[204] Ein Anhänger:
Für sich, für sich nur Ansicht angewöhnen,
Zerfahren vielfach heißen sie es »kundig«;
Wer so es meint, er soll die Satzung kennen,
Dagegen wer sich wehrt untüchtig gelten.
879
Zerfahren also fangen an sie Hader,
»Ein Tor der andre, ist unkundig«, sagt man;
Das wahre nun der Worte da, wer spricht es,
Wo alle ja sich kundig nur bekennen.
Der Herr:
Die Satzung andrer wer da nicht verstanden,
Er bleibt ein Tor, verdorben ohne Wissen:
Kein Tor ja mag um Wissen irgend werben,
Will selber nur sich Ansicht angewöhnen.
881
Ersichtbar aber wer da klar geworden,
An Wissen lauter, kundig, reich beraten,
Kein solcher wird verlegen sein um Wissen:
Denn Ansicht hat er wirklich so erworben.
882
Nicht doch als wirklich darf ich das berühmen,
Was hier der Tor berät mit andern Toren;
Nur seine Ansicht nennt ein jeder Wahrheit,
Um so für töricht andre dann zu halten.
[205] Der Anhänger:
Als wahr und wirklich was die einen achten,
Das achten andre dann als falsch und unwahr:
Zerfahren also fangen an sie Hader;
Warum nicht künden gleiches an Asketen?
Der Herr:
Nur eine Wahrheit, keine zweite ist es,
Um die der Kenner streitet mit dem Kenner;
Verschieden preist ein jeder seine Wahrheit:
Darum nicht künden gleiches an Asketen.
Der Anhänger:
885
Warum denn rühmen sie verschieden Wahrheit,
Um als Verkünder kundig so zu gelten?
Ist Wahrheit, wo man vieles hört, verschieden,
Ein Grübeln oder ist es nach Begriffen?
Der Herr:
Verschieden vielfach kenn' ich keine Wahrheit,
Bloß wahrgenommen die da ewig bliebe;
Doch wo man Grübeln nisten läßt in Ansicht,
Als wahr und falsch ein Doppelding bekennt man.
887
Beim Sehn und Hören und beim Handeln, Denken
Hinein sich pflanzen, scheel umher dann blicken,
Nach Willkür auserlesen, Beifall spenden,
»Ein Tor der andre, ist unkundig«, sagt man.
[206] 888
Warum man eben töricht hält den andern,
Sich selber will man kundig darum heißen;
Von sich allein als kundig angepriesen,
Den andern sieht man scheel und wird ihn schelten.
Ein allzu rascher Anblick ist ihm eigen,
Der Stolz verstört ihn, Dünkel, der verzehrt ihn;
Er selber schon an sich versehrt im Geiste
Hat Ansicht also ja sich angeeignet.
890
Bei andern wer verlegen wird um Worte,
Von seinem Wissen wird er so verlassen;
Doch wer da selber witzig ist geworden, stark,
Er kann als Tor nicht gelten bei Asketen.
»Wer andrer zuneigt und nicht unsrer Satzung
Verwirft die Reinheit, ist nicht reif geworden«:
So sprechen wohl die Büßer da gewöhnlich,
Nur sichtbar was man wünscht erwünschen solche.
892
»Nur hier ist Reinheit«, also hört man reden,
Und keine andre Satzung sei die echte:
Das bilden sich die Büßer ein gewöhnlich,
Um ihren Orden kräftig dann zu rühmen.
893
Und rühmt man kräftig auch den eignen Orden,
Was muß denn gleich der andre gelten töricht?
Sich selbst Verdruß nur wird er so bereiten,
Unklug wer andre nennt und ungeläutert.
894
Nach Willkür auserlesen, zu sich messen,
Auf Hader heißt es in der Welt umhergehn;
Von allem Auserlesen abgeschieden
Verdruß bereiten läßt man sich da nirgend.
Buchempfehlung
»Ein ganz vergebliches Mühen würd' es sein, wenn du, o lieber Leser, es unternehmen solltest, zu den Bildern, die einer längst vergangenen Zeit entnommen, die Originale in der neuesten nächsten Umgebung ausspähen zu wollen. Alle Harmlosigkeit, auf die vorzüglich gerechnet, würde über diesem Mühen zugrunde gehen müssen.« E. T. A. Hoffmann im Oktober 1818
88 Seiten, 5.80 Euro
Buchempfehlung
Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Michael Holzinger hat sechs eindrucksvolle Erzählungen von wütenden, jungen Männern des 18. Jahrhunderts ausgewählt.
468 Seiten, 19.80 Euro