V

Das Toren-Kapitel

[630] 60

Lang ist die Nacht dem Wachenden,

Lang ist der Weg dem müden Leib,

Lang ist der unverständigen

Wahrheitverkenner Wandelsein.


61

Triffst du auf deiner Wanderschaft

Den Besseren, den Gleichen nicht,

So wandre einsam, wackern Muts:

Mit Toren schließt man keinen Bund.


62

»Ich habe Kinder, habe Geld«:

Geschlagnen Geistes denkt's der Tor!

Sich selbst besitzt man nicht einmal,

Geschweige Kind, geschweige Gut.


63

Ein Tor, der seine Torheit merkt,

Wahrhaftig, weise heißt man ihn;

Ein Tor, der sich ein Weiser dünkt,

Wahrhaftig, der wird Tor genannt.


64

Wenn auch sein ganzes Leben lang

Der Tor um einen Weisen ist,

Er wird die Wahrheit nicht verstehn,

Dem Löffel in der Suppe gleich.


[631] 65

Wenn auch nur einen Augenblick

Der Sinnige den Weisen sieht,

Er wird die Wahrheit schnell verstehn,

Gleichwie die Zunge Suppe schmeckt.


66

Als Eigenfeinde würgen sich

Die Toren, die Verblendeten,

Begehen böser Taten Schuld,

Erwerben bittre Sündenfrucht.


67

Nicht solche Tat ist wohlgetan,

Die reueschwer alsbald uns quält,

Und deren Lohn man kummervoll

Mit herbem Tränenblick empfängt.


68

Doch solche Tat ist wohlgetan,

Die aller Reue ledig geht,

Und deren Lohn man freudevoll

In milder Heiterkeit empfängt.


69

Das Süße hat der Tor im Sinn,

Solang die Sünde nicht gereift:

Ist aber reif die Sündenfrucht,

Dann fällt dem Leiden er anheim.


70

Mag alle Monat einmal nur

So viel auf Grases Spitze geht

Der Tor an Nahrung gönnen sich:

Vom Werte der Verstehenden,

Der recht die Dinge Wägenden

Erlangt er auch kein Sechzehntel.


[632] 71

Die jetzt vollbrachte böse Tat

Gerinnt nicht gleich, wie frische Milch:

Verzehrend folgt dem Toren sie,

Wie Feuer unter Asche glüht.


72

Sofern zu eignem Nachteil nur

Erkenntnis sich im Torenhaupt

Erhebt, erdrückt sein kleines Glück,

Das Hirn zermalmend, jählings sie.


73

Gar manchen reizt des Pöbels Gunst,

Lockt Vorrang in der Jüngerschar,

Sticht Herrschaft in der Mönchklausur,

Verehrung in der Laienwelt:


74

»Ich, ja, wahrhaftig, hab's gekonnt,

Sie alle mögen's wissen nur,

Die Weltlichen und Geistlichen,

Mir, wahrlich, soll an jedem Ort

Zu jeder Zeit in jedem Ding

Das ganze Volk zu Willen sein!« –

Das ist der Wunsch des Törichten,

Und heftiger wächst Gier und Stolz.


75

»Erkenntnis, wahrlich, bringt Gewinn,

Erkenntnis deckt Nibbānam auf«:

Der also dies Ergründende,

Der Jünger des erwachten Herrn

Ertrage Ehren gleichgültig,

Er weihe sich der Einsamkeit.

Quelle:
Die Reden Gotamo Buddhos. Bd. 3, Zürich/Wien 1957, S. 630-633.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Droste-Hülshoff, Annette von

Ledwina

Ledwina

Im Alter von 13 Jahren begann Annette von Droste-Hülshoff die Arbeit an dieser zarten, sinnlichen Novelle. Mit 28 legt sie sie zur Seite und lässt die Geschichte um Krankheit, Versehrung und Sterblichkeit unvollendet.

48 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Frühromantik

Große Erzählungen der Frühromantik

1799 schreibt Novalis seinen Heinrich von Ofterdingen und schafft mit der blauen Blume, nach der der Jüngling sich sehnt, das Symbol einer der wirkungsmächtigsten Epochen unseres Kulturkreises. Ricarda Huch wird dazu viel später bemerken: »Die blaue Blume ist aber das, was jeder sucht, ohne es selbst zu wissen, nenne man es nun Gott, Ewigkeit oder Liebe.« Diese und fünf weitere große Erzählungen der Frühromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe ausgewählt.

396 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon