Dreizehntes Kapitel

Entwicklungsgeschichte der Welt

[240] Monistische Studien über die ewige Entwicklung des Universum.

Schöpfung, Anfang und Ende der Welt.

Kreatistische und genetische Kosmogenie.


Unter allen Welträtseln das größte, umfassendste und schwerste ist dasjenige von der Entstehung und Entwicklung der Welt, kurz gewöhnlich die »Schöpfungsfrage« genannt. Auch zur Lösung dieses schwierigsten Welträtsels hat das neunzehnte Jahrhundert mehr beigetragen als alle früheren; ja sie ist ihm sogar bis zu einem gewissen Grade gelungen. Wenigstens sind wir zu der klaren Einsicht gelangt, daß alle verschiedenen einzelnen Schöpfungsfragen untrennbar verknüpft sind, daß sie alle nur ein einziges, allumfassendes »kosmisches Universalproblem« bilden, und den Schlüssel zur Lösung dieser »Weltfrage« gibt uns das eine Zauberwort: »Entwicklung!« Die großen Fragen von der Schöpfung des Menschen, von der Schöpfung der Tiere und Pflanzen, von der Schöpfung der Erde und der Sonne usw., sie alle sind nur Teile jener Universalfrage: Wie ist die ganze Welt entstanden? Ist sie auf übernatürlichem Wege »erschaffen« oder hat sie sich auf natürlichem Wege »entwickelt«? Welcher Art sind die Ursachen und die Wege dieser Entwicklung? Gelingt es uns, eine sichere Antwort auf diese Fragen für eines jener Teilprobleme zu finden, so haben wir nach unserer einheitlichen Naturauffassung damit[240] zugleich ein erhellendes Licht auf deren Beantwortung für das ganze Weltproblem geworfen.

Die herrschende Ansicht über die Entstehung der Welt war in früheren Jahrhunderten fast überall, wo denkende Menschen wohnten, der Glaube an die Schöpfung derselben. In Tausenden von interessanten, mehr oder weniger fabelhaften Sagen und Dichtungen, Kosmogonien und Kreationsmythen, hat dieser Schöpfungsglaube seinen mannigfaltigen Ausdruck gefunden. Frei davon blieben nur wenige große Philosophen und besonders jene bewunderungswürdigen freien Denker des klassischen Altertums, die zuerst den Gedanken der natürlichen Entwicklung erfaßten. Im Gegensatz zu diesem letzteren trugen alle jene Schöpfungsmythen den Charakter des übernatürlichen, Wunderbaren oder Transzendenten. Unfähig, das Wesen der Welt selbst zu erkennen und ihre Entstehung durch natürliche Ursachen zu erklären, mußte die unentwickelte Vernunft selbstverständlich zum Wunder greifen. In den meisten Schöpfungssagen verknüpfte sich mit dem Wunder der Anthropismus. Wie der Mensch mit Absicht und durch Kunst seine Werke schafft, so sollte der bildende »Gott« planmäßig die Welt erschaffen haben; die Vorstellung dieses Schöpfers war meistens ganz anthropomorph, ein offenkundiger »anthropistischer Kreatismus«. Der »allmächtige Schöpfer Himmels und der Erden«, wie er im ersten Buch Moses und in unserem heute noch gültigen Katechismus schafft, ist ebenso ganz menschlich gedacht wie der moderne Schöpfer von Agassiz und Reinke oder der intelligente »Maschineningenieur« von anderen Biologen der Gegenwart.

Bei tieferem Eingehen in den Wunderbegriff der Kreation können wir als zwei wesentlich verschiedene Akte die totale Schöpfung des Weltalls und die partielle Schöpfung der einzelnen Dinge unterscheiden, entsprechend dem Begriffe Spinozas von der Substanz (dem Universum) und den Akzidenzen (oder Modi, den einzelnen »Erscheinungsformen der Substanz«).[241] Diese Unterscheidung ist prinzipiell wichtig; denn es hat viele und angesehene Philosophen gegeben (und es gibt noch heute solche), welche die erstere annehmen, die letztere dagegen verwerfen.

Nach dieser Schöpfungslehre hat »Gott die Welt aus dem Nichts geschaffen«. Man stellt sich vor, daß der »ewige Gott« (als vernünftiges, aber immaterielles Wesen!) für sich allein von Ewigkeit her ohne Welt existierte, bis er dann einmal auf den Gedanken kam, »die Weit zu schaffen«. Die einen Anhänger dieses Glaubens beschränken die Schöpfungstätigkeit Gottes aufs Äußerste, auf einen einzigen Akt; sie nehmen an, daß der extramundane Gott (dessen übrige Tätigkeit rätselhaft bleibt!) in einem Augenblick die Substanz erschaffen, ihr die Fähigkeit zur weitestgehenden Entwicklung beigelegt und sich dann nie weiter um sie gekümmert habe. Diese weit verbreitete Ansicht ist namentlich im englischen Deismus vielfach ausgebildet worden; sie nähert sich unserer monistischen Entwicklungslehre bis zur Berührung und gibt sie nur in dem einen Momente (der Ewigkeit!) preis, in welchem Gott auf den Schöpfungsgedanken kam. Andere Anhänger des kosmologischen Kreatismus nehmen dagegen an, daß »Gott der Herr« die Substanz nicht bloß einmal erschaffen habe, sondern als bewußter »Erhalter und Regierer der Welt« in deren Geschichte fortwirke. Viele Variationen dieses Glaubens nähern sich bald dem Pantheismus, bald dem konsequenten Theismus. Alle diese und ähnliche Formen des Schöpfungsglaubens sind unvereinbar mit dem Gesetz von der Erhaltung der Kraft und des Stoffes; dieses kennt keinen »Anfang der Welt«.

Besonders interessant ist, daß E. Du Bois-Reymond in seiner letzten Rede (über Neovitalismus, 1894) sich zu diesem kosmologischen Kreatismus (als Lösung des größten Welträtsels!) bekannt hat; er sagt: »Der göttlichen Allmacht würdig allein ist, sich zu denken, daß sie vor undenklicher Zeit durch einen Schöpfungsakt die ganze Materie so geschaffen habe,[242] daß nach der Materie mitgegebenen unverbrüchlichen Gesetzen da, wo die Bedingungen für Entstehen und Fortbestehen von Lebewesen vorhanden waren, beispielsweise hier auf Erden, einfachste Lebewesen entstanden, aus denen ohne weitere Nachhilfe die heutige Natur von einer Urbazille bis zum Palmenwalde, von einem Urmikrokokkus bis zu Suleimas holden Gebärden, bis zu Newtons Gehirn ward. So kämen wir mit einem Schöpfungstage (!) aus und ließen ohne alten und neuen Vitalismus die organische Natur rein mechanisch entstehen.« Hier wie bei der Bewußtseinsfrage in der Ignorabimusrede offenbart Du Bois-Reymond in auffallender Weise die geringe Tiefe und Folgerichtigkeit seines monistischen Denkens.

Nach dieser individuellen, noch jetzt herrschenden Schöpfungslehre hat Gott der Herr nicht nur die Welt im ganzen (»aus Nichts!«) geschaffen, sondern auch alle einzelnen Dinge in derselben. In der christlichen Kulturwelt besitzt noch heute die uralte semitische, aus dem ersten Buch Moses herübergenommene Schöpfungssage die weiteste Geltung; selbst unter den modernen Naturforschern findet sie noch hie und da gläubige Anhänger (z.B. Reinke). Ich habe meine Auffassung derselben 1868 im ersten Kapitel der »Natürlichen Schöpfungsgeschichte« eingehend dargelegt. Als interessante Modifikationen dieses ontologischen Kreatismus dürften folgende Theorien zu unterscheiden sein: I. Dualistische Kreation: Gott hat sich auf zwei Schöpfungsakte beschränkt; zuerst schuf er die anorganische Welt, die tote Substanz, für die allein das Gesetz der Energie gilt, blind und ziellos wirkend im Mechanismus der Weltkörper und der Gebirgsbildung; später erwarb Gott Intelligenz und teilte diese den Dominanten mit, den zielstrebigen, intelligenten Kräften, welche die Entwicklung der Organismen bewirken und leiten (Reinke). II. Trialistische Kreation: Gott hat die Welt in drei Hauptakten geschaffen: A. Schöpfung des Himmels (d.h. der außerirdischen Welt);[243] B. Schöpfung der Erde (als Mittelpunkt der Welt) und ihrer Organismen; C. Schöpfung des Menschen (als Ebenbild Gottes): dieses Dogma ist noch heute weit verbreitet unter christlichen Theologen und anderen »Gebildeten«; es wird in vielen Schulen als Wahrheit gelehrt. III. Hexamerale Kreation: die Schöpfung in sechs Tagen (nach Moses). Obgleich nur wenige Gebildete heute noch wirklich an diesen mosaischen Mythus glauben, wird er dennoch unseren Kindern schon in der frühesten Jugend mit dem Bibelunterricht fest eingeprägt. Die vielfachen, namentlich in England gemachten Versuche, denselben mit der modernen Entwicklungslehre in Einklang zu bringen, sind völlig fehlgeschlagen. Für die Naturwissenschaft gewann derselbe dadurch große Bedeutung, daß Linné bei Begründung seines Natursystems (1735) ihn annahm und zur Begriffsbestimmung der organischen (von ihm für beständig gehaltenen) Spezies benutzte: »Es gibt so viele verschiedene Arten von Tieren und Pflanzen, als im Anfang verschiedene Formen von dem unendlichen Wesen erschaffen worden sind.« Dieses Dogma wurde ziemlich allgemein bis auf Darwin (1859) festgehalten, obgleich Lamarck schon 1809 seine Unhaltbarkeit dargelegt hatte. IV. Periodische Kreation: im Anfang jeder Periode der Erdgeschichte wurde die ganze Tier- und Pflanzenbevölkerung neu geschaffen und am Ende derselben durch eine allgemeine Katastrophe vernichtet; es gibt so viele Generalschöpfungsakte, als getrennte geologische Perioden aufeinander folgten (die Katastrophentheorie von Cuvier, 1818, und von Louis Agassiz, 1838). Die Paläontologie, welche in ihren unvollkommenen Anfängen (in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts) diese Lehre von den wiederholten Neuschöpfungen der organischen Welt zu stützen schien, hat dieselbe später vollständig widerlegt. V. Individuelle Kreation: jeder einzelne Mensch – ebenso wie jedes einzelne Tier und jedes Pflanzenindividuum – ist nicht durch einen natürlichen Fortpflan zungsakt[244] entstanden, sondern durch die Gnade Gottes geschaffen (»der alle Dinge kennt und die Haare auf unserem Haupte gezählt hat«). Man liest diese christliche Schöpfungsansicht noch heute oft in den Zeitungen, besonders bei Geburtsanzeigen (»Gestern schenkte uns der gnädige Gott einen gesunden Knaben« usw.). Auch die individuellen Talente und Vorzüge unserer Kinder werden oft als »besondere Gaben Gottes« dankbar anerkannt (die erblichen Fehler gewöhnlich nicht!).

Die Unhaltbarkeit der Schöpfungssagen und des damit verknüpften Wunderglaubens mußte sich schon frühzeitig denkenden Menschen aufdrängen; wir finden daher schon vor mehr als zweitausend Jahren zahlreiche Versuche, dieselben durch eine vernünftige Theorie zu ersetzen und die Entstehung der Welt mittelst natürlicher Ursachen zu erklären. Allen voran stehen hierin wieder die großen Denker der jonischen Naturphilosophie, ferner Demokritos, Heraklitos, Empedokles, Aristoteles, Lukretius und andere Philosophen des Altertums. Die ersten unvollkommenen Versuche, welche sie unternahmen, überraschen uns zum Teil durchstrahlende Lichtblicke des Geistes, die als Vorläufer moderner Ideen erscheinen. Indessen fehlte dem klassischen Altertum jener sichere Boden der naturphilosophischen Spekulation, der erst durch unzählige Beobachtungen und Versuche der Neuzeit gewonnen wurde. Während des Mittelalters – und besonders während der Gewaltherrschaft des Papismus – ruhte die wissenschaftliche Forschung auf diesem Gebiete ganz. Die Tortur und die Scheiterhaufen der Inquisition sorgten dafür, daß der unbedingte Glaube an die hebräische Mythologie des Moses als definitive Antwort auf alle Schöpfungsfragen galt. Selbst diejenigen Erscheinungen, die unmittelbar zur Beobachtung der Entwicklungstatsachen aufforderten, die Keimesgeschichte der Tiere und Pflanzen, die Embryologie des Menschen, blieben unbeachtet oder erregten nur hier und da das Interesse einzelner wißbegieriger[245] Beobachter; aber ihre Entdeckungen wurden ignoriert und vergessen. Außerdem wurde der wahren Erkenntnis der natürlichen Entwicklung ihr Weg von vornherein durch die herrschende Präformationslehre versperrt, durch das Dogma, daß die charakteristische Form und Struktur jeder Tier- und Pflanzenart schon im Keime vorgebildet sei.

Die Wissenschaft, die wir heute Entwicklungslehre (im weitesten Sinne) nennen, ist sowohl im ganzen als in ihren einzelnen Teilen ein Kind des neunzehnten Jahrhunderts; sie gehört zu dessen wichtigsten und glänzendsten Erzeugnissen. Tatsächlich ist dieser Begriff, der noch im achtzehnten Jahrhundert fast unbekannt war, heute bereits ein fester Grundstein unserer ganzen Weltanschauung geworden. Ich habe die Grundzüge derselben in früheren Schriften ausführlich behandelt. Ich beschränke mich daher hier auf eine kurze Übersicht der wichtigsten Fortschritte, welche die Entwicklungslehre im Laufe des neunzehnten Jahrhunderts gemacht hat; sie zerfällt nach ihren Objekten in vier Hauptteile: sie betrifft die natürliche Entstehung 1. des Kosmos, 2. der Erde, 3. der irdischen Organismen und 4. des Menschen.

Den ersten Versuch, die Verfassung und den mechanischen Ursprung des ganzen Weltgebäudes nach »Newtonschen Grundsätzen« – d.h. durch mathematische und physikalische Gesetze – in einfachster Weise zu erklären, unternahm Immanuel Kant in seinem berühmten Jugendwerke, der »Allgemeinen Naturgeschichte und Theorie des Himmels« (1755). Leider blieb dieses großartige und kühne Werk 90 Jahre hindurch fast unbekannt; es wurde erst 1845 durch Alexander Humboldt wieder ausgegraben, im ersten Bande seines »Kosmos«. Inzwischen war aber der große französische Mathematiker Pierre Laplace selbständig auf ähnliche Theorien wie Kant gekommen und führte dieselben mit mathematischer Begründung weiter aus in seiner »Exposition du systeme du monde« (1796). Sein Hauptwerk[246] »Mécanique céleste« erschien im Jahre 1799. Die übereinstimmenden Grundzüge der Kosmogenie von Kant und Laplace beruhen bekanntlich auf einer mechanischen Erklärung der Planetenbewegungen und der daraus abgeleiteten Annahme, daß alle Weltkörper ursprünglich aus rotierenden Nebelbällen durch Verdichtung entstanden sind. Diese »Nebularhypothese« oder »kosmologische Gastheorie« ist zwar später vielfach verbessert und ergänzt worden; sie besteht aber noch heute unerschüttert als der beste von allen Versuchen, die Entstehung des Weltgebäudes einheitlich und mechanisch zu erklären. In neuester Zeit hat dieselbe eine bedeutungsvolle Ergänzung und zugleich Verstärkung durch die Annahme gewonnen, daß dieser kosmogenetische Prozeß nicht nur einmal stattgefunden, sondern sich periodisch wiederholt hat. Während in gewissen Teilen des unendlichen Weltraumes aus rotierenden Nebelbällen neue Weltkörper entstehen und sich entwickeln, werden in anderen Teilen umgekehrt alte, erkaltete und abgestorbene Weltkörper durch Zusammenstoß wieder zerstäubt und in diffuse Nebelmassen aufgelöst.

Fast alle älteren und neueren Kosmogenien und so auch die meisten, die sich an Kant und Laplace anschlössen, gingen von der herrschenden Ansicht aus, daß die Welt einen Anfang gehabt habe. So hätte sich »im Anfang« nach einer vielverbreiteten Form der »Nebularhypothese« ursprünglich ein ungeheurer Nebelball aus äußerst dünner und leichter Materie gebildet, und in einem bestimmten Zeitpunkte (»vor undenklich langer Zeit«) habe in diesem eine Rotationsbewegung angefangen. Ist der »erste Anfang« dieser kosmogenen Bewegung erst einmal gegeben, so lassen sich dann nach jenen mechanischen Prinzipien die weiteren Vorgänge in der Bildung der Weltkörper, der Sonderung der Planetensysteme usw. sicher ableiten und mathematisch begründen. Dieser erste »Ursprung der Bewegung« ist das zweite »Welträtsel« von Du Bois-Reymond;[247] er erklärt dasselbe für transzendent. Auch viele andere Naturforscher und Philosophen kommen um diese Schwierigkeit nicht herum und resignieren mit dem Geständnis, daß man hier einen ersten »übernatürlichen Anstoß«, also ein wirkliches »Wunder«, notwendig annehmen müsse.

Nach unserer Ansicht wird dieses »zweite Welträtsel« durch die Annahme gelöst, daß die Bewegung ebenso eine immanente und ursprüngliche Eigenschaft der Substanz ist wie die Empfindung. Die Berechtigung zu dieser monistischen Annahme finden wir erstens im Substanzgesetz und zweitens in den großen Fortschritten, welche die Astronomie und Physik in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts gemacht haben. Durch die Spektralanalyse von Bunsen und Kirchhoff (1860) haben wir nicht nur erfahren, daß die Millionen Weltkörper, welche den unendlichen Weltraum erfüllen, aus denselben Materien bestehen wie unsere Sonne und Erde, sondern auch, daß sie sich in verschiedenen Zuständen der Entwicklung befinden; wir haben sogar mit ihrer Hilfe Kenntnisse über die Bewegungen und Entfernungen der Fixsterne gewonnen, welche durch das Fernrohr allein nicht erkannt werden konnten. Ferner ist das Teleskop selbst sehr bedeutend verbessert worden und hat uns mit Hilfe der Photographie eine Fülle von astronomischen Entdeckungen geschenkt, welche im Beginne des neunzehnten Jahrhunderts noch nicht geahnt werden konnten. Insbesondere hat die bessere Kenntnis der Kometen und Sternschnuppen, der Sternhaufen und Nebelflecke, uns die große Bedeutung der kleinen Weltkörper kennen gelehrt, welche zu Milliarden zwischen den größeren Sternen im Weltraum unregelmäßig verteilt sind.

Wir wissen jetzt auch, daß die Bahnen der Millionen von Weltkörpern veränderlich und zum Teil unregelmäßig sind, während man früher die Planetensysteme als beständig betrachtete und die rotierenden Bälle in ewiger Gleichmäßigkeit ihre[248] Kreise beschreiben ließ. Wichtige Aufschlüsse verdankt die Astrophysik aber auch den gewaltigen Fortschritten in anderen Gebieten der Physik, vor allem in der Optik und Elektrik, sowie in der dadurch geförderten Äthertheorie. Endlich und vor allem erweist sich auch hier wieder als größter Fortschritt unserer Naturerkenntnis das universale Substanzgesetz. Wir wissen jetzt, das das selbe ebenso überall in den fernsten Welträumen unbedingte Geltung hat wie in unserem Planetensystem, ebenso in dem kleinsten Teilchen unserer Erde wie in der kleinsten Zelle unseres menschlichen Körpers. Wir sind aber auch zu der wichtigen Annahme berechtigt und logisch gezwungen, daß die Erhaltung der Materie und Energie zu allen Zeiten ebenso allgemein bestanden hat, wie sie heute ohne Ausnahme besteht. In alle Ewigkeit war, ist und bleibt das unendliche Universum dem Substanzgesetz unterworfen.

Aus allen diesen gewaltigen Fortschritten der Astronomie und Physik, die sich gegenseitig erläutern und ergänzen, ergibt sich eine Reihe von überaus wichtigen Schlüssen über die Zusammensetzung und Entwicklung des Kosmos, über die Beharrung und Umbildung der Substanz. Wir fassen dieselben kurz in folgenden Thesen zusammen: I. Der Weltraum ist unendlich groß und unbegrenzt; er ist nirgends leer, sondern allenthalben mit Substanz erfüllt. II. Die Weltzeit ist ebenfalls unendlich und unbegrenzt; sie hat keinen Anfang und kein Ende, sie ist Ewigkeit. III. Die Substanz befindet sich überall und jederzeit in ununterbrochener Bewegung und Veränderung; nirgends herrscht vollkommene Ruhe und Starre; dabei bleibt aber die unendliche Quantität der Materie ebenso unverändert wie diejenige der ewig wechselnden Energie. IV. Die Universalbewegung der Substanz im Weltraum ist ein ewiger Kreisverlauf mit periodisch sich wiederholenden Entwicklungszuständen. V. Diese Phasen bestehen in einem periodischen Wechsel der Aggregatzustände, wobei zunächst die primäre Sonderung von[249] Masse und Äther eintritt (die Ergonomie von ponderabler und imponderabler Materie). VI. Diese Sonderung beruht auf einer fortschreitenden Verdichtung der Materie, der Bildung von unzähligen kleinsten Verdichtungszentren, wobei die immanenten Ureigenschaften der Substanz die bewirkenden Ursachen sind: Fühlung und Strebung. VII. Während in einem Teile des Weltraums durch diesen pyknotischen Prozeß zunächst kleine, weiterhin größere Weltkörper entstehen und der Äther zwischen ihnen in höhere Spannung tritt, erfolgt gleichzeitig in dem anderen Teile der entgegengesetzte Prozeß, die Zerstörung von Weltkörpern, welche aufeinanderstoßen. VIII. Die ungeheueren Wärmequantitäten, welche durch diese mechanischen Prozesse bei den Zusammenstößen der rotierenden Weltkörper erzeugt werden, stellen die neuen lebendigen Kräfte dar, welche die Bewegung der dabei gebildeten kosmischen Staubmassen und die Neubildung rotierender Bälle bewirken: das ewige Spiel beginnt wieder von neuem. Auch unsere Mutter Erde, die vor Millionen von Jahrtausenden aus einem Teile des rotierenden Sonnensystems entstanden ist, wird nach Verfluß weiterer Millionen erstarren und, nachdem ihre Bahn immer kleiner geworden, in die Sonne stürzen.

Besonders wichtig für die klare Einsicht in den universalen kosmischen Entwicklungsprozeß scheinen mir diese modernen Vorstellungen über periodisch wechselnden Untergang und Neubildung der Weltkörper, die wir den gewaltigen neueren Fortschritten der Physik und Astronomie verdanken, in Verbindung mit dem Substanzgesetz. Unsere Mutter »Erde« schrumpft dabei auf den Wert eines winzigen »Sonnenstäubchens« zusammen, wie deren ungezählte Millionen im unendlichen Weltraum umherjagen. Unser eigenes »Menschenwesen«, welches in seinem anthropistischen Größenwahn sich als »Ebenbild Gottes« verherrlicht, sinkt zur Bedeutung eines plazentalen Säugetiers hinab, welches nicht mehr Wert für das ganze Universum besitzt als die Ameise und[250] die Eintagsfliege, als das mikroskopische Infusorium und der winzigste Bazillus. Nur die Macht der Tradition und des Aberglaubens hält jene Einbildung noch aufrecht. Auch wir Menschen sind nur vorübergehende Entwicklungszustände der ewigen Substanz, individuelle Erscheinungsformen der Materie und Energie, deren Richtigkeit wir begreifen gegenüber dem unendlichen Raum und der ewigen Zeit.

Seitdem Kant die Begriffe von Raum und Zeit als bloße »Formen der Anschauung« erklärt hat – den Raum als Form der äußeren, die Zeit als Form der inneren Anschauung - , hat sich über diese wichtigen Probleme der Erkenntnis ein gewaltiger Streit erhoben, der auch heute noch fortdauert. Bei einem großen Teile der modernen Metaphysiker hat sich die Ansicht befestigt, daß dieser »kritischen Tat« als Ausgangspunkt einer »rein idealistischen Erkenntnistheorie« die größte Bedeutung beizulegen sei, und daß damit die natürliche Ansicht des gesunden Menschenverstandes von der Realität des Raumes und der Zeit widerlegt sei. Diese einseitige und ultraidealistische Auffassung jener beiden Grundbegriffe ist die Quelle der größten Irrtümer geworden; sie übersieht, daß Kant mit jenem Satze nur die eine Seite des Problems, die subjektive, streifte, daneben aber die andere, die objektive, als gleichberechtigt anerkannte; er sagte: »Raum und Zeit haben empirische Realität, aber transzendentale Idealität.« Mit diesem Satze Kants kann sich unser moderner Monismus wohl einverstanden erklären, nicht aber mit jener einseitigen Geltendmachung der subjektiven Seite des Problems; denn diese führt in ihrer Konsequenz zu jenem absurden Idealismus, der in Berkeleys Satze gipfelt: »Körper sind nur Vorstellungen; ihr Dasein besteht im Wahrgenommenwerden«. Dieser Satz sollte heißen: »Körper sind für mein persönliches Bewußtsein nur Vorstellungen; ihr Dasein ist ebenso real wie dasjenige meiner Denkorgane, nämlich der Ganglienzellen des Großhirns,[251] welche die Eindrücke der Körper auf meine Sinnesorgane aufnehmen und durch Assozion derselben jene Vorstellung bilden.« Ebensogut, wie ich die Realität von »Raum und Zeit« bezweifle, oder gar leugne, kann ich auch diejenige meines eigenen Bewußtseins leugnen; im Fieberdelirium, in Halluzinationen, im Traum, im Doppelbewußtsein halte ich Vorstellungen für wahr, welche nicht real, sondern »Einbildungen« sind; ich halte sogar meine eigene Person für eine andere. Das berühmte »Cogito ergo sum« gilt also hier nicht mehr. Dagegen ist die Realität von Raum und Zeit jetzt endgültig bewiesen durch die Erweiterung unserer Weltanschauung, welche wir dem Substanzgesetz und der monistischen Kosmogenie verdanken. Nachdem wir die unhaltbare Vorstellung vom »leeren Raum« glücklich abgestreift haben, bleibt uns als das unendliche, »raumerfüllende Medium« die Materie, und zwar in ihren beiden Formen: Äther und Masse. Ebenso betrachten wir anderseits als das »zeiterfüllende Geschehen« die ewige Bewegung oder genetische Energie, welche sich in der ununterbrochenen Entwicklung der Substanz äußert, in dem »Perpetuum mobile« des Universum.

Da jeder bewegte Körper seine Bewegung so lange fortsetzt, als ihn nicht äußere Umstände daran hindern, kam der Mensch schon vor Jahrtausenden auf den Gedanken, Apparate zu bauen, die sich, einmal in Bewegung gesetzt, immerfort in derselben Weise weiter bewegen. Man übersah dabei, daß jede Bewegung auf äußere Hindernisse stößt und allmählich aufhört, wenn nicht ein neuer Anstoß von außen erfolgt, wenn nicht eine neue Kraft zugeführt wird, die jene Hindernisse überwindet. So würde z.B. ein schwingender Pendel in Ewigkeit mit derselben. Geschwindigkeit sich hin und her bewegen, wenn nicht der Widerstand der Luft und die Reibung im Aufhängungspunkte die mechanische lebendige Kraft seiner Bewegung allmählich aufhöben und in. Wärme verwandelten. Wir müssen ihm durch einen neuen Anstoß (oder bei der Pendeluhr[252] durch Aufziehen des Gewichtes) neue mechanische Kraft zuführen. Daher ist die Konstruktion einer Maschine, welche ohne äußere Hilfe einen Arbeitsüberschuß erzeugt, durch den sie sich selbst immerfort im Gang erhält, unmöglich. Alle Versuche, ein solches Perpetuum mobile zu bauen, mußten fehlschlagen; die Erkenntnis des Substanzgesetzes bewies sodann auch theoretisch die Unmöglichkeit desselben.

Anders verhält es sich aber, wenn wir den Kosmos als Ganzes ins Auge fassen, das unendliche Weltall, welches in ewiger Bewegung begriffen ist. Die unendliche Materie, welche objektiv denselben erfüllt, nennen wir in unserer subjektiven Vorstellung »Raum«; die ewige Bewegung derselben, die objektiv eine periodische, in sich selbst zurückkehrende Entwicklung darstellt, nennen wir subjektiv »Zeit«. Diese beiden »Formen der Anschauung« überzeugen uns von der Unendlichkeit und Ewigkeit des Weltalls. Damit ist aber zugleich gesagt, daß das ganze Universum selbst ein allumfassendes Perpetuum mobile ist. Diese unendliche und ewige »Maschine des Weltalls« erhält sich selbst in ewiger und ununterbrochener Bewegung, weil jedes Hindernis durch ein »Äquivalent der Energie« ausgeglichen wird, weil die unendlich große Summe der aktuellen und potentiellen Energie ewig dieselbe bleibt. Das Gesetz von der Erhaltung der Kraft beweist also, daß die Vorstellung des Perpetuum mobile für den ganzen Kosmos ebenso wahr und fundamental bedeutend ist, wie sie für die isolierte Aktion eines Teiles desselben unmöglich ist. Dadurch wird auch die wichtige Lehre von der Entropie erschüttert.

Der scharfsinnige Begründer der mechanischen Wärmetheorie (1850), Clausius, faßte den wichtigsten Inhalt dieser bedeutungsvollen Lehre in zwei Hauptsätze zusammen. Der erste Hauptsatz lautet: »Die Energie des Weltalls ist konstant«; er bildet die eine Hälfte unseres Substanzgesetzes, das »Energieprinzip«. Der zweite Hauptsatz lehrt dagegen: »Die[253] Entropie des Weltalls strebt einem Maximum zu.« Der zweite Hauptsatz ist nach unserer Ansicht ebenso irrig, wie der erste richtig ist. Nach der Ansicht von Clausius zerfällt die Gesamtenergie des Weltalls in zwei Teile, von denen der eine (als Wärme von höherer Temperatur, als mechanische, elektrische, chemische Energie usw.) noch teilweise in Arbeit umsetzbar ist, der andere dagegen nicht; diese letztere, die bereits in Wärme verwandelte und in kälteren Körpern angesammelte Energie, ist für weitere Arbeitsleistung unwiederbringlich verloren. Diesen unverbrauchten Energieteil, der nicht mehr in mechanische Arbeit umgesetzt werden kann, nennt Clausius Entropie (d.h. die nach innen gewendete Kraft); er wächst beständig auf Kosten des ersten Teiles. Da nun tagtäglich immer mehr mechanische Energie des Weltalls in Wärme übergeht und diese nicht in die erstere zurückverwandelt werden kann, muß die gesamte (unendliche!) Quantität der Wärme und Energie immer mehr zerstreut und herabgesetzt werden. Alle Temperaturunterschiede müßten zuletzt verschwinden und die völlig gebundene Wärme gleichmäßig in einem einzigen trägen Klumpen von starrer Materie verbreitet sein; alles organische Leben und alle organische Bewegung würde aufgehört haben, wenn dieses Maximum der Entropie erreicht wäre; das wahre »Ende der Welt« wäre da. (Vergl. Felix Auerbach, Die Weltherrin und ihr Schatten, 1902.)

Wenn diese Lehre von der Entropie richtig wäre, so müßte dem angenommenen »Ende der Welt« auch ein ursprünglicher »Anfang« derselben entsprechen, ein Minimum der Entropie, in welchem die Temperaturdifferenzen der gesonderten Weltteile die größten waren. Beide Vorstellungen sind nach unserer monistischen und streng konsequenten Auffassung des ewigen kosmogenetischen Prozesses gleich unhaltbar; beide widersprechen dem Substanzgesetz. Es gibt einen Anfang der Welt ebensowenig als ein Ende derselben. Wie das Universum unendlich ist,[254] so bleibt es auch ewig in Bewegung; ununterbrochen findet eine Verwandlung der lebendigen Kraft in Spannkraft statt und umgekehrt, und die Summe dieser aktuellen und potentiellen Energie bleibt dieselbe.

Die Verteidiger der Entropie behaupten dieselbe dagegen mit Recht, sobald sie nur einzelne Prozesse ins Auge fassen, bei welchem unter gewissen Bedingungen die gebundene Wärme nicht in Arbeit zurückverwandelt werden kann. So kann z.B. bei der Dampfmaschine die Wärme nur dann in mechanische Arbeit umgewandelt werden, wenn sie aus einem wärmeren Körper (Dampf) in einen kälteren (Kühlwasser) übergeht, aber nicht umgekehrt. Im großen Ganzen des Weltalls herrschen aber ganz andere Verhältnisse; hier sind Bedingungen gegeben, in denen auch die umgekehrte Verwandlung der latenten Wärme in mechanische Arbeit stattfinden kann. So werden z.B. beim Zusammenstoße von zwei Weltkörpern, die mit ungeheuerer Geschwindigkeit aufeinander treffen, kolossale Wärmemengen frei, während die zerstäubten Massen in den Weltraum hinausgeschleudert und zerstreut werden. Das ewige Spiel der rotierenden Massen mit Verdichtung der Teile, Ballung neuer kleiner Meteoriten, Vereinigung derselben zu größeren usw. beginnt von neuem.

Die Entwicklungsgeschichte der Erde, auf die wir jetzt noch einen flüchtigen Blick werfen, bildet nur einen winzig kleinen Teil von derjenigen des Kosmos. Sie ist zwar auch gleich dieser seit mehreren Jahrtausenden Gegenstand der philosophischen Spekulation und noch mehr der mythologischen Dichtung gewesen; aber ihre wirklich wissenschaftliche Erkenntnis ist viel jünger und stammt zum weitaus größten Teile erst aus dem neunzehnten Jahrhundert. Im Prinzip war die Natur der Erde, als eines Planeten, der um die Sonne kreist, schon durch das Weltsystem des Kopernikus (1543) bestimmt; durch Galilei, Keppler und andere große Astronomen war ihr Abstand von der Sonne, ihr Bewegungsgesetz[255] usw. mathematisch festgestellt. Auch war bereits durch die Kosmogenie von Kant und Laplace der Weg gezeigt, auf welchem sich die Erde aus der Mutter Sonne entwickelt hatte. Aber die spätere Geschichte unseres Planeten, die Umbildung seiner Oberfläche, die Entstehung der Kontinente und Meere, der Gebirge und Wüsten war noch zu Ende des achtzehnten und in den ersten beiden Dezennien des neunzehnten Jahrhunderts nur wenig Gegenstand ernster wissenschaftlicher Untersuchungen gewesen. Meistens begnügte man sich mit ziemlich unsicheren Vermutungen oder mit der Annahme der traditionellen Schöpfungssagen; insbesondere verschloß auch hier wieder der überlieferte Glaube an die mosaische Schöpfungsgeschichte von vornherein den Weg zur wahren Erkenntnis.

Erst im Jahre 1822 erschien ein bedeutendes Werk, welches zur wissenschaftlichen Erforschung der Erdgeschichte diejenige Methode einschlug, die sich bald als die weitaus fruchtbarste erwies, die ontologische Methode oder das Prinzip des Aktualismus. Sie besteht darin, daß wir die Erscheinungen der Gegenwart genau studieren und benutzen, um dadurch die ähnlichen geschichtlichen Vorgänge der Vergangenheit zu erklären. Die Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen hatte daraufhin 1818 eine Preisaufgabe gestellt für: »Die gründlichste und umfassendste Untersuchung über die Veränderungen der Erdoberfläche, welche in der Geschichte sich nachweisen lassen, und die Anwendung, welche man von ihrer Kunde bei Erforschung der Erdrevolutionen, die außer dem Gebiete der Geschichte liegen, machen kann.« Die Lösung dieser wichtigen Preisaufgabe gelang Karl Hoff aus Gotha in seinem ausgezeichneten Werke: »Geschichte der durch Überlieferung nachgewiesenen natürlichen Veränderungen der Erdoberfläche« (in vier Bänden, 1822-1834). In umfassendster Weise und mit größtem Erfolge wurde dann die von ihm begründete ontologische oder aktualistische Methode auf das gesamte Gebiet[256] der Geologie von dem großen englischen Geologen Charles Lyell angewendet; seine Prinzipien der Geologie (1830) legten den festen Grund, auf dem die folgende Geschichte der Erde mit so glänzendem Erfolge weiterbaute. Die bedeutungsvollen geogenetischen Forschungen von Alexander Humboldt und Leopold Buch, von Gustav Bischof und Eduard Süß wie von vielen anderen modernen Geologen stützen sich sämtlich auf die festen empirischen Grundlagen und spekulativen Prinzipien, welche wir den bahnbrechenden Untersuchungen von Karl Hoff und Charles Lyell verdanken. Sie machten der reinen, vernünftigen Wissenschaft die Bahn frei auf dem Gebiete der Erdgeschichte; sie entfernten die gewaltigen Hindernisse, welche auch hier die mythologische Dichtung und die religiöse Tradition aufgehäuft hatten, vor allem die Bibel und die darauf gegründete christliche Mythologie. Ich habe die großen Verdienste von Charles Lyell und dessen Beziehungen zu seinem Freunde Charles Darwir bereits im sechsten und fünfzehnten Vortrage meiner »Natürlichen Schöpfungsgeschichte« besprochen; für die weitere Kenntnis der Erdgeschichte und der gewaltigen Fortschritte, welche die dynamische und historische Geologie im neunzehnten Jahrhundert gemacht haben, verweise ich auf die bekannten Werke von Süß, Neumayr, Credner und Johannes Walther.

Als zwei Hauptabschnitte der Erdgeschichte müssen wir vor allem die anorganische und organische Geogenie unterscheiden; die letztere beginnt mit dem ersten Auftreten lebender Wesen auf unserem Erdball. Die anorganische Geschichte der Erde, der ältere Abschnitt, verlief in derselben Weise wie diejenige der übrigen Planeten unseres Sonnensystems; sie alle lösten sich vom Äquator des rotierenden Sonnenkörpers als Nebelringe ab, welche sich allmählich zu selbständigen Weltkörpern verdichteten. Aus dem gasförmigen Nebelball wurde durch Abkühlung der glutflüssige Erdball, und weiterhin entstand an[257] dessen Oberfläche durch fortschreitende Wärmeausstrahlung die dünne feste Rinde, welche wir bewohnen. Erst nachdem die Temperatur an der Oberfläche bis zu einem gewissen Grade gesunken war, konnte sich aus der umgebenden Dampfhülle das erste tropfbar-flüssige Wasser niederschlagen, und damit war die wichtigste Vorbedingung für die Entstehung des organischen Lebens, für die Biogenie, gegeben.

Der dritte Hauptabschnitt der Weltentwicklung beginnt mit der ersten Entstehung der Organismen auf unserem Erdball und dauert seitdem ununterbrochen bis zur Gegenwart fort. Die großen Welträtsel, welche dieser interessanteste Teil der Erdgeschichte uns vorlegt, galten noch im Anfange des neunzehnten Jahrhunderts allgemein für unlösbar oder doch für so schwierig, daß ihre Lösung in weitester Ferne zu liegen, schien; nach Abschluß desselben durften wir mit berechtigtem Stolze sagen, daß sie durch die moderne Biologie, insbesondere den Transformismus im Prinzip gelöst sind. Selbst viele einzelne Erscheinungen dieses wunderbaren »Lebensreiches« sind heute so vollkommen physikalisch erklärt wie irgendein wohlbekanntes physikalisches Phänomen in der anorganischen Natur. Das Verdienst, den ersten aussichtsreichen Schritt auf dieser schwierigen Bahn getan und den Weg zur monistischen Lösung aller biologischen. Probleme gezeigt zu haben, gebührt dem geistvollen französischen Naturforscher Jean Lamarck; er veröffentlichte 1809, im Geburtsjahre von Charles Darwin, seine gedankenreiche »Philosophie zoologique«. In diesem originellen Werke ist nicht allein der großartige Versuch gemacht worden, alle Erscheinungen des organischen Lebens von einem einheitlichen physikalischen Gesichtspunkte aus zu erklären, sondern auch der Weg eröffnet, auf dem allein das schwierigste Rätsel dieses Gebietes gelöst werden kann, das Problem von der natürlichen Entstehung der organischen Speziesformen. Lamarck, der gleich ausgedehnte empirische Kenntnisse in[258] Zoologie und Botanik besaß, entwarf hier zum ersten Male die Grundzüge der Abstammungslehre oder Deszendenztheorie; er zeigte, wie alle die unzähligen Formen des Tier- und Pflanzenreiches durch allmähliche Umbildung aus gemeinsamen einfachsten Stammformen hervorgegangen sind, und wie die allmähliche Veränderung der Gestalten durch Anpassung, in Wechselwirkung mit Vererbung, diese ununterbrochene Transmutation langsam bewirkt hat.

Im fünften Vortrage meiner »Natürlichen Schöpfungsgeschichte« habe ich die Verdienste von Lamarck nach Gebühr gewürdigt. Durch seinen größten Nachfolger, Charles Darwin, wurden fünfzig Jahre später nicht nur alle wichtigen Hauptsätze der Deszendenztheorie unwiderleglich begründet, sondern auch durch Einführung der Selektionstheorie oder Züchtungslehre die Lücke ausgefüllt, welche der erstere gelassen hatte. Der Erfolg, welchen Lamarck trotz aller Verdienste nicht hatte erlangen können, wurde Darwin in reichstem Maße zuteil; sein epochemachendes Werk »Über den Ursprung der Arten durch natürliche Züchtung« hat im Laufe der letzten vierzig Jahre die ganze moderne Biologie von Grund aus umgestaltet.

Darwin ist der Kopernikus der organischen Welt geworden, wie ich schon 1868 betonte.

Als vierter und letzter Hauptabschnitt der Weltentwicklung kann für uns Menschen derjenige jüngste Zeitraum gelten, innerhalb dessen sich unser eigenes Geschlecht entwickelt hat. Schon Lamarck (1809) hatte klar erkannt, daß diese Entwicklung vernünftigerweise nur auf einem natürlichen Wege denkbar sei, durch »Abstammung vom Affen« als von dem nächstverwandten Säugetiere. Huxley zeigte sodann (1863) in seiner berühmten Abhandlung über »die Stellung des Menschen in der Natur«, daß diese bedeutungsvolle Annahme ein notwendiger Folgeschluß der Deszendenztheorie und durch anatomische, embryologische und paläontologische Tatsachen wohlbegründet sei; er erklärte diese »Frage aller Fragen«[259] im Prinzip für gelöst. Darwin behandelte sodann dieselbe in geistreicher Weise von verschiedenen Seiten in seinem Werke über »die Abstammung des Menschen und die geschlechtliche Zuchtwahl« (1871). Ich selbst hatte schon in meiner »Generellen Morphologie« (1866) diesem wichtigsten Spezialproblem der Abstammungslehre ein besonderes Kapitel gewidmet. 1874 veröffentlichte ich meine Anthropogenie, in der zum ersten Male der Versuch durchgeführt ist, die Abstammung des Menschen durch seine ganze Ahnenreihe bis zur ältesten archigonen Monerenform hinauf zu verfolgen; ich stützte mich dabei gleichmäßig auf die drei großen Urkunden der Stammesgeschichte, auf die vergleichende Anatomie, Ontogenie und Paläontologie (sechste umgearbeitete Auflage 1910). Die neueren wichtigen Fortschritte in der anthropogenetischen Forschung habe ich in dem Vortrage beleuchtet, den ich 1898 auf dem internationalen Zoologenkongreß in Cambridge »über unsere gegenwärtige Kenntnis vorn Ursprung des Menschen« gehalten habe. Die 30 dort unterschiedenen Stufen unserer Progonotaxis sind eingehend begründet in meiner Festschrift über »Unsere Ahnenreihe« (Jena 1908).[260]

Quelle:
Ernst Haeckel: Gemeinverständliche Werke. Band 3, Leipzig und Berlin [o.J.], S. 240-261.
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