden Gottheit gebracht werde, gebildete Länder, und alle die sinnlichen und geistigen Genüsse derselben, und ihre Familien, Freunde und Verwandte verliessen, hinausgingen in die öde Wildniss, übernahmen den bittersten Mangel und die härteste Arbeit, und was mehr ist, die unermüdete Geduld, unartige Geschlechter, von denen sie verfolgt und beraubt wurden, an sich zu ziehen und ihr Vertrauen zu gewinnen, oft am Ziele eines durchgekümmerten Lebens des Märtyrertodes starben, von der Hand derer, für die sie ihn starben, und für uns, derselben Enkel und Urenkel, freudig in der Hoffnung, dass über ihrer Marterstätte eine würdigere Generation aufblühen werde. Diese setzten ohne Zweifel ihr[45] persönliches Leben und seinen Genuss an ihre Idee, und in dieser Idee an die Gattung. Und so mir jemand einwerfen dürfte: sie opferten das gegenwärtige Leben der Erwartung einer unendlich höheren himmlischen Seligkeit auf, welche sie durch diese Entbehrungen und Arbeiten zu verdienen hofften, – doch immer nur dem Genusse den Genuss, und zwar den geringeren dem grösseren; so bitte ich einen solchen mit mir ernsthaft folgendes zu überlegen. Wie unangemessen sie sich auch etwa über diese Seligkeit anderer Welten in Worten ausdrücken, und in welche sinnliche Bilder sie auch die Beschreibung derselben einkleiden mochten, so wünschte ich nur das zu wissen: wie sie denn zu dem festen Glauben an diese andere Welt, den sie durch ihr Opfer documentirten, auch nur gekommen seyen, und was dieser Glaube, als Act des Gemüths, denn doch eigentlich sey? Opfert denn nicht das Gemüth, welches gläubig eine andere Welt, als sicherlich vorhanden, ergreift, in diesem blossen Bergreifen schon die gegenwärtige auf, und ist denn nicht dieser Glaube schon selber das im Gemüthe mit einem Male für immer vollendete und vollzogene Opfer, welches sodann erst bei einzelnen Vorfällen im Leben als Erscheinung eintritt? Mag es immer gar kein Wunder, sondern durchaus begreiflich und von dir selber, der du diesen Einwurf machst, in derselben Lage nachzuthun seyn, dass sie alles aufopferten, nachdem sie einmal an ein ewiges Leben glaubten: so ist dies das Wunder, das, sie glaubten, welches der Egoist, der das gegenwärtige nie aus dem Auge zu lassen fähig ist, ihnen nimmermehr nachthun, noch in dieselbe Lage hineinkommen wird.

Wer hat die rohen Stämme vereinigt, und die widerstrebenden in das Joch der Gesetze und des friedlichen Lebens gezwungen, wer hat sie darin erhalten, und die stehenden Staaten gegen Auflösung durch innere Unordnung und wegen Zerstörung durch äussere Gewalt geschützt? – Welches auch ihre Namen seyn mögen, Heroen waren es, grosse Strecken ihrem Zeitalter zuvorgeeilt, niesen unter den Umgebenden an körperlicher und geistiger Kraft. Sie unterwarfen ihrem Begriffe von dem was da seyn sollte, Geschlechter, von denen[46] sie dafür gehasst und gefürchtet wurden; schlaflos durchsannen sie, für diese Geschlechter sorgend, die Nächte, rastlos stürzten sie sich von Schlachtfeld zu Schlachtfeld, entsagend den Genüssen, die sie wohl hätten haben können, immer ihr Leben als Beute darbietend, oft verspritzend ihr Blut. Und was suchten sie mit dieser Mühe, und wodurch wurden sie dafür entschädigt? Ein Begriff, ein blosser Begriff von einem durch sie hervorzubringenden Zustande, der aber schlechthin ohne allen weiteren Zweck ausser ihm realisirt werden sollte, war es, der sie begeisterte; und das unaussprechliche Wohlgefallen an diesem Begriffe war es, was sie belohnte und für alle Mühe entschädigte; dieser Begriff war es, der die Wurzel ihres inneren Lebens ausmachte, indess er das äussere in Schatten stellte, verdunkelte, und als etwas des Andenkens unwürdiges aufgab; die Kraft dieses Begriffs war es, die den durch die Geburt seiner Umgebung Gleichen zum körperlichen und geistigen Riesen herausarbeitete; derselben Idee ists die Person zum Opfer, durch welche sie erst zu einem würdigen Opfer ausgestattet worden.

Was treibt den König, der auf angeerbtem Throne sicher ruhen und des Markes des Landes geniessen könnte, – was treibt, um an ein bekanntes Beispiel, das von dem empfindelnden Zwerggeschlechte auch so oft gemisdeutet worden, meine Frage anzuknüpfen, – was treibt den macedonischen Helden aus dem angeerbten, schon vom Vater wohlgesicherten und reichlich versehenen Königreiche in einen fremden Welttheil, den er unter ununterbrochenen Kämpfen durchzieht und erobert? Wollte er dadurch satter werden und gesünder? Was heftet den Sieg an seine Fusssohlen, und schreckt vor ihm her die ihm an Menge ungeheuer überlegenen Feinde? Ist dies blosser Zufall? Nein, eine Idee ists, die den Zug beginnt und die ihn beglückt. Weichliche Halbbarbaren hatten das damals geistreichst ausgebildete Volk unter der Sonne wegen seiner kleineren Anzahl zu verachten und den Gedanken seiner Unterjochung zu fassen gewagt; sie hatten in Asien wohnende verbrüderte Stämme wirklich unterjocht, und das gebildete und freie den Gesetzen und den empörenden Strafen roher[47] und sklavischer Völkerschaften unterworfen. Dieser Frevel musste nicht ungestraft verübt seyn; auch musste umgekehrt das gebildete herrschen, und das ungebildete dienen, wenn geschehen sollte, was Rechtens ist. Diese Idee lebte schon seit langem in den edleren griechischen Gemüthern, bis sie in Alexander zur lebendigen Flamme wurde, welche sein individuelles Leben bestimmte und aufzehrte. Rechne man mir nun nicht vor die Tausende, die auf seinem Zuge fielen, erwähne man nicht seines eigenen frühzeitig erfolgten Todes: was konnte er denn nun, nach Realisirung der Idee, noch grösseres thun, als sterben?

Quelle:
Johann Gottlieb Fichtes sämmtliche Werke. Band 7, Berlin 1845/1846, S. 34-48.
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