Dreizehntes Bruchstück

Vollkommene Wanderschaft

[86] Ein Anhänger:

359

Befrag' ich wohl den reich beratnen Denker,

Der hingelangt, erloschen, still in sich steht:

Entflohn dem Hause, Wünschen abgewandt,

Wie mag vollkommen durch die Welt man wandern hin?


Der Herr:


360

Bei wem Gebete nicht mehr keimen auf,

Entwurzelt Träume sind und Scheingesichte:

Gebeten so wie Flüchen fern entkehrt

Vollkommen durch die Welt man wandern mag.


361

Empfinden will er keine Menschenlust,

Empfangen auch kein Götterglück, der Mönch,

Hat überstanden Dasein, kennt die Satzung:

Vollkommen durch die Welt er wandern mag.


362

Gelassen hat er hinter sich das Lästern,

Mag Harm und Habsucht missen gern, der Mönch:

Genügen, Mißgenügen fern entkehrt

Vollkommen durch die Welt er wandern mag.


363

Genehm und Ungenehm wer meiden kann

Ist ohne Hangen nirgend wieder eingepflanzt:

Entfesselt aus dem Fesselwerk

Vollkommen durch die Welt er wandern mag.


[87] 364

Bei keinem Haften hat er Halt gefaßt,

Bei Gaben mag er Wunschbegier verwinden:

Uneingepflanzt und andern unerspähbar

Vollkommen durch die Welt er wandern mag.


365

In Worten, in Gedanken und in Werken

Unwendbar, echt erfand er so die Satzung:

Die Spur erspähend wo der Wahn erlischt

Vollkommen durch die Welt er wandern mag.


366

›Man grüßt mich‹, wer es merkt und nicht vergnügt wird,

Und nicht verschüchtert, ist er ausgescholten,

Geatzt von andern unverblendet bleibt:

Vollkommen durch die Welt er wandern mag.


367

Begierde nicht, Genusse nicht geneigt,

Nie trennen und nie binden wieder mag der Mönch:

Nie Frage mehr erfragen, heil im Herzen,

Vollkommen durch die Welt er wandern mag.


368

Sich selber was er gleich erfunden hat,

Nicht irgend mag verwunden hier der Mönch:

Gewiß bewährte Satzung, wer sie fand,

Vollkommen durch die Welt er wandern mag.


369

Bei wem da jedes Angewöhnen schwand,

Von Grund aus Übel wer entwurzelt hat,

Von Hoffen heil ist, nicht mehr hoffen kann,

Vollkommen durch die Welt er wandern mag.


370

Versiegten Wahnes, ohne Dünkeltum,

Entgangen gänzlich aller Reize Spur:

Besänftigt wer erloschen in sich steht,

Vollkommen durch die Welt er wandern mag.


[88] 371

Wer Zuversicht, Erfahrung, Einkehr übt,

Gesellter Sippe kein Geselle mehr,

Als Weiser Gier und Haß verwand und Widerspruch,

Vollkommen durch die Welt er wandern mag.


372

Der helle Sieger, der den Schleier hob,

Der Dinge Herr, Gebieter, unverstört:

Wer Unterschiede witzig enden weiß,

Vollkommen durch die Welt er wandern mag.


373

Vergangnen Zeiten, Zeiten künftighin,

Entgangen Zwecken, überhell geklärt,

Von allen Reichen lauter abgelöst

Vollkommen durch die Welt er wandern mag.


374

Den Pfad erfand er, sah die Satzung wohl,

Verborgnes offenbar, geschwunden war der Wahn:

Weil nun kein Haften je mehr hemmen kann,

Vollkommen durch die Welt er wandern mag.


Der Anhänger:


375

Ach wahrlich ja, o Herr, so ist es wirklich!

Wer also da verweilt als Mönch besänftigt,

Von allen Fesseln wer sich losgewunden,

Vollkommen durch die Welt er wandern mag.

Quelle:
Die Reden Gotamo Buddhos. Bd. 3, Zürich/Wien 1957, S. 86-89.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Schnitzler, Arthur

Reigen

Reigen

Die 1897 entstandene Komödie ließ Arthur Schnitzler 1900 in einer auf 200 Exemplare begrenzten Privatauflage drucken, das öffentliche Erscheinen hielt er für vorläufig ausgeschlossen. Und in der Tat verursachte die Uraufführung, die 1920 auf Drängen von Max Reinhardt im Berliner Kleinen Schauspielhaus stattfand, den größten Theaterskandal des 20. Jahrhunderts. Es kam zu öffentlichen Krawallen und zum Prozess gegen die Schauspieler. Schnitzler untersagte weitere Aufführungen und erst nach dem Tode seines Sohnes und Erben Heinrich kam das Stück 1982 wieder auf die Bühne. Der Reigen besteht aus zehn aneinander gereihten Dialogen zwischen einer Frau und einem Mann, die jeweils mit ihrer sexuellen Vereinigung schließen. Für den nächsten Dialog wird ein Partner ausgetauscht indem die verbleibende Figur der neuen die Hand reicht. So entsteht ein Reigen durch die gesamte Gesellschaft, der sich schließt als die letzte Figur mit der ersten in Kontakt tritt.

62 Seiten, 3.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten III. Sieben Erzählungen

Romantische Geschichten III. Sieben Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Nach den erfolgreichen beiden ersten Bänden hat Michael Holzinger sieben weitere Meistererzählungen der Romantik zu einen dritten Band zusammengefasst.

456 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon