Sechste Vorlesung

[78] [Beschreibung des wissenschaftlichen Zustandes des vorausgesetzten Zeitalters in seiner Materie. Begriffe von der Freiheit und Publicität. Vielschreiberei und Vielleserei. Literaturzeitungen – Anhang über die Kunst zu lesen.]


Ehrwürdige Versammlung!


Das Princip des von uns zu beschreibenden dritten Zeitalters ist nun zur Genüge bekannt: das, durchaus nichts als geltend anzuerkennen, als das, was es begreife. Sein höchstes ist daher der Begriff; es ist darum der Form nach wissenschaftlich: und eine gründliche Beschreibung desselben muss anheben von der Beschreibung seines wissenschaftlichen Zustandes; indem hierin es sich selber am klarsten und durchsichtigsten geworden, und aus diesem hellsten Puncte alle seine übrigen Charakterzüge sich am besten ableiten lassen.

Wir beschrieben in der letzten Rede diesen wissenschaftlichen Zustand zuvörderst der Form nach, d.h. in gewissen allgemeinen Grundeigenschaften, welche an allen seinen Erscheinungen sich zeigen würden, – ausgehend von dem Grundcharakter desselben, dass es der Idee unfähig sey. Die Idee war die Quelle der Kraft; dieses Zeitalter musste daher nothwendig schwach und kraftlos seyn: die Idee war die Quelle der vollkommenen Befriedigung; dieses Zeitalter musste daher Leere empfinden, – welche es durch Witz auszufüllen strebt, der aber ihm ebenfalls unerschwinglich ist. Heute wollen wir ein gedrungenes Bild dieses wissenschaftlichen Zustandes selber in seinem wirklichen selbstständigen Seyn und Walten aufstellen.

Vor allem andern voraus: jedes mögliche Zeitalter strebt – wie dies schon bei einer anderen Gelegenheit im Vorbeigehen erinnert, hier aber eingeschärft und zum erstenmale angewendet wird – jedes mögliche Zeitalter strebt die ganze Gattung zu umfassen und zu durchdringen; und nur, inwiefern ihm dieses gelingt, hat es sich als Zeitalter dargestellt, da es ausserdem bloss die besondere Gesinnung Einzelner geblieben wäre.[78]

So auch das dritte. Es ist in seinem Wesen Wissenschaft: und es muss streben und arbeiten, schlechthin alle Menschen zur Wissenschaft zu erheben. Der Begriff, als der höchste und entscheidende Richter, hat für dasselbe Werth, und hat den höchsten, allen andern Werth erst bestimmenden Werth: der Mensch kann ihm daher Werth haben lediglich insofern, inwiefern er die Begriffe leicht an sich bringt oder gut lernt, und sie leicht anwendet, oder fertig urtheilt; und alles Bestreben des Zeitalters in der Bildung des Menschen kann nur auf diesen Zweck sich hinrichten. Es verschlägt nichts, wenn auch einzelne Stimmen zuweilen dazwischen rufen: handeln, handeln, das ist die Sache, was hilft uns das blosse Wissen? – denn entweder ist mit diesem Handeln auch nur eine andere Weise des Lernens gemeint, oder jene Stimme ist die Reaction des sich selber in seiner Leerheit misfallenden Zeitalters gegen sich selbst, welcher Reaction wir schon in der vorigen Rede gedacht haben, und von welcher dieses Zeitalter in allen seinen besonderen Aeusserungen begleitet zu werden pflegt. Das in der Beurtheilens dieses Punctes entscheidende ist die Erziehung, welche ein besonderes Zeitalter den Kindern aus allen Ständen überhaupt, und insbesondere aus dem Volke, zu Beben sucht. Findet sich, dass diese in jedem Stande zunächst beabsichtige, dass die Kinder etwas lernen, und dass sie insbesondere beim Volke zuletzt darauf hinausgehe, dass dasselbe fertig lese und, soweit dieses sich erschwingen lässt, auch schreibe, und dass es überhaupt die Wissenschaft desjenigen Standes inne habe, dem seine Erziehung anheimfiel – z.B. dass es unter dem Namen des Katechismus eine systematische und tabellarische Dogmatik inne habe, wenn seine Erziehung dem geistlichen Stande anvertraut wurde, – findet sich, sage ich, dies: so bewährt sich in der Erfahrung, was wir eben behaupteten. Werden auch hie und da andere Maximen der Volkserziehung aufgestellt und zum Theil auch ausgeführt, so ist dieses nur die Reaktion; das erstere aber ist die Grundregel, ohne welche es sogar nicht zur Reaction gekommen wäre.

Es ist unmöglich, dass diese von allen Seiten und in allen Richtungen auf das Zeitalter einfliessenden Bestrebungen ganz[79] mislingen sollten. Jeder, selbst der Geringste und am wenigsten Gebildete, wird doch in irgend einem Maasse das Selbstbegreifen an sich bringen, d.h. da die Aufklärung des Zeitalters durchaus negativ ist, – er wird durch Selbstdenken über einiges sich hinweggesetzt haben, das ihm in der Jugend beigebracht wurde, und manches sich nicht mehr aufbinden lassen, das man früher ihm wohl aufbinden konnte. Und so hat denn Mann für Mann selber gedacht und aus eigener Macht etwas begriffen, und das ganze Zeitalter hat sich in ein stehendes Heerlager formaler Wissenschaft verwandelt, in welchem freilich viele und sehr verschiedene Stufen des Ranges stattfinden, doch aber jeder auf seine Weise die übliche Bewaffnung führt.

Ich wünschte nicht, E. V., dass irgend einer unter Ihnen das Gesagte also misverstände, als ob ich den angeführten Charakterzug des Zeitalters unbedingt misbillige, und mich dadurch zu einer Partei schlage, die in mancherlei Hüllen, und neuerlich auch in der der Philosophie erschienen ist; in jeder dieser Hüllen aber mit Recht den Namen der Obscuranten getragen hat. Wäre nur sonst die Wissenschaft des dritten Zeitalters innerlich von der rechten Art: – darüber, dass es dieselbe schlechthin an alle Menschen zu bringen sich bestrebt, verdient es keinen Tadel. Vielmehr zeigen diejenigen Repräsentanten desselben, welche ihre Weisheit für sich behalten, und dieselbe besonders unter den grossen Haufen nicht kommen lassen wollen, nur von einer neuen Seite ihre Inconsequenz. Auch das dem dritten Zeitalter folgende vierte der wahren realen Wissenschaft wird streben, allen sich mitzutheilen; denn sollen die Vernunftgesetze durch sichere Kunst überall und in der ganzen Gattung ausgeführt werden, so muss jedes Individuum der Gattung wenigstens einen Grad der Erkenntniss dieser Gesetze besitzen, indem ein jeder durch eigene innere Kunst die äussere, welche auch an ihm mit arbeitet, zu unterstützen hat. Alle ohne Ausnahme müssen über kurz oder lang zur Vernunftwissenschaft kommen; darum müssen alle ohne Ausnahme erst von dem blinden Autoritätsglauben[80] losgerissen werden. Dieses beabsichtiget nun das dritte Zeitalter, und es thut daran ganz recht.

Das eigene Begreifen, als solches, sagte ich, hat für das Zeitalter Werth, – und den höchsten. allen andern Werth erst bestimmenden Werth: auf ihm beruht die Würde und das Verdienst der Person. Darum ist es vor diesem Zeitalter schon Ehre, nur selbst gedacht zu haben; gesetzt auch, man hätte sich bloss etwas ausgedacht: – nur etwas originelles vorgebracht zu haben; gesetzt auch, diese Originalität sey eine offenbare Verkehrtheit. Ein Endurtheil fällen und durch dieses Endurtheil zur Wahrheit kommen, beider es nun bleibe auf immer und ewig, will dieses Zeitalter nicht, denn dazu ist es zu verzagt: nur einen Reichthum von Materialien der Meinung will es, unter denen es die Auswahl habe, falls es etwa dermaleinst zum urtheilen kommen sollte; und da ist ihm denn jeder willkommen, der diesen Vorrath vermehrt. Dadurch geschieht es, dass der Einzelne nicht nur ohne Scham, sondern sogar mit einer gewissen Selbstgefälligkeit auftritt und verkündiget: sehet da meine Meinung, und wie ich für meine Person mir die Sache denke, der ich übrigens sehr wohl zugebe, dass jeder andere sie sich wiederum anders denken könne, und dass dieser Einzelne dabei noch sehr bescheiden zu seyn glaubt; indess vor der wahrhaft wissenschaftlichen Denkart es die grösste Arroganz ist, zu glauben, dass unsere persönliche Meinung irgend etwas bedeute und dass jemand interessirt seyn könne, zu wissen, wie wir, diese wichtigen Personen, etwas ansehen; und ohnerachtet vor dem Richterstuhle dieser Denkart keiner das Recht hat, eher seinen Mund zu öffnen, ehe er nicht sicher ist, dass sein Ausspruch nicht der seinige, sondern der der reinen Vernunft sey; und dass schlechthin jeder, der ihn nur verstehe, und der den Rang des vernünftigen Wesens behaupten wolle, diesen Ausspruch wahr und richtig finden müsse.

Das eigene Begreifen, als solches, ist dem Zeitalter das höchste; dieses Begreifen hat daher Recht über alles, und wird das erste, ursprüngliche, durch kein anderes Recht zu beschränkende Recht. Daher entspringen nun die alles sich[81] unterwerfenden Begriffe von Denkfreiheit und von Freiheit des Urtheils der Gelehrten und von der Publicität. Man zeiget dem einen, dass abgeschmackt, lächerlich, unsittlich und verderblich ist, was er vorgebracht hat: das thut nichts, antwortet er, ich habe es ja doch gedacht, und ganz allein auf meine eigene Hand mir es ausgedacht; und gedacht zu haben, ist immer ein Verdienst, weil es doch immer einige Ruhe kostet; und der Mensch muss die Freiheit haben, zu denken was er will: – und dagegen lässt nun freilich sich nichts weiteres sagen Man zeigt einem anderen, dass er die allerersten Begriffe einer Kunst oder einer Wissenschaft, über deren Producte er ein langes und breites geurtheilt, nicht kenne, und dass dieses ganze Gebiet für ihn völlig unsichtbar sey: – so, antwortet er, will man etwa dadurch stillschweigend zu verstehen geben, dass ich unter diesen Umständen gar nicht hätte urtheilen sollen? Man muss doch gar keinen Begriff von der Freiheit des Urtheils der Gelehrten haben. Sollte man allemal erst lernen und verstehen, worüber man urtheilt, so würde ja dadurch die unbedingte Freiheit des Urtheils gar sehr bedingt und beschränkt; und es würden sich sodann äusserst wenige finden, die da urtheilen dürften, – da doch die Freiheit des Urtheils darin besteht, dass jederman schlechthin über alles urtheilen möge, ob er nun es verstehe oder nicht. – Es ist einem Manne, vielleicht in einer Gesellschaft von wenig Freunden, eine Aeusserung entschlüpft, von der sie vermuthen, dass er die Bekanntmachung derselben ungern sehen werde. Nach einigen Wochen schwitzen die Druckerpressen, um vor Welt und Nachwelt die merkwürdige Thatsache zu verkünden. Die Journale nehmen Partei – für und wider: ausführlich auseinandersetzend und erforschend, ob er es gesagt oder nicht, von welchen Personen eigentlich er es gesagt, wie die Worte in der That gelautet, unter welchen Bedingungen er etwa noch halb angebrannt zu entlassen, oder unwiderruflich zu verdammen sey. Der Schuldige muss sich eben stellen, und er hat von Glück zu sagen, wenn nach einigen Jahren seine Sache Ober einer andern vergessen wird. Man hüte sich, hiebei zu lächeln; denn man würde dadurch nur zeigen, dass man gar[82] keinen Sinn für den hohen Werth der Publicität hätte. Falls aber gar jemand, der vor den Richterstuhl dieser Publicität eingerufen ist es verschmähte sich zu stellen, so werden sie ganz irre in ihren Begriffen, und sie werden sich über den widernatürlichen Mann, der es über sich vermag, ihr Richteramt nicht zu respectiren, wundern bis an das Ende ihrer Tage. Sie haben es ja gedacht, – was sie singen, wenigstens die Miene angenommen, als ob sie es dächten. Wie könnte doch ein vernünftiger Mensch diesem ihrem Denken die ehrfurchtsvolle Unterwerfung versagen?

Allerdings, E. V., ist das Recht, frei von allen Banden der äusseren Autorität mit seinem Denken zu dem Vernunftgesetze sich zu erheben, das höchste und unveräusserliche Recht der Menschheit; dieses Recht ist die unveränderliche Bestimmung des Erdenlebens der Gattung. Ohne Richtung aber innerhalb des leeren Gebiets grundloser Meinungen herumzuschwärmen, hat eigentlich kein Mensch das Recht; denn dieses Herumschwärmen hebt den eigentlichen Unterscheidungscharakter der Menschheit, die Vernunft, völlig auf. Auch hatte kein Zeitalter dieses Recht, wenn nicht dieses freie Schweben zwischen der Autorität und dem leeren Nichts eine nothwendige Mittelstufe unserer Gattung ausmachte, auf welcher sie erst vom blinden Zwange befreit, und späterhin durch das drückende Gefühl ihrer Leerheit zur Vernunftwissenschaft getrieben werden sollte. Falls nun etwa jene mit ihrem Anspruche auf unbedingte Denk- und Urtheilsfreiheit und Publicität nur so viel zu sagen begehren: kein Mensch solle sie hindern, sich zu prostituiren und lächerlich zu machen, so viel sie selber wollen, so muss man ihnen dies zugeben. Wer sollte sie denn auch hindern wollen? – Nicht der Staat, – wenigstens derjenige nicht, der seinen wahren Vortheil versteht. Der Staat hat die Aufsicht über die äusserlichen Handlungen seiner Bürger, und fügt diese Handlungen unter zwingende Gesetze, welche, wenn sie nur richtig auf die Nation berechnet sind und ohne Ausnahme vollstreckt werden, ganz ohnfehlbar die beabsichtigte Ordnung begründen und erhalten. Die Meinungen der Bürger sind nicht Handlungen: seyen diese Meinungen sogar gefährlich; wenn[83] nur dem Vergehen die angedrohte Strafe sicher ist, so wird, selbst der Meinung zuwider, das Vergehen unterbleiben. Entweder will ein Staat die Meinung des Volks für seinen Vortheil umändern, – so unternimmt er theils etwas unausführbares, theils zeigt er, dass seine Gesetze nicht auf den stehenden Zustand der Nation, wozu ihr Meinungssystem allerdings gehört, berechnet, oder auch, dass die Verwaltung und Aufsicht unzulänglich ist, und er, keinesweges auf sich selbst zu ruhen vermögend, einer fremden Stütze bedürfe, die ihm nicht einmal zu Theil werden wird. Oder der Staat unternimmt, vielleicht in der reinsten Absicht und aus wahrem Eifer seiner Verwalter für die Beförderung der Vernunftherrschaft, die Bestreitung der herrschenden Meinungen durch äussere Gewalt: so unternimmt er etwas, das ihm nie gelingen wird; denn alle Menschen fühlen, dass er sodann in der Form Unrecht hat, – und die verfolgte Meinung, insofern in ihr Recht eingesetzt, gewinnt durch das erlittene Unrecht neue Freunde, und durch das Gefühl ihres Rechts stärkere Kraft zum Widerstande; und die Sache endigt sich damit, dass der Staat nachgeben muss, wodurch er abermals nur seine Schwäche zeigt. Ebensowenig werden die wenigen Verehrer der wahren Wissenschaft sie hindern. Diese können es nicht, und wenn sie es könnten, würden sie nicht wollen. Ihre Waffen sind keine andern, als Vernunftbeweise; ihre Anmuthung an alle Welt keine andere, als dass diese durch eigene freie Thätigkeit sich überzeuge. Was sie nur irgend sagen mögen, soll als wahr, und als allein wahr eingesehen werden; bloss historisch gelernt und auf Treue und Glauben angenommen, soll nichts werden, was sie sagen; denn sodann wäre die Menschheit doch wieder zur Autorität, bloss zu einer neuen zurückgeführt, und statt des beabsichtigten Fortschritts wäre, nur auf andere Weise, ein Rückgang erfolgt. Sähen es nun jene ein, so würden sie es ja zugestehen; – denn der Verkehrtheit, dass sie wider besseres Wissen ihre Ueberzeugung verläugnen, bezüchtigen wir sie nicht. Aber gerade darum, weil sie es nicht einsehen, sind sie diejenigen, die sie sind, und werden es bleiben, so lange sie es nicht einsehen: sie können,[84] nachdem sie nun einmal sind, was sie sind, unmöglich etwas anderes seyn, und sie sind zu tragen als integrirender Theil der unveränderlichen Nothwendigkeit.

Diese Denkart, sagte ich früher, wird streben, sich selbst allgemein zu machen; es wird ihr in gewissem Maasse gelingen, und das ganze Zeitalter wird sich in ein Heerlager von formaler Wissenschaft verwandeln. – Wer gebietet in diesem Heerlager und führet die Haufen an? Offenbar, wird man sagen, die Helden des Zeitalters, die Vorfechter, in denen der Zeitgeist am herrlichsten sich offenbart hat. Aber wer sind diese, und woran sind sie auf den ersten Augenblick zu kennen? Vielleicht an der Wichtigkeit der Untersuchungen, die sie auf die Bahn bringen, oder an der Wahrheit, die aus ihren Behauptungen jedem entgegenleuchtet? Wie wäre das möglich da das Zeitalter überhaupt über Wichtigkeit oder Wahrheit nicht urtheilt, sondern nur einen Reichthum von Meinungen für ein künftiges Urtheil sammelt. Also, wer nur gehörig meinte und durch dieses sein Meinen zu jener grossen Niederlage des allgemeinen Meinens seinen Beitrag lieferte, der wäre dadurch zum Anführer der Haufen geeignet. Aber, wie schon erinnert, dadurch ist in diesem Zeitalter kein Vorrang zu gewinnen; denn ein jeder, der nur in dieser Luft lebt, hat auch einmal etwas sich ausgedacht und auf seine eigene Hand es gemeint. Leider aber wird diese Fertigkeit des Meinens von dem Misgeschicke getroffen, dass sehr oft am Morgen von aller Welt, – von dem thätig Meinenden selber, vergessen ist, was den Abend vorher gemeint wurde; und diese neue Bereicherung des Reichs der Meinungen verfliegt so in die leere Luft. Wenn daher nur ein Mittel erfunden wäre, durch welches der Act des Meinens sowohl, als, soweit dies möglich ist, die Meinung selber sich festhalten und gegen den nächsten Morgenhauch sich schützen liesse; also, dass jedem, der nur gesunde Augen hätte, documentirt werden könnte, dass gemeint worden sey, und der Meinende selber ein stehendes, seiner Vergesslichkeit nachhelfendes Andenken behielte, wie er gemeint habe, – wenn z.B. die Schreibe und die Buchdruckerkunst erfunden wäre: so wäre das Zeitalter[85] aus der Verlegenheit gerissen. Wer nun also gemeint hätte, in stehendem Schwarz auf stehendem Weiss, der würde unter die Helden des Zeitalters gehören, deren erhabener Körper eine Republik der Wissenschaftskundigen, oder, wie sie lieber hören werden, da ihr ganzes Wesen doch nur Empirie ist, eine Gelehrten-Republik ausmachte.

Das Zeitalter würde sich bei dieser Schätzung keinesweges irre machen lassen durch die Betrachtung, dass der Eintritt in diesen glorreichen Senat des Menschengeschlechts gewöhnlich durch den nächsten Buchdrucker eröffnet wird, der noch weniger weiss, was er druckt, als der Schriftsteller, was er schreibt; und der nichts mehr begehrt, als fremdes bedrucktes Papier gegen von ihm bedrucktes Papier einzutauschen.

Auf diese Weise kommt die Gelehrtenrepublik zusammen. Durch die Kraft der Druckerpresse sondern diese sich ab vom Haufen, der nicht drucken lässt, und der nun in dem Heerlager der formalen Wissenschaft dasteht als Leser. Es entstehen daraus neue Verhältnisse und neue Beziehungen dieser zwei Hauptstände des Heerlagers der formalen Wissenschaft auf einander.

Die nächste Absicht beim Druckenlassen war freilich die, die Selbstständigkeit seines Geistes öffentlich zu documentiren: – hieraus folgt im Wissenschaftlichen Haschen nach neuen, oder neuscheinenden Meinungen, in den Redekünsten Ringen nach neuen Formen. Wer diesen Zweck erreicht hat macht, ganz ohne Rücksicht, ob im ersten Falle seine Meinung wahr, oder im zweiten seine Form schön sey, sein Glück beim Leser. Nachdem aber einmal das Drucken recht in Gang gekommen, wird sogar diese Neuheit erlassen, und das Druckenlassen schon an und für sich selbst ist ein Verdienst: und nun entstehen im Wissenschaftlichen die Compilatoren, welche das schon hundertmal Geschriebene wiederum, nur ein wenig anders versetzt, drucken lassen; und in den Redekünsten die Modeschriftsteller, die eine Form, welche Beifall gefunden hat, andern, oder auch sich selber, so lange nachmachen, bis kein Mensch mehr etwas in dieser Form sehen mag.[86]

Dieser Strom der Literatur wird nun, immer sich erneuernd, fortquellen, und jede neue Welle wird die vorhergehende verdrängen; dass sonach der Zweck, um dessen willen zuerst gedruckt wurde, vereitelt, und die Verewigung durch die Presse aufgehoben würde. Es hilft nichts, in offenem Drucke gemeint zu haben, wenn man nicht die Kunst besitzt, unaufhörlich fortzumeinen; denn alles Vergangene wird vergessen. Wer sollte es denn im Gedächtnisse behalten? Nicht die Schriftsteller, als solche; denn da jeder nur neu seyn will, so hört keiner auf den andern, sondern ein jeder geht seinen Weg und setzt seine Rede fort. Ebensowenig der Leser; dieser, froh mit dem Alten zu Ende zu seyn, eilt nach dem Neuangekommenen, – in dessen Wahl er überdies grossentheils durch das Ohngefähr geleitet wird. Es könnte bei dieser Lage der Sachen keiner, der etwas in den Druck ausgehen lassen, sicher seyn, dass ausser ihm und seinem Drucker noch irgend ein anderer davon wisse. Es wird daher unumgänglich nöthig, noch besonders ein öffentliches und allgemeines Gedächtniss für die Literatur anzulegen und einzurichten. Ein solches sind die Gelehrtenzeitungen und Bibliotheken; welche bekannt machen, was die Schriftsteller bekannt gemacht haben, und von denen jeder Autor noch nach Verlauf eines halben Jahres sich kann jeder sagen lassen, was er gesagt habe: bei welcher Gelegenheit es denn das lesende Publicum, wenn es auch nur Gelehrtenzeitungen liest, zugleich mit erfährt. Doch würde es gegen die Ehre der Verfasser von dergleichen Blättern laufen, und dieselben zu tief unter andere Schriftsteller herabsetzen, wenn sie bloss einfach berichteten; sie werden daher neben dem Berichte zugleich ihr Selbstdenken documentiren indem sie über das Denken der ersten wiederum denken, und ihr Urtheil abgeben; die Hauptmaxime aber bei diesem Geschäft wird diese werden, dass man an allem etwas auszusetzen finde, und jedes Ding besser wisse, als der erste Autor.

Bei den Schriften, wie sie gewöhnlich erscheinen, hat dies wenig zu bedeuten es ist ein sehr kleines Unglück, dass etwas, das von vornherein schief war, durch die neue Wendung des Recensenten, auf eine andere Seile hin, schief gebogen[87] werde. Schriften, die es wirklich verdienten, an das Licht zu kommen, – sey es in der Wissenschaft, oder in den Redekünsten, sind allemal der Ausdruck eines ganzen, auf eine völlig neue und originelle Weise der Idee gewidmeten Lebens: und ehe dergleichen Schriften nicht das Zeitalter ergriffen und durchdrungen, und nach sich umgebildet haben, ist ein Urtheil über sie nicht möglich; – es versteht sich daher von selber, dass keinesweges nach Verlauf eines halben oder auch ganzen Jahres von dem ersten besten eine gründliche Recension über sie beliefert werden könne. Dass die gewöhnlichen Bücherrichter diesen Unterschied nicht machen, sondern alles, was ihnen unter die Augen kommt, ohne Beistand aus freier Hand recensiren, versteht sich gleichfalls; sowie auch dies, dass über wirklich originelle Schriften derselben Urtheil am allerverkehrtesten ausfällt. Aber sogar dieser Verstoss ist kein Unglück, ausser für sie selber: – nichts wahrhaft Gutes geht in dem Strome der Zeiten verloren, liege es noch so lange verschrien, verkannt, ungeachtet, – es kommt endlich doch der Zeitpunct, wo es sich Bahn bricht; das Individuum aber, welches durch verkehrte Ansichten seines Werks sich in seiner Person beleidigt glaubte, und sich kränkte, statt mitleidig zu lächeln, würde dadurch nur beweisen, dass die Gegner gewissermaassen recht hätten; – dass ihm sein Individuum noch nicht ganz in der Idee, und in der Erkenntniss und Liebe der Wahrheit, aufgegangen sey; dass darum diese Individualität wohl auch noch an seinem Werke erscheinen möge, und dies um so misfälliger je reiner neben ihr sich die Idee abdrucke: und ein solcher erhielte dadurch die dringendste Anforderung, in sich zu gehen und sich vollkommen zu reinigen – Sehen sie die Sache unrichtig an, – denkt der in sich selber aufs reine gekommene und Consequente, – so ist dies ihr Schade, nicht der meinige: und dass sie unrichtig sehen, ist nicht die Schuld ihres bösen Willens, sondern ihrer schwachen Augen; und sie würden selber froh seyn, wenn sie zur Wahrheit kommen könnten. – Noch ist zum Beschlusse der Vortheil aus Errichtung des Recensirwesens zu erwähnen, dass derjenige, der nicht besondere Lust, oder; ausserordentlich viel[88] übrige Zeit hat, gar kein Buch weiter zu lesen braucht; sondern, dass er durch die blosse Lectüre der Gelehrtenzeitungen die gesammte Literatur des Zeitalters in seine Gewalt bekommt; und dass in diesem Systeme die Bücher lediglich gedruckt werden, damit sie recensirt werden können, und es überhaupt keiner Bücher bedürfen würde, wenn sich nur Recensionen ohne Bücher machen liessen.

Dies ist das Gemälde des thätigen Theils in diesem Heerlager formaler Wissenschaft: der Schriftsteller. Nach diesem bildet sich nun wiederum der empfangende Theil: das Corps der Leser, um ihr genaues Gegenbild zu werden. Wie jene ohne Rast und Anhalt fortschreiben, so lesen diese fort ohne Anhalt; mit aller Kraft strebend, sich auf irgend eine Weise emporzuhalten über der Fluth der Literatur, und fortzugehen, wie sie dies nennen, mit dem Zeitalter. Froh, das alle nothdürftig durchlaufen zu haben, greifen sie nach dem neuen, indem das neueste schon ankommt, und es bleibt ihnen kein Augenblick übrig, jemals wieder an das alte zu bedenken. Nirgends können sie in diesem rastlosen Fluge anhalten, um mit sich selber zu überlegen, was sie denn eigentlich lesen, denn ihr Geschäft ist dringend, und die Zeit ist kurz: und so bleibt es gänzlich dem Ohngefähr überlassen, was und wie viel bei diesem Durchgange an ihnen hängen bleibe, wie es auf sie wirke, welche geistige Gestalt es an ihnen gewinne.

Nun ist diese Art des Lesens schon an und für sich selber eine von allen anderen Gemüthsstimmungen specifisch verschiedene Stimmung, die etwas höchst angenehmes hat und gar leicht zum unentbehrlichen Bedürfnisse werden kann. So, wie andere narkotische Mittel, versetzt es in den behaglichen Halbzustand zwischen Schlafen und Wachen, und wiegt ein in süsse Selbstvergessenheit, ohne dass man dabei irgend eines Thuns bedürfen. Mir hat es immer geschienen, dass es am meisten Aehnlichkeit mit dem Tabakrauchen habe, und durch dieses sich am besten erläutern lasse. Wer nur einmal die Süssigkeit dieses Zustandes geschmeckt hat, der will sie immerfort geniessen, und mag im Leben nichts anderes mehr thun; er liest nun, sogar ohne alle Beziehung auf Kenntniss[89] der Literatur und Fortgehen mit dem Zeitalter, lediglich, damit er lese und lesend lebe, und stellt in seiner Person dar den reinen Leser.

Und an diesem Puncte hat denn die Schriftstellerei und die Leserei ihr Ende erreicht; sie ist in sich selbst zergangen und aufgegangen, und hat durch ihren höchsten Effect ihren Effect vernichtet. An den beschriebenen reinen Leser ist auf dem Wege des Lesens durchaus kein Unterricht mehr, noch irgend ein deutlicher Begriff zu bringen, denn alles Gedruckte wiegt ihn alsbald ein in stille Ruhe und in süsse Vergessenheit seiner selber. Auch sind ihm dadurch alle andere Woge des Unterrichts abgeschnitten. – So hat die mündliche Mittheilung, – durch fortgehende Rede oder wissenschaftliche Unterredung, – unendliche Vortheile von der, durch den todten Buchstaben; das Schreiben ist bei den Alten erfunden worden, lediglich um die mündliche, Mittheilung denen zu ersetzen, die zu ihr keinen Zugang haben konnten alles Geschriebene war zuerst mündlich vorgetragen, und war Abbildung des mündlichen Vortrags; nur bei den Neueren, besonders seit Erfindung der Buchdruckerkunst, hat das Gedruckte begehrt, für sich etwas selbstständiges zu seyn, – wodurch unter anderen auch der Stil, dem das lebendige Correctiv der Rede entging, in solchen Verfall gerathen Aber selbst für diese mündliche Mitheilung ist ein Leser, wie der beschriebene, fürs erste verdorben.

Wie vermöchte Er, der absoluten Passivität des Hingebens gewohnt, den Zusammenhang der ganzen Rede festzuhalten, welcher nur thätig ergriffen und festgehalten werden kann? Wie vermöchte er auch nur, falls periodisch gesprochen wird, wie es in jeder guten Rede soll, – den einzelnen Perioden in Eins zu fassen und zu übersehen? Wenn er es nur, schwarz auf weiss gesetzt, an seine Augen hallen könnte, dann, meint er, wäre ihm geholfen. Aber er täuscht sich. Auch sodann würde er den Perioden nicht als Einheit geistig fassen; sondern nur das Auge würde auf dem Umfange, den er einnimmt. ruhen, und ihn fortdauernd auf dem Papiere, und vermittelst des Papiers, festhalten, so dass er nur glaubte, er fasse ihn.[90]

Bei diesem Puncte angekommen, sagte ich, hat das wissenschaftliche Streben des Zeitalters sich selbst vernichtet, und das Geschlecht steht von einer Seite in absoluter Ohnmacht, von der anderen mit der völligen Unfähigkeit, weiter gebildet zu werden, da: das Zeitalter kann nicht mehr lesen, und darum ist alles Schreiben vergeblich. Dann wird es hohe Zeit, etwas nettes zu beginnen. Dieses Neue ist nun meines Erachtens dies, dass man von der einen Seite wiederum das Mittel der mündlichen Mittheilung ergreife, und diese zur Fertigkeit und Kunst ausbilde; von der anderen sich Empfänglichkeit für diese Art der Mittheilung zu erwerben suche.

Soll nun ja noch gelesen werden, so geschehe dies wenigstens auf eine andere Weise, denn die gewöhnliche. damit ich die nicht gefällige Schilderung, welche ich heute vor Ihre Augen zu bringen hatte, mit etwas gefälligerem beschliesse: so erlauben Sie mir, E. V., Ihnen zu sagen, welche Art des Lesens ich für die rechte halte.

Was man auch in Buchstaben verfasstes lesen möge, so ist es entweder ein wissenschaftliches Werk, oder ein Product der schönen Redekünste. Was keins von beiden wäre, und ohne alle Beziehung auf das eine oder das äußere, bleibt besser ungelesen, und es hätte auch immer ungeschrieben bleiben können.

Was zuvörderst wissenschaftliche Werke betrifft, so ist der erste Zweck beim Lesen derselben, sie zu verstehen und den eigentlichen wahren Sinn des Verfassers historisch zu erkennen. Hierbei muss man nun nicht also zu Werke gehen, dass man sich dem Autor leidend hingebe und ihn auf sich einwirken lasse, wie Ohngefähr und gutes Glück es will: oder, dass man sich von ihm vorsagen lasse, was er uns eben vorsagen will; und nun hingehe und es sich merke. Sondern, wie in der Naturforschung die Natur den an sie gestellten Fragen des Experimentators zu unterwerfen ist und zu nöthigen, dass sie nicht in den Tag hineinrede, sondern die vorgelegten Frage beantworte: ebenso ist der Autor zu unterwerfen einem geschickten und wohlberechneten Experimente des Lesers.[91]

Dieses Experiment wird also angestellt: Nachdem man fürs erste das ganze Buch cursorisch durchgelesen, um nur vorläufig einen ohngefähren Begriff von der Absicht des Autors sich zu verschaffen, suche man den ersten Hauptsatz, Hauptperioden, Hauptparagraph, oder in welche Form es gefasst sey, auf. Dieser ist nun nothwendig, auch nach der Absicht des Autors, nur bis auf einen gewissen Grad bestimmt, im übrigen aber unbestimmt; denn wäre er schon durchgängig bestimmt, so wäre mit ihm das Buch zu Ende, und es bedürftig nicht der Fortsetzung, welche vernünftigerweise ja nur dazu da ist, um eben das unbestimmt gebliebene weiter zu bestimmen. Nur inwieweit er bestimmt ist, ist er verständlich; inwieweit er unbestimmt ist, ist er dermalen noch unverständlich. Dieses Maass der Verständlichkeit und der Unverständlichkeit mache man sich recht klar auf folgende Weise: »Der Begriff, von welchem der Autor redet, ist, an sich und unabbängig von dem Autor, bestimmbar auf diese Weise, und diese, u.s.f.« – Je weiter man vorläufig die Möglichkeit der Bestimmungen über. sieht, desto besser ist man vorbereitet. – »Von diesen Möglichkeiten der Bestimmungen berührt nun der Autor in diesem ersten Satze diese und diese; und zwar bestimmt er in dieser Rücksicht so und so, – in diesem bestimmten Gegensatze gegen andere Bestimmungsweisen, die hier auch noch möglich wären. So weit nun ist er mir verständlich. Unbestimmt aber lässt er seinen Satz in dieser, dieser, dieser Rücksicht; wie er es nun damit meine, weiss ich zur Zeit noch nicht. Ich stehe fest in einem verständlichen Grundpuncte, umgeben von einer mir wohlbekannten Sphäre des jetzt noch unverständlichen. Aber wie dies der Autor sich gedacht habe, – gesetzt auch, er sagte es nicht einmal, – wird sieh ergeben aus der Weise, wie er aus dem Vorausgesetzten folgert; der Gebrauch, den er von seinen stillschweigenden Voraussetzungen macht, wird ihn schon verrathen. Lese ich weiter, bis der Autor weiter bestimmt! – ganz gewiss wird durch diese neue Bestimmung ein Theil der vorigen Unbestimmtheit wegfallen, der klare Punct sich erweitern, die Sphäre des unverständlichen sich verengen.[92] Mache ich mir dieses dermalige Maass der Verständlichkeit wiederum recht klar, und präge es mir ein, und lese fort, bis der Autor abermals neu bestimmt – und nach derselben Regel immerfort, so lange, bis die Sphäre der Unbestimmtheit und Unverständlichkeit ganz verschwunden und aufgegangen ist im klaren Lichtpuncte; und ich das ganze Denksystem des Autors, vorwärts und rückwärts, in jeder beliebigen Ordnung, und alle Bestimmungen desselben ableitend aus jeder beliebigen einzelnen selber erschaffen kann.« – Um in diesem eigenen Denken über den Autor streng über sich selbst zu wachen, auch um das einmal festgesetzte und klare nicht wieder zu verlieren, dürfte es sogar rathsam seyn, diese ganze Operation mit der Feder in der Hand auf dem Papiere vorzunehmen, – und sollten, wie es anfangs sich wohl zutragen dürfte, über Einen gedruckten Bogen zwanzig andere beschrieben werden müssen. Hier wäre das Erbarmen über das Papier an der unrechten Stelle: – nur dass nicht etwa dieses Papier, unter dem Namen eines Commentars, zur Presse eile! Dieser Commentar, als hervorgehend aus der Bildung, mit der ich zum Studium des Autors ging, ist doch eigentlich nur der Commentar für mich: und jeder andere, der wirklich die Sache verstehen wollte, müsste wiederum mit meinem Commentar dieselbe Operation anstellen. Lassen wir ihn lieber, wie es auch schicklicher ist, diese Operation am ersten Autor selber, wie auch ich es musste, vollziehen.

Es ist klar, dass man auf diese Weise, – besonders wenn man gleich anfangs von einem noch klareren Begriffe ausging, als der Autor selber, – den Schriftsteller oft noch weit besser verstehen werde, als er sich selber verstand. Hier verwickelt er sich in seinem eigenen Räsonnement; dort macht er einen falschen Schluss; dort versagt ihm der Ausdruck, und er schreibt etwas ganz anderes nieder, als er schreiben will; – was verschlägt mir dies? – ich weiss, wie er hat folgern und sagen sollen, denn ich habe sein Ganzes durchdrungen. Jenes sind Fehler der menschlichen Schwäche, die, bei entschiedenem Verdienste in der Hauptsache, der Edle nicht rügt.[93]

Es ist ebenso klar, dass bei dieser Weise zu lesen man bald entdecken werde, wenn etwa der Autor selbst in der Wissenschaft, über welche er zu schreiben begehrt, nicht zu Hause ist und die Höhe des Zeitalters in ihr gar nicht kennt; oder, wenn er ein verworrener Kopf ist. In beiden Fällen Ideen man seine Schrift ruhig hinlegen, und braucht sie gar nicht weiter zu lesen.

Und so wäre denn der nächste Zweck, des Verstehens und historischen Erkennens des Sinnes des Autors, erreicht. Ob nun dieser Sinn des Autors der Wahrheit gemäss sey, – was der zweite Zweck des Lesens war, – zu beurtheilen, wird nach einem so durchdringenden Studium sehr leicht seyn, wenn nicht, wie zu erwarten, schon während des Studiums ein Urtheil über diesen letzteren Punct sich ergeben hat.

Was zweitens das Lesen eines Redekunstwerks betrifft: so ist der eigentliche Zweck dieses Lesens der, dass man der Belebung, Erhöhung und Bildung des Geistes theilhaftig werde, welche das Werk zu gewähren vermag. Für diesen Zweck würde nun die ruhige Hingebung völlig zureichen: denn die Quelle des ästhetischen Wohlgefallens Oberhaupt zu entdecken, und sogar in jedem einzelnen Falle sie zu erspüren, ist nicht jedermans Ding; und die Kunst beruft zwar Alle zum Mitgenusse, aber nur wenige zur Ausübung, oder auch nur zur Entdeckung ihrer Geheimnisse. Aber, damit das Kunstwerk auch nur an uns komme und wir mit demselben in Berührung treten, muss es vorläufig verstanden werden; d.h. wir müssen die Absicht des Meisters, und was eigentlich er durch sein Werk habe liefern wollen, vollkommen begreifen, und diese Absicht als den Geist des Ganzen, aus allen Theilen des Werks, und diese wieder aus jenem, herauszuconstruiren vermögen. Immer ist dies noch nicht das Kunstwerk selbst, sondern nur der prosaische Theil davon; erst das, was uns bei der Ansicht des Werks aus diesem Standpuncte gewaltig erfassen und ergreifen wird, ist das Wahre der Kunst; aber doch müssen wir jenen Theil, das Durchdringen des Werks in seiner organischen Einheit, erst an uns gebracht haben, um seines Genusses fähig[94] zu seyn. Immer auch bleibt jene organische Einheit, wie alles genialische, unendlich und unerschöpflich, aber es ist schon ein Genuss, sich ihr auch nur in einer gewissen Entfernung angenähert zu haben. Wir werden zurückkehren zu unseren ernsten Geschäften, und jener Anschauung vergessen; aber sie wird insgeheim bleiben in unserem Inneren, und, uns unbewusst, sich fortbilden. Wir werden nach einiger Zeit zurückkommen zu unserm Werke, und dasselbe in einer anderen Gestalt erblicken; und so wird es uns nie alt werden, sondern bei jeder neuen Beschauung sich uns zu einem neuen Leben verjüngen. Wir werden nicht mehr uns sehnen nach etwas neuem, weil wir das Mittel gefunden haben, gerade das allerälteste in das lebendigste und jüngste Neue umzuwandeln.

Was nun jene organische Einheit eines Kunstwerks sey, die vor allen Dingen erst verstanden und begriffen werden müsse, frage mich keiner, der es nicht schon weiss, und dem ich durch das eben gesagte nicht entweder nur seinen eigenen Gedanken wiederholt, oder wenigstens ihn bloss deutlicher ausgesprochen habe. Ueber die Einheit eines wissenschaftlichen Werks konnte ich mich Ihnen ganz klar machen, und habe es meines Wissens gethan: nicht so über die Einheit eines Kunstwerks. Wenigstens ist die Einheit, welche ich meine, nicht jene Einheit der Fabel und der Zusammenhang ihrer Theile, und ihre Wahrscheinlichkeit, und die psychologische Fruchtbarkeit und moralische Erbauung derselben, von denen die üblichen Theorien und Kunstkritiken verlauten; – Geschwätz von Barbaren, die sich gern Kunstsinn anlögen, für Barbaren, die sich nur durch andere ihn anlügen lassen! – die Einheit, welche ich meine, ist eine andere; höchstens durch Beispiele, durch wirkliche Zergliederung und Zusammenfassung vorhandener Kunstwerke in jenem Geiste, würde es sich dem Unkundigen deutlich machen lassen. Möchte sich doch bald ein Mann finden, der sich dieses hohe Verdienst um die Menschheit erwürbe, und dadurch, wenigstens in jungen Gemüthern, den fast ganz erstorbenen Kunstsinn wieder anzündete; – nur müsste derselbe nicht selber ein junges Gemüth, sondern ein vollkommen bewährter und gereifter Mann seyn. Bis nun[95] dieses geschieht, können ja die anderen sich des Lesens und des Anschauens wirklicher Kunstproducte, die ihnen wegen ihrer unendlichen Tiefe unverständlich, und, da der Genuss derselben das Verstehen voraussetzt, auch ungeniessbar sind, ruhig enthalten. Sie werden bei Künstlern anderer Art weit besser ihre Rechnung finden, welche die Lieblingstendenzen, Paradoxien und Spielwerke des Zeitalters glücklich in Schutz nehmen, und dasjenige, was alle zu leben begehren, und was sie wirklich, nur leider oft unterbrochen, leben, in einen kurzen Zeitraum zusammendrängen. Und so wird es denn auch wirklich, ob wir es ihnen nun erlaubt hätten oder nicht, fernerhin, sowie bisher geschehen.

Quelle:
Johann Gottlieb Fichtes sämmtliche Werke. Band 7, Berlin 1845/1846, S. 78-96.
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