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[176] Monistische Studien über bewußtes und unbewußtes Seelenleben.
Entwicklungsgeschichte und Theorie des Bewußtseins.
Unter allen Äußerungen des Seelenlebens gibt es keine, die so wunderbar erscheint und so verschieden beurteilt wird wie das Bewußtsein. Nicht allein über das eigentliche Wesen dieser Seelentätigkeit und über ihr Verhältnis zum Körper, sondern auch über ihre Verbreitung in der organischen Welt, über ihre Entstehung und Entwicklung stehen sich noch heute, wie seit Jahrtausenden, die widersprechendsten Ansichten gegenüber. Mehr als jede andere psychische Funktion hat das Bewußtsein zu der irrtümlichen Vorstellung eines »immateriellen Seelenwesens« und im Anschluß daran zu dem Aberglauben der »persönlichen Unsterblichkeit« Veranlassung gegeben; viele der schwersten Irrtümer, die unser modernes Kulturleben noch heute beherrschen, sind darauf zurückzuführen. Ich habe daher schon früher das Bewußtsein als das »psychologische Zentralmysterium« bezeichnet; es ist die feste Zitadelle aller mystischen und dualistischen Irrtümer, an deren gewaltigen Wällen alle Angriffe der bestgerüsteten Vernunft zu scheitern drohen. Schon diese Tatsache allein rechtfertigt es, daß wir hier dem Bewußtsein eine besondere kritische Betrachtung von unserem monistischen Standpunkte aus widmen. Wir werden sehen, daß das Bewußtsein nicht mehr und nicht minder wie jede andere Seelentätigkeit eine Naturerscheinung[176] ist; gleich allen anderen Naturerscheinungen ist es dem Substanzgesetz unterworfen.
Begriff des Bewußtseins. Schon über den elementaren Begriff dieser Seelentätigkeit, über seinen Inhalt und Umfang, gehen die Ansichten der angesehensten Philosophen und Naturforscher weit auseinander. Vielleicht am besten bezeichnet man den Inhalt des Bewußtseins als innere Anschauung und vergleicht diese einer Spiegelung, Als zwei Hauptbezirke desselben unterscheiden wir das objektive und subjektive Bewußtsein, das Weltbewußtsein und Selbstbewußtsein. Bei weitem der größten Teil aller bewußten Seelentätigkeit betrifft, wie schon Schopenhauer richtig erkannte, das Bewußtsein der Außenwelt, der »anderen Dinge«; dieses Weltbewußtsein umfaßt alle möglichen Erscheinungen der Außenwelt, welche überhaupt unserer Erkenntnis zugänglich sind. Viel beschränkter ist unser Selbstbewußtsein, die innere Spiegelung unserer eigenen gesamten Seelentätigkeit, aller Vorstellungen, Empfindungen und Strebungen oder Willenstätigkeiten.
Viele und angesehene Denker, namentlich unter den Physiologen (z.B. Wundt und Ziehen), halten die Begriffe des Bewußtseins und der psychischen Funktionen für identisch: »alle Seelentätigkeit ist bewußte«; das Gebiet des psychischen Lebens reicht nur so weit als dasjenige des Bewußtseins. Nach unserer Ansicht erweitert diese Definition die Bedeutung des letzteren in ungebührlicher Weise und gibt Veranlassung zu zahlreichen Irrtümern und Mißverständnissen. Wir teilen vielmehr die Ansicht anderer Philosophen (z.B. Romanes, Fritz Schultze, Paulsen), daß auch die unbewußten Vorstellungen, Empfindungen und Strebungen zum Seelenleben gehören; in der Tat ist sogar das Gebiet dieser unbewußten psychischen Aktionen (der Reflextätigkeit usw.) viel ausgedehnter als dasjenige der bewußten. Beide Gebiete stehen übrigens im engsten Zusammenhang und sind durch keine scharfe Grenze getrennt; jederzeit kann uns eine unbewußte Vorstellung[177] plötzlich bewußt werden; wird unsere Aufmerksamkeit darauf durch ein anderes Objekt gefesselt, so kann sie ebenso rasch wieder unserem Bewußtsein völlig entschwinden.
Die einzige Quelle unserer Erkenntnis des Bewußtseins ist dieses selbst; gerade hierin liegt in erster Linie die außerordentliche Schwierigkeit seiner wissenschaftlichen Untersuchung und Deutung. Subjekt und Objekt fallen hier in eins zusammen; das erkennende Subjekt spiegelt sich in seinem eigenen inneren Wesen, welches Objekt der Erkenntnis sein soll. Auf das Bewußtsein anderer Wesen können wir also niemals mit voller objektiver Sicherheit schließen, sondern immer nur durch Vergleichung seiner Seelenzustände mit unseren eigenen. Soweit diese Vergleichung sich nur auf normale Menschen erstreckt, können wir allerdings auf deren Bewußtsein gewisse Schlüsse ziehen, deren Richtigkeit niemand bezweifelt. Aber schon bei abnormen Persönlichkeiten (bei genialen und exzentrischen, stumpfsinnigen und geisteskranken Menschen) sind diese Analogieschlüsse entweder unsicher oder falsch. In noch höherem Grade gilt das, wenn wir das Bewußtsein des Menschen mit demjenigen der Tiere (zunächst der höheren, weiterhin der niederen Tiere) in Vergleich stellen. Da ergeben sich alsbald so große tatsächliche Schwierigkeiten, daß die Ansichten der hervorragendsten Physiologen und Philosophen himmelweit auseinandergehen. Wir wollen hier nur die wichtigsten Anschauungen darüber kurz einander gegenüberstellen.
I. Anthropistische Theorie des Bewußtseins: es ist dem Menschen eigentümlich. Die weit verbreitete Anschauung, daß Bewußtsein und Denken ausschließliches Eigentum des Menschen seien, und daß auch ihm allein eine »unsterbliche Seele« zukomme, ist auf Descartes zurückzuführen (1643). Dieser geistreiche französische Philosoph und Mathematiker (erzogen in einem Jesuitenkollegium!) begründete eine vollkommene Scheidewand zwischen der Seelentätigkeit[178] des Menschen und der Tiere. Die Seele des Menschen als denkendes, immaterielles Wesen ist nach ihm vom Körper, als ausgedehntem, materiellem Wesen, vollständig getrennt. Trotzdem soll sie an einem Punkte des Gehirns (an der Zirbeldrüse!) mit dem Körper verbunden sein, um hier Einwirkungen der Außenwelt aufzunehmen und ihrerseits auf den Körper auszuüben. Die Tiere dagegen, als nicht denkende Wesen, sollen keine Seele besitzen und reine Automaten sein, kunstvoll gebaute Maschinen, deren Empfinden, Vorstellen und Wollen rein mechanisch zustande kommt und nach physikalischen Gesetzen verläuft. Für die Psychologie des Menschen vertrat demnach Descartes den reinen Dualismus, für diejenige der Tiere den reinen Monismus. Dieser offenkundige Widerspruch bei einem so klaren und scharfsinnigen Denker muß höchst auffallend erscheinen; zur Erklärung desselben darf man wohl mit Recht annehmen, daß er seine wahre Überzeugung verschwieg und deren Erkenntnis den selbständigen Denkern überließ. Als Zögling der Jesuiten war Descartes schon frühzeitig dazu erzogen, wider bessere Einsicht die Wahrheit zu verleugnen; vielleicht fürchtete er auch die Macht der Kirche und ihre Scheiterhaufen. Ohnehin hatte ihm seine skeptische Forderung, daß jedes reine Erkenntnisstreben vom Zweifel am überlieferten Dogma ausgehen müsse, fanatische Anklagen wegen Skeptizismus und Atheismus zugezogen. Die mächtige Wirkung, welche Descartes auf die nachfolgende Philosophie ausübte, war sehr merkwürdig und seiner »doppelten Buchführung« entsprechend. Die Materialisten des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts beriefen sich für ihre monistische Psychologie auf die kartesianische Theorie von der Tierseele und ihrer mechanischen Maschinentätigkeit. Die Spiritualisten umgekehrt behaupteten, daß ihr Dogma von der Unsterblichkeit der Seele und ihrer Unabhängigkeit vom Körper durch die kartesianische Theorie der Menschenseele unwiderleglich begründet sei. Diese Ansicht ist auch heute[179] noch im Lager der Theologen und der dualistischen Metaphysiker die herrschende. Die naturwissenschaftliche Anschauung des neunzehnten Jahrhunderts hat sie mit Hilfe der empirischen Fortschritte im Gebiete der physiologischen und vergleichenden Psychologie völlig überwunden.
II. Neurologische Theorie des Bewußtseins: es kommt nur dem Menschen und jenen höheren Tieren zu, welche ein zentralisiertes Nervensystem und Sinnesorgane besitzen. Die Überzeugung, daß ein großer Teil der Tiere – zum mindesten die höheren Säugetiere – ebenso eine denkende Seele und also auch Bewußtsein besitzt wie der Mensch, beherrscht die Kreise der modernen Zoologie, der exakten Physiologie und der monistischen Psychologie. Die großartigen Fortschritte der Neuzeit in mehreren Gebieten der Biologie haben uns übereinstimmend zu der Anerkennung dieser bedeutungsvollen Erkenntnis geführt. Wir beschränken uns bei ihrer Würdigung zunächst auf die höheren Wirbeltiere und vor allem die Säugetiere. Daß die intelligentesten Vertreter dieser höchst entwickelten Vertebraten – allen voran die Affen und Hunde – in ihrer gesamten Seelentätigkeit sich dem Menschen höchst ähnlich verhalten, ist seit Jahrtausenden bekannt und bewundert. Ihre Vorstellungs- und Sinnestätigkeit, ihr Empfinden und Begehren ist dem menschlichen so ähnlich, daß wir keine Beweise dafür anzuführen brauchen. Aber auch die höhere Assozionstätigkeit ihres Gehirns, die Bildung von Urteilen und deren Verbindung zu Schlüssen, das Denken und das Bewußtsein im engeren Sinne sind bei ihnen ähnlich entwickelt wie beim Menschen – nur dem Grade, nicht der Art nach davon verschieden. Überdies lehrt uns die vergleichende Anatomie und Histologie, daß die verwickelte Zusammensetzung des Gehirns (sowohl die feinere als die gröbere Struktur) bei diesen höheren Säugetieren im wesentlichen dieselbe wie beim Menschen ist. Dasselbe zeigt uns die vergleichende Ontogenie bezüglich der Entstehung dieser[180] Seelenorgane. Die vergleichende Physiologie lehrt, daß die verschiedenen Zustände des Bewußtseins sich bei diesen höchst entwickelten Plazentaltieren ganz ähnlich wie beim Menschen verhalten, und das Experiment beweist, daß sie auch auf äußere Eingriffe ebenso reagieren. Man kann höhere Tiere durch Alkohol, Chloroform, Äther usw. ebenso betäuben und durch geeignete Behandlung ebenso hypnotisieren wie den Menschen. Dagegen ist es nicht möglich, die Grenze scharf zu bestimmen, wo auf den niederen Stufen des Tierlebens das Bewußtsein zuerst als solches erkennbar wird. Die einen Zoologen setzen dieselbe sehr hoch oben an, die anderen sehr tief unten. Darwin, der die verschiedenen Abstufungen des Bewußtseins, der Intelligenz und des Gemüts bei den höheren Tieren sehr genau unterscheidet und durch zunehmende Entwicklung erklärt, weist zugleich darauf hin, wie schwer oder eigentlich wie unmöglich es ist, die ersten Anfänge dieser höchsten Seelentätigkeiten bei den niederen Tieren zu bestimmen. Nach meiner persönlichen Auffassung dünkt mir unter den verschiedenen widersprechenden Theorien am wahrscheinlichsten die Annahme, daß das Zustandekommen des Bewußtseins an die Zentralisation des Nervensystems gebunden ist, die den niederen Tierklassen noch fehlt. Die Anwesenheit eines nervösen Zentralorgans, hoch entwickelte Sinnesorgane und eine weit ausgebildete Assozion der Vorstellungsgruppen scheinen mir erforderlich, um das einheitliche Bewußtsein zu ermöglichen.
III. Animalische Theorie des Bewußtseins: es findet sich bei allen Tieren und nur bei diesen. Hiernach würde ein scharfer Unterschied im Seelenleben der Tiere und Pflanzen bestehen; ein solcher wurde schon von vielen alten Autoren angenommen und von Linné scharf formuliert in seinem grundlegenden »Systema naturae« (1735). Die beiden großen Reiche der organischen Natur unterscheiden sich nach ihm dadurch, daß die Tiere Empfindung und Bewußtsein haben, die Pflanzen nicht. Später hat[181] besonders Schopenhauer diesen Unterschied scharf betont: »Das Bewußtsein ist uns schlechthin nur als Eigenschaft animaler Wesen bekannt. Auch nachdem es sich durch die ganze Tierreihe, bis zum Menschen und seiner Vernunft, gesteigert hat, bleibt die Bewußtlosigkeit der Pflanze, von der es ausging, noch immer die Grundlage. Die untersten Tiere haben bloß eine Dämmerung desselben.« Die Unhaltbarkeit dieser Ansicht wurde schon um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts klar, als man das Seelenleben der niederen Tierstämme, besonders der Zölenteraten (Schwämme und Nesseltiere), näher kennenlernte: echte Tiere, die ebensowenig Spuren von klarem Bewußtsein besitzen wie die meisten Pflanzen. Noch mehr wurde der Unterschied zwischen beiden Reichen verwischt, als man die einzelligen Lebensformen derselben genauer und kritischer untersuchte. Die plasmophagen Urtiere (Protozoa) und die plasmodomen Urpflanzen (Protophyta) zeigen keine durchgreifenden psychologischen Unterschiede, auch nicht in Beziehung auf ihr fragliches Bewußtsein.
IV. Biologische Theorie des Bewußtseins: es ist allen Organismen gemeinsam; es findet sich bei allen Tieren und Pflanzen, während es den anorganischen Naturkörpern (Kristallen usw.) fehlt. Diese Annahme wird gewöhnlich mit der Ansicht verknüpft, daß alle Organismen (im Gegensatze zu den Anorganen) beseelt sind; die drei Begriffe: Leben, Seele und Bewußtsein fließen dann gewöhnlich zusammen. Eine andere Modifikation dieser Anschauung ist, daß diese drei Grunderscheinungen des organischen Lebens zwar unzertrennbar verknüpft sind, daß aber das Bewußtsein nur ein Teil der psychischen Tätigkeit ist, wie diese selbst ein Teil der Lebenstätigkeit. Daß die Pflanzen in demselben Sinne wie die Tiere eine »Seele« besitzen, hat namentlich Fechner sich zu zeigen bemüht, und manche schreiben der Pflanzenseele ein Bewußtsein von ähnlicher Art zu wie der Tierseele. In der Tat sind ja bei sehr[182] empfindlichen »Sinnpflanzen« (Mimosa, Drosera, Dionaea) die auffallenden Reizbewegungen der Blätter, bei manchen anderen (Klee und Sauerklee, besonders aber Hedysarum) die anatomen Bewegungen, bei »schlafenden Pflanzen« (auch vorzugsweise Papilionaceen) die Schlafbewegungen usw. auffallend ähnlich denjenigen vieler niederen Tiere; wer den letzteren Bewußtsein zuschreibt, darf es ganz gewiß auch den ersteren nicht absprechen.
V. Zellulare Theorie des Bewußtseins: es ist eine Lebenseigenschaft jeder Zelle. Die Anwendung der Zellentheorie auf alle Zweige der Biologie verlangt auch ihre Verknüpfung mit der Psychologie. Mit demselben Rechte, mit dem man in der Anatomie und Physiologie die lebendige Zelle aus den »Elementarorganismus« behandelt und das ganze Verständnis des höheren, vielzelligen Tier- und Pflanzenkörpers daraus ableitet, mit demselben Rechte kann man auch die »Zellseele« als das psychologische Element betrachten und die zusammengesetzte Seelentätigkeit der höheren Organismen als das Resultat aus dem vereinigten Seelenleben der Zellen, die sie zusammensetzen. Ich habe die Grundzüge dieser Zellularpsychologie schon 1866 in meiner »Generellen Morphologie« entworfen und sie später weiter ausgeführt in meinem Aufsatz über »Zellseelen und Seelenzellen«. Zum tieferen Eindringen in diese »Elementarpsycho logie« wurde ich durch meine langjährige Beschäftigung mit den einzelligen Lebensformen geführt. Viele von diesen kleinen (meist mikroskopischen) Protisten zeigen ähnliche Äußerungen von Empfindungen und Willen, ähnliche Instinkte und Bewegungen wie höhere Tiere; besonders gilt das von den sehr empfindlichen und lebhaft beweglichen Infusorien. Sowohl in dem Verhalten dieser reizbaren Zellinge gegenüber der Außenwelt wie in vielen anderen Lebensäußerungen derselben (z.B. in dem wunderbaren Gehäusebau der Rhizopoden, der Thalamophoren und Infusorien) könnte man deutliche Spuren bewußter Seelentätigkeit zu erkennen glauben.[183] Wenn man nun die biologische Theorie des Bewußtseins akzeptiert (Nr. IV), und wenn man jede psychische Funktion mit einem Bewußtseinsanteil ausstattet, dann wird man auch jeder selbständigen Protistenzelle Bewußtsein zuschreiben müssen. Die materielle Grundlage desselben wäre dann entweder das ganze Plasma der Zelle oder deren Kern oder ein Teil desselben. In der Psychadentheorie von Fritz Schnitze verhält sich das Elementarbewußtsein der Psychade zur einzelnen Zelle ähnlich wie im höheren Tiere und im Menschen das persönliche Bewußtsein zum vielzelligen Organismus der Person. Definitiv widerlegen läßt sich die Annahme, die ich früher vertrat, nicht. Ich muß aber jetzt Max Verworn zustimmen, welcher in seinen ausgezeichneten »Psychophysiologischen Protistenstudien« annimmt, daß wohl sämtlichen Protisten ein entwickeltes »Ichbewußtsein« fehlt, und daß ihre Empfindungen und Bewegungen den Charakter des »Unbewußten« tragen.
VI. Atomistische Theorie des Bewußtseins: es ist eine Elementareigenschaft aller Atome. Unter allen verschiedenen Anschauungen über die Verbreitung des Bewußtseins geht diese atomistische Hypothese am weitesten. Sie ist wohl hauptsächlich der Schwierigkeit entsprungen, welche manche Philosophen und Biologen bei der Frage nach der ersten Entstehung des Bewußtseins empfinden. Diese Erscheinung trägt ja einen so eigenartigen Charakter, daß ihre Ableitung aus anderen psychischen Funktionen höchst bedenklich erscheint; man glaubte daher, dieses Hindernis am leichtesten dadurch zu überwinden, daß man sie als eine Elementareigenschaft aller Materie annahm, gleich der Massenanziehung oder der chemischen Wahlverwandtschaft. Es würde danach so viele Formen des Elementarbewußtseins geben, als es chemische Elemente gibt; jedes Atom Wasserstoff würde sein hydrogenes Bewußtsein haben, jedes Atom Kohlenstoff sein karbonisches Bewußtsein usw. Auch den alten vier Elementen des Empedokles,[184] deren Mischung durch »Lieben und Hassen« das Werden der Dinge bewirkt, schrieben manche Philosophen Bewußtsein zu.
Ich selbst habe die Hypothese des Atombewußtseins niemals vertreten; ich bin gezwungen, dies hier besonders hervorzuheben, weil E. Du Bois-Reymond mir diese Ansicht fälschlich untergeschoben hat. In der scharfen Polemik, welche derselbe (1880) in seiner Rede über »die sieben Welträtsel« gegen mich führt, bekämpft er meine »verderbliche falsche Naturphilosophie« auf das heftigste und behauptet, ich hätte in meinem Aufsatz über die Perigenesis der Plastidule die »Annahme, daß die Atome einzeln Bewußtsein haben, als metaphysisches Axiom hingestellt«. Ich habe vielmehr ausdrücklich betont, daß ich mir die elementaren psychischen Tätigkeiten der Empfindung und des Willens, die man den Atomen zuschreiben kann, unbewußt vorstelle, ebenso unbewußt wie das elementare Gedächtnis, welches ich nach dem Vorgange des ausgezeichneten Physiologen Ewald Hering (1870) als »eine allgemeine Funktion der organisierten Materie« (besser der »lebendigen Substanz«) betrachte. Du Bois-Reymond verwechselt hier in auffälliger Weise »Seele« und »Bewußtsein«; ich will dahingestellt sein lassen, ob er diese Konfusion nur aus Versehen begeht. Da er selbst das Bewußtsein für eine transzendente Erscheinung erklärt, einen Teil der anderen Seelenfunktionen (z.B. Sinnestätigkeit) aber nicht, muß ich annehmen, daß er beide Begriffe für verschieden hält. Aus anderen Stellen seiner eleganten Reden geht freilich das Gegenteil hervor, wie denn überhaupt dieser berühmte Rhetor sich gerade in bezug auf wichtige Prinzipienfragen oft auffallend widerspricht. Ich betone hier nochmals, daß für mich das Bewußtsein nur einen Teil der Seelenerscheinungen bildet, die wir am Menschen und den höheren Tieren beobachten, während der weitaus größere Teil derselben unbewußt abläuft.
Soweit auch die verschiedenen Ansichten über die[185] Natur und die Entstehung des Bewußtsein auseinandergehen, so lassen sich doch alle schließlich – bei klarer und konsequenter logischer Behandlung – auf zwei entgegengesetzte Grundanschauungen zurückführen, auf die transzendente (dualistische) und die physiologische (monistische). Ich selbst habe von jeher diese letztere Auffassung, und zwar im Lichte der Entwicklungslehre, vertreten, und sie wird gegenwärtig von einer großen Anzahl hervorragender Naturforscher geteilt, wenn auch bei weitem nicht von allen. Die erste Ansicht dagegen ist die ältere und die weitaus verbreitertere, sie ist in neuerer Zeit vor allem durch Emil Du Bois-Reymond wieder zu hohem Ansehen gelangt und durch seine berühmte »Ignorabimusrede« zu einem der meistbesprochenen Gegenstände in den modernen »Welträtseldiskussionen« geworden. Bei der außerordentlichen Bedeutung dieser Grundfrage können wir nicht umhin, hier nochmals auf den Kern derselben kurz einzugehen.
In dem berühmten Vortrage »über die Grenzen des Naturerkennens«, welche E. Du Bois-Reymond am 14. August 1872 auf der Naturforscherversammlung in Leipzig hielt, stellte derselbe zwei verschiedene »unbedingte Grenzen« unseres Naturerkennens auf, welche der menschliche Geist auch bei vorgeschrittenster Naturerkenntnis niemals überschreiten werde – niemals, wie das oft zitierte Schlußwort des Vertrages ausdrücklich betont: »Ignorabimus!« Das eine absolut unlösbare »Welträtsel« ist der »Zusammenhang von Materie und Kraft« und das eigentliche Wesen dieser fundamentalen Naturerscheinungen; wir werden dieses »Substanzproblem« im zwölften Kapitel eingehend behandeln. Das zweite unübersteigliche Hindernis der Philosophie soll das Problem des Bewußtsein bilden, die Frage: wie unsere Geistestätigkeit aus materiellen Bedingungen, bezüglich Bewegungen zu erklären ist, wie die (der Materie und Kraft zugrunde liegende) »Substanz unter bestimmten Bedingungen empfindet, begehrt und denkt«.[186]
Der Kürze halber, und zugleich um das Wesen des Leipziger Vertrages mit einem Schlagworte zu charakterisieren, habe ich dieselbe als »Ignorabimusrede« bezeichnet; es ist dies um so mehr gestattet, als E. Du Bois-Reymond selbst acht Jahre später (in der Rede über die sieben Welträtsel, 1880) den außerordentlichen Erfolg derselben mit berechtigtem Stolze rühmen und dabei sagen konnte: »Die Kritik schlug alle Töne vom freudig zustimmenden Lobe bis zum wegwerfendsten Tadel an, und das Wort 'Ignorabimus', in welchem meine Untersuchung gipfelt, ward förmlich zu einer Art von naturphilosophischem Schiboleth.« Tatsächlich erschollen die lauten »Töne des freudig zustimmenden Lobes« aus den Hörsälen der dualistischen und spiritualistischen Philosophie und besonders aus dem Heerlager der Ecclesia militans (der »schwarzen Internationale«); aber auch alle Spiritisten und alle gläubigen Gemüter, welche durch das »Ignorabimus« die Unsterblichkeit ihrer teuren »Seele« gerettet wähnten, waren davon entzückt. Den »wegwerfendsten Tadel« erfuhr die glänzende Ignorabimusrede dagegen anfänglich nur von seiten weniger Naturforscher und Philosophen, von jenen wenigen, die gleichzeitig über hinreichende naturphilosophische Kenntnisse und über den erforderlichen moralischen Mut verfügten, um den dogmatischen Machtansprüchen des allgewaltigen Sekretärs und Diktators der Berliner Akademie der Wissenschaften entgegenzutreten.
Der merkwürdige Erfolg der Ignorabimusrede (den der Redner selbst später gelegentlich als unberechtigt und übertrieben bezeichnet hat!) erklärt sich aus zwei Gründen, einem äußeren und einem inneren. Äußerlich war dieselbe unzweifelhaft »ein bedeutungsvolles rhetorisches Kunstwerk, eine schöne Predigt von hoher Vollendung der Form und überraschendem Wechsel naturphilosophischer Bilder. Bekanntlich beurteilt aber die Mehrheit eine schöne Predigt nicht nach dem wahren Ideengehalte, sondern nach dem ästhetischen Unterhaltungswerte«.[187] Innerlich analysiert dagegen enthält die Ignorabimusrede das entschiedene Programm des metaphysischen Dualismus; die Welt ist »doppelt unbegreiflich«: einmal die materielle Welt, in welcher »Materie und Kraft« ihr Wesen treiben; und gegenüber, ganz getrennt, die immaterielle Welt des »Geistes«, in welcher »Denken und Bewußtsein nicht aus materiellen Bedingungen erklärbar« sind wie bei der ersteren. Es war ganz naturgemäß, daß der herrschende Dualismus und Mystizismus diese Anerkennung der zwei verschiedenen Welten mit Begierde ergriff, um damit die Doppelnatur des Menschen und die Unsterblichkeit der Seele zu beweisen. Der Jubel der Spiritualisten darüber war um so heller und berechtigter, als E. Du Bois-Reymond bis dahin als ein bedeutender prinzipieller Vertreter des wissenschaftlichen Materialismus gegolten hatte; und das war und blieb er auch (trotz seiner »schönen Reden«!), ebenso wie alle anderen sachkundigen, klaren und konsequent denkenden Naturforscher der Gegenwart.
Allerdings hat der Verfasser der Ignorabiumsrede am Schlusse derselben kurz auf die Frage hingewiesen, ob nicht jene beiden gegenüberstehenden »Welträtsel«, das allgemeine Substanzproblem und das besondere Bewußtseinsproblem, zusammenfallen. Er sagt: »Freilich ist diese Vorstellung die einfachste und der vorzuziehen, wonach die Welt doppelt unbegreiflich erscheint. Aber es liegt in der Natur der Dinge, daß wir auch in diesem Punkte nicht zur Klarheit kommen, und alles weitere Reden darüber bleibt müßig.« – Dieser letzteren Ansicht bin ich von Anfang an entschieden entgegengetreten und habe mich zu zeigen bemüht, daß jene beiden großen Fragen nicht zwei verschiedene Welträtsel sind. »Das neurologische Problem des Bewußtseins ist nur ein besonderer Fall von dem allumfassenden kosmologischen Problem, der Substanzfrage.«
Es ist hier nicht der Ort, um nochmals auf die betreffende Polemik und die sehr umfangreiche darüber[188] entstandene Literatur einzugehen. Ich habe schon im Jahre 1874, im Vorwort zur ersten Auflage meiner Anthropogenie, gegen die Ignorabimusrede, ihre dualistischen Prinzipien und ihre metaphysischen Trugschlüsse entschiedenen Protest erhoben, und ich habe denselben ausführlich 1878 begründet in meiner Schrift über »Freie Wissenschaft und freie Lehre« (Leipzig 1908). Auch im »Monismus« habe ich denselben wiederholt berührt. Du Bois-Reymond, welcher dadurch an seiner empfindlichsten Stelle getroffen war, antwortete sehr gereizt in verschiedenen Reden; auch diese sind, wie die meisten seiner vielgelesenen Reden, blendend durch den eleganten französischen Stil und fesselnd durch den Bilderreichtum und die überraschenden Redewendungen. Aber eine wesentliche Förderung der Welterkenntnis liefert ihre oberflächliche Betrachtungsweise nicht. Am wenigsten gilt dies vom Darwinismus, als dessen Anhänger sich der Berliner Physiologe später bedingungsweise bekennt, obgleich er nie das geringste zu seiner Förderung getan hat; seine absprechenden Bemerkungen über das biogenetische Grundgesetz, seine Verwerfung der Stammesgeschichte usw. bekunden hinlänglich, daß derselbe weder mit den empirischen Tatsachen der vergleichenden Morphologie und Entwicklungsgeschichte hinreichend vertraut, noch zu der philosophischen Würdigung ihrer hohen theoretischen Bedeutung befähigt war.
Die eigenartige Naturerscheinung des Bewußtseins ist nicht, wie Du Bois-Reymond und die dualistischen Philosophen behaupten, ein völlig und »durchaus transzendentes Problem«, sondern sie ist, wie ich stets konsequent behauptet habe, ein physiologisches Problem und als solches auf die Erscheinungen im Gebiete der Physik und Chemie zurückzuführen. Ich habe dasselbe später noch bestimmter als ein neurologisches Problem bezeichnet, weil ich der Ansicht bin, daß wahres Bewußtsein (Denken und Vernunft) nur bei jenen höheren Tieren zu finden, welche ein zentralisiertes Nervensystem und Sinnesorgane von[189] einer gewissen Höhe der Ausbildung besitzen. Mit voller Sicherheit läßt sich das für die höheren Wirbeltiere behaupten, und vor allen für die plazentalen Säugetiere, aus deren Stamm das Menschengeschlecht selbst entsprossen ist. Das Bewußtsein der höchst entwickelten Affen, Hunde, Elefanten usw. ist von demjenigen des Menschen nur dem Grade, nicht der Art nach verschieden, und die graduellen Unterschiede im Bewußtsein dieser »vernünftigen« Zottentiere und der niedersten Menschenrassen (Weddas, Australneger, Patagonier) sind geringer als die entsprechenden. Unterschiede zwischen letzteren und den höchst entwickelten Vernunftmenschen (Spinoza, Goethe, Lamarck, Darwin, Kant usw.). Das Bewußtsein ist mithin nur ein Teil der höheren Seelentätigkeit und als solche abhängig von der normalen Struktur des betreffenden Seelenorgans, des Gehirns.
Physiologische Beobachtung und Experiment haben seit dreißig Jahren den sicheren Beweis geführt, daß derjenige engere Bezirk des Säugetiergehirns, den man in diesem Sinne als »Sitz« (besser als »Organ«) des Bewußtseins bezeichnet, ein Teil des Großhirns ist, und zwar jener spät entstandene »graue Mantel« oder die »Großhirnrinde«, welche aus dem konvexen Dorsalteil der primären ersten Hirnblase, des Vorderhirns, sich entwickelt. Aber auch die morphologische Begründung dieser physiologischen Erkenntnis ist den bewunderungswürdigen Fortschritten der mikroskopischen Gehirnanatomie gelungen, welche wir den vervollkommneten Forschungsmethoden der neuesten Zeit verdanken.
Wohl die wichtigste von diesen Erkenntnissen ist die Entdeckung der Denkorgane durch Paul Flechsig in Leipzig; er wies nach, daß in der grauen Rindenzone des Hirnmantels vier Gebiete der zentralen Sinnesorgane oder vier »innere Empfindungssphären« liegen, die Körperfühlsphäre im Scheitellappen, die Riechsphäre im Stirnlappen, die Sehsphäre im Hinterhauptslappen, die Hörsphäre im Schläfenlappen. Zwischen diesen vier »Sinnesherden« liegen die vier[190] großen »Denkherde« oder Assozionszentren, die realen Organe des Geisteslebens; sie sind jene höchsten Werkzeuge der Seelentätigkeit, welche das Denken und das Bewußtsein vermitteln: vorn das Stirnhirn oder das frontale Assozionszentrum, hinten oben das Scheitelhirn oder parietale Assozionszentrum, hinten unten das Prinzipalhirn oder das »große okzipitotemporale Assozionszentrum« (das wichtigste von allen!) und endlich tief unten, im Innern versteckt, das Inselhirn oder »die Reilsche Insel«, das insulare Assozionszentrum. Diese vier Denkherde, durch eigentümliche und höchst verwickelte Nervenstruktur vor den zwischenliegenden Sinnesherden ausgezeichnet, sind die wahren »Denkorgane«, die einzigen Organe unseres Bewußtseins. In neuerer Zeit hat Flechsig nachgewiesen, daß in einem Teile derselben sich beim Menschen noch ganz besonders verwickelte Strukturen finden, welche den übrigen Säugetieren fehlen, und welche die Überlegenheit des menschlichen Bewußtseins erklären.
Die bedeutungsvolle Erkenntnis der modernen Physiologie, daß das Großhirn beim Menschen und bei den höheren Säugetieren das Organ des Geisteslebens und des Bewußtseins ist, wird einleuchtend bestätigt durch die Pathologie, durch die Kenntnis seiner Erkrankungen. Wenn die betreffenden Teile der Großhirnrinde durch Krankheit zerstört werden, erlischt ihre Funktion, und zwar läßt sich hier die Lokalisation der Gehirnfunktionen sogar partiell nachweisen. Wenn einzelne Stellen jenes Gebietes erkranken, verschwindet der Teil des Denkens und Bewußtseins, welcher an die betreffende Stelle gebunden ist. Dasselbe Ergebnis liefert das pathologische Experiment; Zerstörung einer solchen bekannten Stelle (z.B. im Sprachzentrum) vernichtet deren Funktion (die Sprache). Übrigens genügt ja der Hinweis auf die bekanntesten alltäglichen Erscheinungen im Gebiete des Bewußtseins, um die völlige Abhängigkeit desselben von den chemischen Veränderungen der Gehirnsubstanz zu beweisen. Viele Genußmittel (Kaffee,[191] Tee) regen unser Denkvermögen an; andere (Wein, Bier) stimmen unser Gemüt heiter; Moschus und Kampher als »Excitantia« beleben das erlöschende Bewußtsein; Äther und Chloroform betäuben dasselbe usw. Wie wäre das alles möglich, wenn das Bewußtsein ein immaterielles Wesen, unabhängig von jenen anatomisch nachgewiesenen Organen wäre? Und worin besteht das Bewußtsein der »unsterblichen Seele«, wenn sie nicht mehr jene Organe besitzt?
Alle diese und andere bekannte Tatsachen beweisen, daß das Bewußtsein beim Menschen – und genau ebenso bei den nächstverwandten Säugetieren – veränderlich ist, und daß seine Tätigkeit jederzeit abgeändert werden kann durch innere Ursachen (Stoffwechsel, Blutkreislauf) und äußere Ursachen (Verletzung des Gehirns, Reizung usw.). Sehr lehrreich sind auch die merkwürdigen Zustände des alternierenden oder doppelten Bewußtseins, welche an einen »Generationswechsel der Vorstellungen« erinnern; derselbe Mensch zeigt an verschiedenen Tagen unter veränderten Umständen ein ganz verschiedenes Bewußtsein; er weiß heute nicht mehr, was er gestern getan hat; gestern konnte er sagen: Ich bin ich: – heute muß er sagen: Ich bin ein anderer. Solche Intermissionen des Bewußtsein können nicht bloß Tage, sondern Monate und Jahre dauern; sie können selbst bleibend werden.
Wie jedermann weiß, ist das neugeborene Kind noch ganz ohne Bewußtsein, und wie Preyer gezeigt hat, entwickelt sich dasselbe erst spät, nachdem das Kind schon lange zu sprechen angefangen hat; es spricht von sich lange Zeit in der dritten Person. Erst in dem bedeutungsvollen Momente, in welchem es zum ersten Male »ich« sagt, in welchem das »Ichgefühl« klar wird, beginnt sein Selbstbewußtsein zu keimen und damit auch der Gegensatz zur Außenwelt. Die schnellen und tiefgreifenden Fortschritte der Erkenntnis, welche das Kind durch den Unterricht der Eltern und der Schule in den ersten zehn[192] Lebensjahren macht und später langsamer im zweiten Dezennium bis zur vollendeten geistigen Reife, sind eng verknüpft mit unzähligen Fortschritten im Wachstum und in der Entwicklung des Bewußtseins und mit derjenigen seines Organs, des Gehirns. Aber auch wenn der Schüler das »Zeugnis der Reife« erlangt hat, so ist in Wahrheit sein Bewußtsein noch lange nicht reif, und jetzt beginnt erst recht, in vielseitiger Berührung mit der Außenwelt, das »Weltbewußtsein« sich zu entwickeln. Jetzt erst reift im dritten Dezennium jene vollständige Ausbildung des vernünftigen Denkens und damit des Bewußtseins, welche dann bei normaler Entwicklung in den folgenden drei Jahrzehnten ihre reifen Früchte trägt. Gewöhnlich mit Beginn des siebenten Dezenniums (bald früher, bald später) beginnt dann jene langsame und allmähliche Rückbildung der höheren Geistestätigkeit, welche das Greisenalter charakterisiert. Gedächtnis, Rezeptionsfähigkeit und Interesse an speziellen Objekten nehmen mehr und mehr ab; dagegen bleibt die Produktionsfähigkeit, das gereifte Bewußtsein und das philosophische Interesse an allgemeinen Beziehungen oft noch lange erhalten. Die individuelle Entwicklung des Bewußtseins in früher Jugend beweist die allgemeine Geltung des biogenetischen Grundgesetzes; aber auch in späteren Jahren ist dieselbe noch vielfach erkennbar. Jedenfalls überzeugt uns die Ontogenese des Bewußtseins aufs klarste von der Tatsache, daß dasselbe kein »immaterielles Wesen«, sondern eine physiologische Funktion des Gehirns ist, und daß es keine Ausnahme vom Substanzgesetze bildet.
Die Tatsache, daß das Bewußtsein, gleich allen anderen Seelentätigkeiten, an die normale Ausbildung bestimmter Organe gebunden ist, und daß sich dasselbe beim Kinde, im Zusammenhang mit diesen Gehirnorganen, allmählich entwickelt, läßt schon von vornherein schließen, daß dasselbe auch innerhalb der Tierreihe sich stufenweise historisch entwickelt hat. So sicher wir aber auch eine solche natürliche[193] Stammesgeschichte des Bewußtseins im Prinzip behaupten müssen, so wenig sind wir doch leider imstande, tiefer in dieselbe einzudringen und spezielle Hypothesen über dieselbe aufzustellen. Indessen liefert uns die Paläontologie doch einige interessante Anhaltspunkte, die nicht ohne Bedeutung sind. Auffallend ist z.B. die bedeutende quantitative und qualitative Entwicklung des Gehirns der plazentalen Säugetiere innerhalb der Tertiärzeit. An vielen fossilen Schädeln derselben ist die innere Schädelhöhle genau bekannt und liefert uns sichere Aufschlüsse über die Größe und teilweise auch über den Bau des davon umschlossenen Gehirns. Da zeigt sich denn innerhalb einer und derselben Legion (z.B. der Huftiere, der Raubtiere, der Herrentiere) ein gewaltiger Fortschritt von den älteren eozänen und oligozänen zu den jüngeren miozänen und pliozänen Vertretern desselben Stammes; bei den letzteren ist das Gehirn (im Verhältnis zur Körpergröße) 6-8 mal so groß als bei den ersteren.
Auch jene höchste Entwicklungsstufe des Bewußtseins, welche nur der Kulturmensch erreicht, hat sich erst allmählich aus niederen Zuständen entwickelt, wie wir sie noch heute bei primitiven Naturvölkern antreffen. Das zeigt uns schon die Vergleichung ihrer Sprachen, welche mit derjenigen der Begriffe eng verknüpft ist. Je höher sich beim denkenden Kulturmenschen die Begriffsbildung entwickelt hat, je mehr er fähig wird, aus zahlreichen verschiedenen Einzelheiten die gemeinsamen Merkmale zusammenzufassen und unter allgemeine Begriffe zu bringen, desto gedankenreicher wird seine Sprache, desto klarer und tiefer sein Bewußtsein.[194]
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