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[261] Monistische Studien über die materielle und energetische Einheit des Kosmos.
Mechanismus und Vitalismus.
Ziel, Zweck und Zufall.
Durch das Substanzgesetz ist zunächst die fundamentale Tatsache erwiesen, daß jede Naturkraft mittelbar oder unmittelbar in jede andere umgewandelt werden kann. Mechanische und chemische Energie, Schall und Wärme, Licht und Elektrizität können ineinander übergeführt werden und erweisen sich nur als verschiedene Erscheinungsformen einer und derselben Urkraft, der Energie. Daraus ergibt sich der bedeutungsvolle Satz von der Einheit aller Naturkräfte oder, wie wir auch sagen können, dem »Monismus der Energie«. Im gesamten Gebiete der Physik und Chemie ist dieser Fundamentalsatz jetzt allgemein anerkannt, soweit er die anorganischen Naturkörper betrifft.
Anders verhält sich scheinbar die organische Welt, das bunte und formenreiche Gebiet des Lebens. Zwar liegt es auch hier auf der Hand, daß ein großer Teil der Lebenserscheinungen unmittelbar auf mechanische und chemische Energie, auf elektrische und Lichtwirkungen zurückzuführen ist. Für einen anderen Teil derselben aber wird das auch heute noch bestritten, so vor allem für das Welträtsel des »Seelenlebens«, insbesondere des Bewußtseins. Hier ist es nun das hohe Verdienst der modernen Entwicklungslehre, die Brücke zwischen den beiden, scheinbar getrennten Gebieten geschlagen zu haben. Wir sind jetzt zu der klaren Überzeugung gelangt, daß[261] auch alle Erscheinungen des organischen Lebens ebenso dem universalen Substanzgesetz unterworfen sind wie die anorganischen Phänomene im unendlichen Kosmos.
Die Einheit der Natur, die hieraus folgt, die Überwindung des früheren Dualismus, ist sicher eines der wertvollsten Ergebnisse unserer modernen Genetik. Ich habe diesen »Monismus des Kosmos«, die prinzipielle »Einheit der organischen und anorganischen Natur« schon im Jahre 1866 sehr eingehend zu begründen versucht, indem ich die Übereinstimmung der beiden großen Naturreiche in Beziehung auf Stoffe, Formen und Kräfte einer eingehenden kritischen Prüfung und Vergleichung unterzog. (Generelle Morphologie, 5. Kap.) Einen kurzen Auszug ihrer Ergebnisse enthält der fünfzehnte Vortrag meiner »Natürlichen Schöpfungsgeschichte«. Während die hier entwickelten Anschauungen von der großen Mehrzahl der Naturforscher gegenwärtig angenommen sind, ist doch neuerdings von mehreren Seiten der Versuch gemacht worden, dieselben zu bekämpfen und den alten Gegensatz von zwei verschiedenen Naturgebieten aufrecht zu erhalten. Den konsequentesten derartigen Versuch enthält das 1899 erschienene Werk des Botanikers Reinke: »Die Welt als Tat«. Dasselbe vertritt in lobenswerter Konsequenz den reinen kosmologischen Dualismus und beweist damit selbst, wie gänzlich unhaltbar die damit verknüpfte teleologische Weltanschauung ist. In dem ganzen Gebiete der anorganischen Natur sollen danach nur physikalische und chemische Kräfte wirken, in demjenigen der organischen Natur daneben »intelligente Kräfte«, die Richtkräfte oder Dominanten. Nur im ersteren Gebiete soll das Substanzgesetz Geltung haben, im letzteren nicht. In der Hauptsache handelt es sich auch hier wieder um den uralten Gegensatz der mechanischen und teleologischen Weltanschauung. Bevor wir auf denselben eingehen, wollen wir kurz auf zwei andere Theorien hinweisen, welche nach meiner Überzeugung für die Entscheidung[262] dieser wichtigen Probleme sehr wertvoll sind, die Kohlenstofftheorie und die Urzeugungslehre.
Die physiologische Chemie hat im Laufe der letzten fünfzig Jahre durch unzählige Analysen folgende fünf Tatsachen festgestellt: 1. In den organischen Naturkörpern kommen keine anderen Elemente vor als in den anorganischen. 2. Diejenigen Verbindungen der Elemente, welche den Organismen eigentümlich sind, und welche ihre »Lebenserscheinungen« bewirken, sind zusammengesetzte Plasmakörper aus der Gruppe der Albuminate oder Eiweißverbindungen. 3. Das organische Leben selbst ist ein chemisch-physikalischer Prozeß, der auf dem Stoffwechsel dieser plasmatischen Albuminate beruht. 4. Dasjenige Element, welches allein imstande ist, diese zusammengesetzten Eiweißkörper in Verbindung mit anderen Elementen (Sauerstoff, Wasserstoff, Stickstoff, Schwefel) aufzubauen, ist der Kohlenstoff. 5. Diese plasmatischen Kohlenstoffverbindungen zeichnen sich vor den meisten anderen chemischen Verbindungen durch ihre sehr komplizierte Molekularstruktur aus, durch ihre Unbeständigkeit und ihren gequollenen Aggregatzustand. Auf Grund dieser fünf fundamentalen Tatsachen stellte ich im Jahre 1866 folgende Theorie auf: »Lediglich die eigentümlichen, chemisch-physikalischen Eigenschaften des Kohlenstoffes – und namentlich der festflüssige Aggregatzustand und die leichte Zersetzbarkeit der höchst zusammengesetzten, eiweißartigen Kohlenstoffverbindungen – sind die mechanischen Ursachen jener eigentümlichen Bewegungserscheinungen, durch welche sich die Organismen von den Anorganen unterscheiden, und die man im engeren Sinne das Leben nennt.« Obwohl diese »Kohlenstofftheorie« von mehreren Biologen heftig angegriffen worden ist, hat doch bisher keiner eine bessere monistische Theorie an deren Stelle gesetzt. Heute, wo wir die physiologischen Verhältnisse des Zellenlebens, die Chemie und Physik des lebendigen Plasma, viel besser und gründlicher kennen als vor 40 Jahren, läßt sich die Karbogentheorie viel eingehender[263] und sicherer mechanisch begründen, als es damals möglich war.
Der alte Begriff der Urzeugung (Generatio spontanea oder aequivoca) wird heute noch in sehr verschiedenem Sinne verwendet; gerade die Unklarheit über diesen Begriff und die widersprechende Anwendung desselben auf ganz verschiedene, alte und neue Hypothesen sind schuld daran, daß dieses wichtige Problem zu den bestrittensten und konfusesten Fragen der ganzen Naturwissenschaft bis auf den heutigen Tag gehört. Ich beschränke den Begriff der Urzeugung – als Archigonie oder Abiogenesis! – auf die erste Entstehung von lebendem Plasma aus anorganischen. Kohlenstoffverbindungen und unterscheide als zwei Hauptperioden in diesem »Beginn der Biogenesis« 1. die Autogonie, die Entstehung von einfachsten Plasmakörpern in einer anorganischen Bildungsflüssigkeit, und 2. die Plasmogonie, die Individualisierung von primitivsten Organismen aus jenen Plasmaver bindungen, in Form von Moneren. Ich habe diese wichtigen, aber auch sehr schwierigen Probleme im 15. Kapitel meiner »Natürlichen Schöpfungsgeschichte« so eingehend behandelt, daß ich hier darauf verweisen kann. Eine sehr ausführliche und streng wissenschaftliche Erörterung derselben hatte ich bereits 1866 in der Generellen Morphologie gegeben; später hat Naegeli in seiner »Mechanisch-physiologischen Theorie der Abstammungslehre« (1884.) die Hypothese der Urzeugung in demselben Sinne sehr eingehend behandelt und als eine unentbehrliche Annahme der natürlichen Entwicklungstheorie bezeichnet. Ich stimme vollkommen seinem Satze bei: »Die Urzeugung leugnen heißt das Wunder verkünden.«
Sowohl die Hypothese der Urzeugung als die eng damit verknüpfte Kohlenstofftheorie besitzen die größte Bedeutung für die Entscheidung des alten Kampfes zwischen der teleologischen (dualistischen) und der mechanischen (monistischen) Beurteilung der Erscheinungen. Seit Darwin uns 1859 durch seine[264] geistvolle Selektionstheorie den Schlüssel zur monistischen Erklärung der Organisation in die Hand gab, sind wir in den Stand gesetzt, die bunte Mannigfaltigkeit der zweckmäßigen Einrichtungen in der lebendigen Körperwelt ebenso auf natürliche mechanische Ursachen zurückzuführen, wie dies vorher nur in der anorganischen Natur möglich war. Die übernatürlichen zwecktätigen Ursachen, zu welchen man früher seine Zuflucht hatte nehmen müssen, sind dadurch überflüssig geworden. Trotzdem fährt die moderne Metaphysik fort, die letzteren als unentbehrlich und die ersteren als unzureichend zu bezeichnen.
Den tiefen Gegensatz zwischen den bewirkenden Ursachen (oder Werkursachen) und den zwecktätigen Ursachen (oder Endursachen) hat mit Bezug auf die Erklärung der Gesamtnatur kein neuerer Philosoph schärfer hervorgehoben als Immanuel Kant. In seinem berühmten Jugendwerke, der »Allgemeinen Naturgeschichte und Theorie des Himmels«, hatte er 1755 den kühnen Versuch unternommen, »die Verfassung und den mechanischen Ursprung des ganzen Weltgebäudes nach Newtonschen Grundsätzen abzuhandeln«. Diese »kosmologische Gastheorie« stützte sich ganz auf die mechanischen Bewegungserscheinungen der Gravitation; sie wurde später von dem großen Astronomen und Mathematiker Laplace weiter ausgebildet und mathematisch begründet. Als dieser von Napoleon I. gefragt wurde, welche Stelle in seinem System Gott, der Schöpfer und Erhalter des Weltalls, einnehme, antwortete er klar und ehrlich: »Sire, ich bedarf dieser Hypothese nicht.« Damit war der atheistische Charakter dieser mechanischen Kosmogenie, den sie mit allen anorganischen Wissenschaften teilt, offen anerkannt. Dies muß um so mehr hervorgehoben werden, als die Kant-Laplacesche Theorie noch heute in fast allgemeiner Geltung steht; alle Versuche, sie durch eine bessere zu ersetzen, sind fehlgeschlagen. Wenn man den Atheismus noch heute in weiten Kreisen als einen schweren Vorwurf betrachtet, so trifft dieser die gesamte moderne[265] Naturwissenschaft, insofern sie die anorganische Welt unbedingt mechanisch erklärt.
Der Mechanismus allein (im Sinne Kants!) gibt uns eine wirkliche Erklärung der Naturerscheinungen, indem er dieselben auf reale Werkursachen zurückführt, auf blinde und bewußtlos wirkende Bewegungen, welche durch die materielle Konstitution der betreffenden Naturkörper selbst bedingt sind. Kant selbst betont, daß es »ohne diesen Mechanismus der Natur keine Naturwissenschaft geben kann«, und daß die Befugnis der menschlichen Vernunft zur mechanischen Erklärung aller Erscheinungen unbeschränkt sei. Als er aber später in seiner Kritik der teleologischen Urteilskraft die Erklärung der verwickelten Erscheinungen in der organischen Natur besprach, behauptete er, daß dafür jene mechanischen Ursachen nicht ausreichend seien; hier müsse man zweckmäßig wirkende Endursachen zu Hilfe nehmen. Zwar sei auch hier die Befugnis unserer Vernunft zur mechanischen Erklärung anzuerkennen, aber ihr Vermögen sei begrenzt. Allerdings gestand er ihr teilweise dieses Vermögen zu; aber für den größten Teil der Lebenserscheinungen (und besonders für die Seelentätigkeit des Menschen) hielt er die Annahme von Endursachen unentbehrlich. Der merkwürdige § 79 der Kritik der Urteilskraft trägt die charakteristische Überschrift: »Von der notwendigen Unterordnung des Prinzips des Mechanismus unter das teleologische in Erklärung eines Dinges als Naturzweck.« Die zweckmäßigen Einrichtungen im Körperbau der organischen Wesen schienen Kant ohne Annahme übernatürlicher Endursachen (d.h. also einer planmäßig wirkenden Schöpferkraft) so unerklärlich, daß er sagte: »Es ist ganz gewiß, daß wir die organisierten Wesen und deren innere Möglichkeit nach bloß mechanischen Prinzipien der Natur nicht einmal zureichend kennen, viel weniger uns erklären können, und zwar so gewiß, daß man dreist sagen kann: Es ist für Menschen ungereimt, auch nur einen solchen Anschlag zu fassen oder zu hoffen,[266] daß noch etwa dereinst ein Newton aufstehen könne, der auch nur die Erzeugung eines Grashalmes nach Naturgesetzen, die keine Absicht geordnet hat, begreiflich machen werde, sondern man muß diese Einsicht dem Menschen schlechterdings absprechen.« Siebenzig Jahre später ist dieser unmögliche »Newton der organischen Natur« in Darwin wirklich erschienen und hat die große Aufgabe glänzend gelöst, die Kant für ganz unlösbar erklärt hatte; seine geniale »Selektionstheorie« gibt die volle Lösung.
Seitdem Newton (1682) das Gravitationsgesetz aufgestellt, und seitdem Kant (1755) »die Verfassung und den mechanischen Ursprung des ganzen Weltgebäudes nach Newtonschen Grundsätzen« festgestellt – seitdem endlich Laplace (1796) dieses Grundgesetz des Weltmechanismus mathematisch begründet hatte, sind die sämtlichen anorganischen Naturwissenschaften rein mechanisch und damit zugleich rein atheistisch geworden. In der Astronomie und Kosmogenie, in der Geologie und Meteorologie, in der anorganischen Physik und Chemie gilt seitdem die absolute Herrschaft mechanischer Gesetze auf mathematischer Grundlage als unbedingt feststehend. Seitdem ist aber auch der Zweckbegriff aus diesem ganzen großen Gebiete verschwunden. Bereits am Schlusse des neunzehnten Jahrhunderts gelangte diese monistische Betrachtung nach harten Kämpfen zu allgemeiner Geltung; jetzt fragt kein Naturforscher mehr im Ernste nach dem Zwecke irgendeiner Erscheinung in diesem ganzen unermeßlichen Gebiete. Oder sollte wirklich noch heute im Ernste ein Astronom nach dem Zwecke der Planetenbewegungen oder ein Mineraloge nach dem Zwecke der einzelnen Kristallformen fragen? Oder sollte ein Physiker über den Zweck der elektrischen Kräfte oder ein Chemiker über den Zweck der Atomgewichte grübeln? Wir dürfen getrost antworten: nein! Sicher nicht in dem Sinne, daß der »liebe Gott« oder die zielstrebige Naturkraft diese Grundgesetze des Weltmechanismus einmal plötzlich »aus nichts« zu einem bestimmten[267] Zweck erschaffen hat, und daß er sie nach seinem vernünftigen Willen tagtäglich wirken läßt. Diese anthropomorphe Vorstellung von einem zwecktätigen Weltbaumeister und Weltherrscher ist hier völlig überwunden; an seine Stelle sind die »ewigen, ehernen, großen Naturgesetze« getreten.
Eine ganz andere Bedeutung und Geltung als in der anorganischen besitzt der Zweckbegriff noch heute in der organischen Natur. Im Körperbau und in der Lebenstätigkeit aller Organismen tritt uns die Zwecktätigkeit unleugbar entgegen. Jede Pflanze und jedes Tier erscheinen in der Zusammensetzung aus einzelnen Teilen ebenso für einen bestimmten Lebenszweck eingerichtet wie die künstlichen, vom Menschen erfundenen und konstruierten Maschinen; und solange ihr Leben fortdauert, ist auch die Funktion der einzelnen Organe ebenso auf bestimmte Zwecke gerichtet wie die Arbeit in den einzelnen Teilen der Maschine. Es war daher ganz naturgemäß, daß die ältere naive Naturbetrachtung für die Entstehung und die Lebenstätigkeit der organischen Wesen einen Schöpfer in Anspruch nahm, der »mit Weisheit und Verstand alle Dinge geordnet« hatte, und der jedes Tier und jede Pflanze ihrem besonderen Lebenszwecke entsprechend organisiert hatte. Gewöhnlich wurde dieser »allmächtige Schöpfer Himmels und der Erden« durchaus anthropomorph gedacht; er schuf »jegliches Wesen nach seiner Art«. Solange dabei dem Menschen der Schöpfer noch in menschlicher Gestalt erschien, denkend mit seinem Gehirn, sehend mit seinen Augen, formend mit seinen Händen, konnte man sich von diesem »göttlichen Maschinenbauer« und von seiner künstlerischen Arbeit in der großen Schöpfungswerkstätte noch eine anschauliche Vorstellung machen. Viel schwieriger wurde dies, als sich der Gottesbegriff läuterte, und man in dem »unsichtbaren Gott« einen Schöpfer ohne Organe (- ein gasförmiges Wesen -) erblickte. Noch unbegreiflicher endlich wurden diese anthropistischen Vorstellungen, als die Physiologie an die Stelle des bewußt[268] bauenden Gottes die unbewußt schaffende »Lebenskraft« setzte – eine unbekannte, zweckmäßig tätige Naturkraft, welche von den bekannten physikalischen und chemischen Kräften verschieden war und diese nur zeitweise – auf Lebenszeit – in Dienst nahm. Dieser Vitalismus blieb noch bis um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts herrschend; er fand seine tatsächliche Widerlegung erst durch den großen Physiologen Johannes Müller in Berlin. Zwar war auch dieser gewaltige Biologe (gleich allen anderen in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts) im Glauben an die Lebenskraft aufgewachsen und hielt sie für die Erklärung der »letzten Lebensursachen« für unentbehrlich; aber er führte zugleich in seinem klassischen, noch heute unübertroffenen Lehrbuch der Physiologie (1833) den indirekten Beweis, daß eigentlich nichts mit ihr anzufangen ist. Müller selbst zeigte in einer langen Reihe von ausgezeichneten Beobachtungen und scharfsinnigen Experimenten, daß die meisten Lebenstätigkeiten im Organismus des Menschen ebenso wie der übrigen Tiere nach physikalischen und chemischen Gesetzen geschehen, daß viele von ihnen sogar mathematisch bestimmbar sind. Das gilt ebensowohl von den animalen Funktionen der Muskeln und Nerven, der niederen und höheren Sinnesorgane, wie von den vegetalen Vorgängen bei der Ernährung und dem Stoffwechsel, der Verdauung und dem Blutkreislauf. Rätselhaft, und ohne die Annahme einer Lebenskraft nicht erklärbar, blieben eigentlich nur zwei Gebiete, das der höheren Seelentätigkeit (Geistesleben) und das der Fortpflanzung (Zeugung). Aber auch auf diesen Gebieten wurden unmittelbar nach Müllers Tode solche gewaltige Entdeckungen und Fortschritte gemacht, daß das unheimliche »Gespenst der Lebenskraft« auch aus diesen letzten Schlupfwinkeln verschwand. Es war gewiß ein merkwürdiger chronologischer Zufall, daß Johannes Müller in demselben Jahre (1838) starb, in welchem Charles Darwin die ersten Mitteilungen über seine epochemachende Theorie[269] veröffentlichte. Die Selektionstheorie des letzteren beantwortete das große Rätsel, vor welchem der erstere stehengeblieben war: die Frage von der Entstehung zweckmäßiger Einrichtungen durch mechanische Ursachen.
Das unsterbliche philosophische Verdienst Darwins bleibt, wie wir schon oft betont haben, ein doppeltes: erstens die Reform der älteren, 1809 von Lamarck begründeten Deszendenztheorie, ihre Begründung durch das gewaltige, im Laufe dieses halben Jahrhunderts angesammelte Tatsachenmaterial – und zweitens die Aufstellung der Selektionstheorie, jener Zuchtwahllehre, welche uns erst eigentlich die wahren bewirkenden Ursachen der allmählichen Artumbildung enthüllt. Darwin zeigte zuerst, wie der gewaltige »Kampf ums Dasein« der unbewußt wirkende Regulator ist, welcher die Wechselwirkung der Vererbung und. Anpassung bei der allmählichen Transformation der Spezies leitet; er ist der große »züchtende Gott«, welcher ohne Absicht neue Formen ebenso durch »natürliche Auslese« bewirkt, wie der züchtende Mensch neue Formen mit Absicht durch »künstliche Auslese« hervorbringt. Damit wurde das große philosophische Rätsel gelöst: »Wie können zweckmäßige Einrichtungen rein mechanisch entstehen, ohne zwecktätige Ursachen?« Kant hatte dieses schwierige Welträtsel noch für unlösbar erklärt, obwohl schon mehr als 2000 Jahre früher der große Denker Empedokles auf den Weg seiner Lösung hingewiesen hatte. Neuerdings hat sich aus derselben das Prinzip der »teleologischen Mechanik« zu immer größerer Geltung entwickelt und hat auch die feinsten und verborgensten Einrichtungen der organischen Wesen uns durch die »funktionelle Selbstgestaltung der zweckmäßigen Struktur« mechanisch erklärt. Damit ist aber der transzendente Zweckbegriff unserer teleologischen Schulphilosophie beseitigt, das größte Hindernis einer vernünftigen und einheitlichen Naturauffassung.
In neuerer Zeit ist das alte Gespenst der mystischen[270] Lebenskraft, das gründlich getötet schien, wieder aufgelebt; verschiedene angesehene Biologen haben versucht, dasselbe unter neuem Namen zur Geltung zu bringen. Die klarste und konsequenteste Darstellung desselben hat 1899 der Kieler Botaniker J. Reinke gegeben. Er verteidigt den Wunderglauben und den Theismus, die Mosaische Schöpfungsgeschichte und die Konstanz der Arten; er nennt die »Lebenskräfte« (im Gegensatze zu den physikalischen Kräften) Richtkräfte, Oberkräfte oder Dominanten. Andere nehmen statt dessen, in ganz anthropistischer Auffassung, einen »Maschineningenieur« an, welcher der organischen Substanz eine zweckmäßige, auf ein bestimmtes Ziel gerichtete Organisation beigegeben habe. Diese seltsamen teleologischen Hypothesen bedürfen heute ebensowenig mehr einer wissenschaftlichen Widerlegung als die naiven, meistens damit verknüpften Einwürfe gegen den Darwinismus. Die meisten Schriften, welche der anspruchsvolle moderne Neovitalismus zutage gefördert hat, stellen sich in schroffen Gegensatz zum Darwinismus und wollen dessen mechanische Kausalität durch ihre zielstrebige Finalität ersetzen; sie entbehren aber ebenso der umfassenden und gründlichen Kenntnis der biologischen Tatsachen, wie der unbefangenen und klaren logischen Urteilskraft.
Unter dem Begriffe der Unzweckmäßigkeitslehre oder Dysteleologie habe ich schon im Jahre 1866 die Wissenschaft von denjenigen, überaus interessanten und wichtigen, biologischen Tatsachen begründet, welche in handgreiflichster Weise die hergebrachte teleologische Auffassung von der »zweckmäßigen Einrichtung der lebendigen Naturkörper« direkt widerlegen. Diese »Wissenschaft von den rudimentären, abortiven, verkümmerten, fehlgeschlagenen, atrophischen oder kataplastischen Individuen« stützt sich auf eine unermeßliche Fülle der merkwürdigsten Erscheinungen, welche zwar den Zoologen und Botanikern längst bekannt waren, aber erst durch Darwin[271] ursächlich erklärt und in ihrer hohen philosophischen Bedeutung vollständig gewürdigt worden sind.
Alle höheren Tiere und Pflanzen, überhaupt alle diejenigen Organismen, deren Körper nicht ganz einfach gebaut, sondern aus mehreren, zweckmäßig zusammenwirkenden Organen zusammengesetzt ist, lassen bei aufmerksamer Untersuchung eine Anzahl von nutzlosen oder unwirksamen, ja zum Teil sogar gefährlichen und schädlichen Einrichtungen erkennen. In den Blüten der meisten Pflanzen finden sich neben den wirksamen Geschlechtsblättern, welche die Fortpflanzung vermitteln, einzelne nutzlose Blattorgane ohne Bedeutung (verkümmerte oder »fehlgeschlagene« Staubfäden, Fruchtblätter, Kronen-, Kelchblätter usw.). In den beiden großen und formenreichen Klassen der fliegenden Tiere, Vögel und Insekten, gibt es neben den gewöhnlichen, ihre Flügel täglich gebrauchenden Arten eine Anzahl von Formen, deren Flügel verkümmert sind, und die nicht fliegen können. Fast in allen Klassen der höheren Tiere, die ihre Augen zum Sehen gebrauchen, existieren einzelne Arten, welche im Dunkeln leben und nicht sehen; trotzdem besitzen auch diese noch meistens Augen; nur sind sie verkümmert, zum Sehen nicht mehr tauglich. An unserem eigenen menschlichen Körper besitzen wir solche nutzlose Rudimente in den Muskeln unseres Ohres, in der Nickhaut unseres Auges, in der Brustwarze und Milchdrüse des Mannes und in anderen Körperteilen; ja, der gefürchtete Wurmfortsatz unseres Blinddarmes ist nicht nur unnütz, sondern sogar gefährlich, und alljährlich geht eine Anzahl Menschen durch seine Entzündung zugrunde.
Die Erklärung dieser und vieler anderen zwecklosen Einrichtungen im Körperbau der Tiere und Pflanzen vermag weder der alte mystische Vitalismus noch der neue, ebenso irrationelle Neovitalismus zu geben; dagegen finden wir sie sehr einfach durch die Deszendenztheorie. Sie zeigt, daß diese rudimentären Organe verkümmert sind, und zwar durch[272] Nichtgebrauch. Ebenso, wie die Muskeln, die Nerven, die Sinnesorgane durch Übung und häufigeren Gebrauch gestärkt werden, ebenso erleiden sie umgekehrt durch Untätigkeit und unterlassenen Gebrauch mehr oder weniger Rückbildung. Aber obgleich so durch Übung und Anpassung die höhere Entwicklung der Organe gefördert wird, so verschwinden sie doch keineswegs sofort spurlos durch Nichtübung; vielmehr werden sie durch die Macht der Vererbung noch während vieler Generationen erhalten und verschwinden erst allmählich nach längerer Zeit. Der blinde »Kampf ums Dasein zwischen den Organen« bedingt ebenso ihren historischen Untergang, wie er ursprünglich ihre Entstehung und Ausbildung verursachte. Ein immanenter bewußter »Zweck«, eine sogenannte »Zielstrebigkeit«, spielt dabei überhaupt gar keine Rolle.
Wie das Menschenleben, so bleibt auch das Tier- und Pflanzenleben immer und überall unvollkommen. Diese Tatsache ergibt sich einfach aus der Erkenntnis, daß die Natur – ebenso die organische wie die anorganische – in einem beständigen Flusse der Entwicklung, der Veränderung und Umbildung begriffen ist. Diese Entwicklung erscheint uns im großen und ganzen – wenigstens soweit wir die Stammesgeschichte der organischen Natur auf unserem Planeten übersehen können – als eine fortschreitende Umbildung, als ein historischer Fortschritt vom Einfachen zum Zusammengesetzten, vom Niederen zum Höheren, vom Unvollkommenen zum Vollkommeneren. Ich habe schon in der »Generellen Morphologie« (1866) den Nachweis geführt, daß dieser historische Fortschritt (Progressus) – oder die allmähliche Vervollkommnung (Teleosis) – die notwendige Wirkung der Selektion ist, nicht aber die Folge eines vorbedachten Zweckes. Das ergibt sich auch daraus, daß kein Organismus ganz vollkommen ist; selbst wenn er in einem gegebenen Augenblicke den Umständen vollkommen angepaßt wäre, würde dieser Zustand nicht lange dauern; denn[273] die Existenzbedingungen der Außenwelt sind selbst einem beständigen Wechsel unterworfen und bedingen damit eine ununterbrochene Anpassung der Organismen.
Unter dem Titel »Zielstrebigkeit in den organischen Körpern insbesondere« veröffentlichte der berühmte Embryologe Karl Ernst Baer 1876 einen Aufsatz, der im Zusammenhang mit dem nachfolgenden Artikel über Darwins Lehre den Gegnern selben sehr willkommen erschien und auch heute noch vielfach gegen die moderne Entwicklungstheorie verwertet wird. Zugleich erneuerte er die alte teleologische Naturbetrachtung unter einem neuen Namen; dieser muß hier einer kurzen Kritik unterzogen werden. Vorauszuschicken ist dabei der Hinweis, daß Baer zwar ein Naturphilosoph im besten Sinne war, daß aber seine ursprünglichen monistischen Anschauungen mit zunehmendem Alter immer mehr durch einen tiefmystischen Zug beeinflußt und zuletzt rein dualistisch wurden. In seinem grundlegenden Hauptwerke »über Entwicklunsgeschichte der Tiere« (1828), das er selbst als »Beobachtung und Reflexion« bezeichnet, sind diese beiden Erkenntnistätigkeiten gleichmäßig verwertet. Durch sorgfältigste Beobachtung aller einzelnen Vorgänge bei der Entwicklung des tierischen Eies gelangte Baer zur ersten zusammenhängenden Darstellung aller der wunderbaren Umbildungen, welche bei der Entstehung des Wirbeltierkörpers aus der einfachen Eikugel sich abspielen. Durch umsichtige Vergleichung und scharfsinnige Reflexion suchte er aber zugleich die Ursachen jener Transformation zu erkennen und sie auf allgemeine Bildungsgesetze zurückzuführen. Als allgemeinstes Resultat derselben sprach er den Satz aus: »Die Entwicklungsgeschichte des Individuums ist die Geschichte der wachsenden Individualität in jeglicher Beziehung.« Dabei betonte er, daß »der eine Grundgedanke, der alle einzelnen Verhältnisse der tierischen Entwicklung beherrscht, derselbe ist, der im Weltraum die verteilte Masse[274] in Sphären sammelte und diese zu Sonnensystemen verband. Dieser Gedanke ist aber nicht als das Leben selbst, und die Worte und Silben, in denen er sich ausspricht, sind die verschiedenen Formen des Lebendigen«.
Zu einer tieferen Erkenntnis dieses genetischen Grundgedankens und zur klaren Einsicht in die wahren bewirkenden Ursachen der organischen Entwicklung vermochte Baer damals nicht zu gelangen, weil sein Studium ausschließlich der einen Hälfte der Entwicklungsgeschichte gewidmet war, derjenigen der Individuen, der Embryologie oder im weiteren Sinne der Ontogenie. Die andere Hälfte derselben, die Entwicklungsgeschichte der Stämme und Arten, unsere Stammesgeschichte oder Phylogenie, existierte damals noch nicht, obwohl der weitschauende Lamarck schon 1809 den Weg zu derselben gezeigt hatte. Ihre spätere Begründung durch Darwin (1859) vermochte der gealterte Baer nicht mehr zu verstehen; der nutzlose Kampf, den er gegen dessen Selektionstheorie führte, zeigt klar, daß er weder deren eigentlichen Sinn noch ihre philosophische Bedeutung erkannte. Teleologi sche und später damit verknüpfte theosophische Spekulationen hatten den alten Baer unfähig gemacht, diese größte Reform der Biologie gerecht zu würdigen; die teleologischen Betrachtungen, welche er gegen sie in seinen »Reden und Studien« (1876) als 84 jähriger Greis ins Feld führte, sind nur Wiederholungen von ähnlichen Irrtümern, wie sie die Zweckmäßigkeitslehre der dualistischen Philosophie seit mehr als zweitausend Jahrein gegen die mechanistische und monistische Weltanschauung aufgestellt hatte. Der »zielstrebige Gedanke«, welcher nach Baers Vorstellung die ganze Entwicklung des Tierkörpers aus der Eizelle bedingt, ist nur ein anderer Ausdruck für die ewige »Idee« von Plato und für die »Entelechie« seines Schülers Aristoteles.
Unsere moderne Biogenie erklärt dagegen die embryologischen Tatsachen rein physiologisch, indem[275] sie als bewirkende mechanische Ursachen derselben die Funktionen der Vererbung und Anpassung erkennt. Das biogenetische Grundgesetz, für welches Baer kein Verständnis gewinnen konnte, eröffnet uns den innigen kausalen Zusammenhang zwischen der Ontogenese der Individuen und der Phylogenese ihrer Vorfahren; die erstere erscheint uns jetzt als eine erbliche Rekapitulation der letzteren. Nun können wir aber in der Stammesgeschichte der Tiere und. Pflanzen nirgends eine Zielstrebigkeit erkennen, sondern lediglich das notwendige Resultat des gewaltigen Kampfes ums Dasein, der als blinder Regulator, nicht als vorsehender Gott, die Umbildung der organischen Formen durch Wechselwirkung der Anpassungs- und Vererbungsgesetze bewirkt. Ebensowenig können wir aber auch bewußte »Zielstrebigkeit« in der Keimesgeschichte der Individuen annehmen, in der Embryologie der einzelnen Pflanzen, Tiere und Menschen. Denn diese Ontogenie ist ja nur ein kurzer Auszug aus jener Phylogenie, eine abgekürzte und gedrängte Wiederholung derselben durch die physiologischen Gesetze der Vererbung, bedingt durch das unbewußte Gedächtnis des Plasma (»Mneme«).
Das Vorwort zu seiner klassischen »Entwicklungsgeschichte der Tiere« schloß Baer 1828 mit den Worten: »Die Palme wird der Glückliche erringen, dem es vorbehalten ist, die bildenden Kräfte des tierischen Körpers auf die allgemeinen Kräfte oder Lebensrichtungen des Weltganzen zurückzuführen. Der Baum, aus welchem seine Wiege gezimmert werden soll, hat noch nicht gekeimt.« – Auch darin irrte der große Embryologe. In demselben Jahre 1828 bezog der junge Charles Darwin die Universität Cambridge, um Theologie (!) zu studieren, der gewaltige »Glückliche«, der die Palme dreißig Jahre später durch seine Selektionslehre errang.
In der Philosophie der Geschichte, in den allgemeinen Betrachtungen, welche die Geschichtschreiber über die Schicksale der Völker und über den[276] verschlungenen Gang der Staatenentwicklung anstellen, herrscht noch heute die Annahme einer »sittlichen Weltordnung«. Die Historiker suchen in dem bunten Wechsel der Völkergeschichte einen leitenden Zweck, eine ideale Absicht, welche diese oder jene Rasse, diesen oder jenen Staat zu besonderem Gedeihen auserlesen und zur Herrschaft über die anderen bestimmt hat. Diese teleologische Geschichtsbetrachtung ist neuerdings um so schärfer in prinzipiellen Gegensatz zu unserer monistischen Weltanschauung getreten, je sicherer sich diese letztere im gesamten Gebiete der organischen Natur als die allein berechtigte herausgestellt hat. In der gesamten Astronomie und Geologie, in dem weiten Gebiete der Physik und Chemie spricht heute niemand mehr von einer sittlichen Weltordnung, ebensowenig als von einem persönlichen Gölte, dessen »Hand mit Weisheit und Verstand alle Dinge geordnet hat«. Dasselbe gilt aber auch von dem gesamten Gebiete der Biologie, von der ganzen Verfassung und Geschichte der organischen Natur, zunächst den Menschen noch ausgenommen. Darwin hat uns in seiner Selektionstheorie nicht nur gezeigt, wie die zweckmäßigen Einrichtungen im Leben und im Körperbau der Tiere und Pflanzen ohne vorbedachten Zweck mechanisch entstanden sind, sondern er hat uns auch in seinem »Kampf ums Dasein« die gewaltige Naturmacht erkennen gelehrt, welche den ganzen Entwicklungsgang der organischen Welt seit vielen Jahren ununterbrochen beherrscht und regelt. Man könnte freilich sagen: der »Kampf ums Dasein« ist das »Überleben des Passendsten« oder der »Sieg des Besten«; das kann man aber nur, wenn man das Stärkere stets als das Beste (in moralischem Sinne!) betrachtet. Und überdies zeigt uns die ganze Geschichte der organischen Welt, daß neben dem überwiegenden Fortschritt zum Vollkommenen jederzeit auch einzelne Rückschritte zu niederen Zuständen vorkommen. Selbst die »Zielstrebigkeit« im Sinne Baers trägt durchaus keinen eigentlich moralischen Charakter![277]
Verhält es sich nun in der Völkergeschichte, die der Mensch in seinem anthropozentrischen Größenwahn die »Weltgeschichte« zu nennen liebt, etwa anders? Ist da überall und jederzeit ein höchstes moralisches Prinzip oder ein weiser Weltregent zu entdecken, der die Geschicke der Völker leitet? Die unbefangene Antwort kann heute, bei dem vorgeschrittenen Zustand unserer Naturgeschichte und Völkergeschichte, nur lauten: nein! Die Geschicke der Zweige des Menschengeschlechts, die als Rassen und Nationen seit Jahrtausenden um ihre Existenz und ihre Fortbildung gerungen haben, unterliegen genau denselben »ewigen, ehernen, großen Gesetzen« wie die Geschicke der ganzen organischen Welt, die seit vielen Jahrmillionen die Erde bevölkert.
Die Geologen unterscheiden in der »organischen Erdgeschichte«, soweit sie uns durch die Denkmäler der Versteinerungskunde bekannt ist, drei große Perioden: das primäre, sekundäre und tertiäre Zeitalter. Die Zeitdauer der ersteren soll nach einer neueren Berechnung mindestens 34 Millionen, die der zweiten 11, die der dritten 3 Millionen Jahre betragen haben (-nach anderen Berechnungen mehr als das Doppelte dieser Zeit! -). Die Geschichte des Wirbeltierstammes, aus dem unser eigenes Geschlecht entsprossen ist, liegt innerhalb dieses langen Zeitraumes klar vor unseren Augen; drei verschiedene Entwicklungsstufen der Vertebraten waren in jenen drei großen Perioden sukzessiv entwickelt; in der primären (paläozoischen) Periode die Fische, in dem sekundären (mesozoischen) Zeitalter die Reptilien, in dem tertiären (zänozoischen) die Säugetiere. Von diesen drei Hauptgruppen der Wirbeltiere nehmen die Fische den niedersten, die Reptilien einen mittleren, die Säugetiere den höchsten Rang der Vollkommenheit ein. Bei tieferem Eingehen in die Geschichte der drei Klassen finden wir, daß auch die einzelnen Ordnungen und Familien derselben innerhalb der drei Zeiträume sich fortschreitend zu höherer Vollkommenheit entwickelten. Kann man[278] nun diesen fortschreitenden Entwicklungsgang als Ausfluß einer bewußten zweckmäßigen Zielstrebigkeit oder einer sittlichen Weltordnung bezeichnen? Durchaus nicht! Denn die Selektionstheorie lehrt uns, daß der organische Fortschritt, ebenso wie die organische Differenzierung, eine notwendige Folge des Kampfes ums Dasein ist. Tausende von guten, schönen, bewunderungswürdigen Arten des Tier- und Pflanzenreiches sind im Laufe jener 48 Millionen Jahre zugrunde gegangen, weil sie anderen, stärkeren Platz machen mußten; diese Sieger im Kampfe ums Dasein waren aber nicht immer die edleren oder im moralischen Sinne vollkommeneren Formen.
Genau dasselbe gilt von der Völkergeschichte. Die bewunderungswürdige Kultur des klassischen Altertums ist zugrundegegangen, weil das Christentum dem ringenden Menschengeiste damals durch den. Glauben an einen liebenden Gott und die Hoffnung auf ein besseres jenseitiges Leben einen gewaltigen neuen Aufschwung verlieh. Der Papismus wurde zwar bald zur schamlosen Karikatur des reinen Christentums und zertrat schonungslos die Schätze der Erkenntnis, welche die hellenische Philosophie schon erworben hatte; aber er gewann die Weltherrschaft durch die Unwissenheit der blindgläubigen Massen. Erst die Reformation zerriß die Ketten dieser Geistesknechtschaft und verhalf wieder den Ansprüchen der Vernunft teilweise zu ihrem Rechte. Aber auch in dieser neuen, wie in jenen früheren Perioden der Kulturgeschichte, wogt ewig und unerbittlich der große Kampf ums Dasein hin und her, ohne jede Spur von moralischer Ordnung.
So wenig bei unbefangener und kritischer Betrachtung eine »moralische Weltordnung« im Gange der Völkergeschichte nachzuweisen ist, ebensowenig können wir eine »weise Vorsehung« im Schicksal der einzelnen Menschen anerkennen. Dieses wie jener wird mit eiserner Notwendigkeit durch die mechanische Kausalität bestimmt, welche jede Erscheinung aus einer oder mehreren vorhergehenden Ursachen[279] ableitet. Schon die alten Hellenen erkannten als höchstes Weltprinzip die Ananke, die blinde Heimarmene, das Fatum, das »Götter und Menschen beherrscht«. An ihre Stelle trat im Christentum die bewußte Vorsehung, welche nicht blind, sondern sehend ist, und welche die Weltregierung als patriarchalischer Herrscher führt. Der anthropomorphe Charakter dieser Vorstellung, die sich gewöhnlich mit derjenigen des »persönlichen Gottes« eng verknüpft, liegt auf der Hand. Der Glaube an einen »liebenden Vater«, der die Geschicke von 1500 Millionen Menschen auf unserem Planeten unablässig lenkt und dabei die millionenfach sich kreuzenden Gebete und »frommen Wünsche« derselben jederzeit berücksichtigt, ist vollkommen unhaltbar: das ergibt sich sofort, wenn die Vernunft beim Nachdenken darüber die farbige Brille des »Glaubens« ablegt.
Gewöhnlich pflegt bei dem modernen Kulturmenschen – geradeso wie beim ungebildeten Wilden – der Glaube an die Vorsehung und die Zuversicht zum liebenden Vater dann sich lebhaft einzustellen, wenn ihm irgend etwas Glückliches begegnet ist: Errettung aus Lebensgefahr, Heilung von schwerer Krankheit, Gewinn des großen Loses in der Lotterie, Geburt eines lang ersehnten Kindes usw. Wenn dagegen irgendein Unglück passiert oder ein heißer Wunsch nicht erfüllt wird, wenn uns unverschuldet schweres Leid trifft oder empörende Ungerechtigkeit widerfährt, dann ist die »Vorsehung« vergessen; der weise Weltregent hat dann geschlafen oder seinen Segen verweigert.
Bei dem ungeheueren Aufschwung des Verkehrs im neunzehnten Jahrhundert hat notwendig die Zahl der Verbrechen und Unglücksfälle in einem früher nicht geahnten Maße zugenommen; das erfahren wir tagtäglich durch die Zeitungen. In jedem Jahre gehen Tausende von Menschen zugrunde durch Schiffbrüche, Tausende durch Eisenbahnunglücke, Tausende durch Bergwerkskatastrophen usw. Viele[280] Tausende töten sich alle Jahre im Kriege, und die Zurüstung für diesen Massenmord nimmt bei den höchstentwickelten, die christliche Liebe bekennenden Kulturnationen den weitaus größten Teil des Nationalvermögens in Anspruch. Und unter jenen Hunderttausenden, die alljährlich als Opfer der modernen Zivilisation fallen, befinden sich überwiegend tüchtige, tatkräftige, arbeitsame Menschen. Dabei redet man noch von sittlicher Weltordnung! Es soll durchaus nicht bestritten werden, daß der heute noch herrschende und in den Schulen gelehrte Glaube an eine »sittliche Weltordnung« – ebenso wie eine »liebevolle Vorsehung« – einen hohen Idealwert besitzt. Er tröstet die Leidenden, stärkt die Schwachen, erhebt im Unglück; er befriedigt unser zweifelndes Gemüt und versetzt uns in eine Idealwelt des »Jenseits«, in welcher die Mängel des irdischen Daseins im »Diesseits« überwunden sind. Solange der Mensch kindlich und unerfahren genug bleibt, mag er sich mit diesen Gebilden der Dichtung begnügen. Allein das fortgeschrittene Kulturleben der Gegenwart reißt ihn gewaltsam aus jener schönen Idealwelt heraus und stellt ihn vor Aufgaben, zu deren Lösung ihn nur die vernünftige Erkenntnis der Wirklichkeit befähigt. Unzweifelhaft wird die frühzeitige Anpassung an diese Realwelt, zweckmäßig in den Unterricht eingeführt und auf die moderne Entwicklungslehre gestützt, den höher gebildeten Menschen der Zukunft nicht allein vernünftiger und vorurteilsfreier, sondern auch besser und glücklicher machen.
Wenn uns unbefangene Prüfung der Weltentwicklung lehrt, daß dabei weder ein bestimmtes Ziel noch ein besonderer Zweck (im Sinne der menschlichen Vernunft!) nachzuweisen ist, so scheint nichts übrig zu bleiben, als alles dem »blinden Zufall« zu überlassen. Dieser Vorwurf ist in der Tat ebenso dem Transformismus von Lamarck und Darwin wie früher der Kosmogenie von Kant und Laplace entgegengehalten worden; viele dualistische Philosophen legen gerade hierauf besonders Gewicht. Es verlohnt sich[281] daher wohl der Mühe, hier noch einen kurzen Blick darauf zu werfen.
Die eine Gruppe der Philosophen behauptet nach ihrer teleologischen Auffassung: die ganze Welt ist ein geordneter Kosmos, in dem alle Erscheinungen Ziel und Zweck haben; es gibt keinen Zufall! Die andere Gruppe dagegen meint gemäß ihrer mechanistischen Auffassung: die Entwicklung der ganzen Welt ist ein einheitlicher mechanischer Prozeß, in dem wir nirgends Ziel und Zweck entdecken können; was wir im organischen Leben so nennen, ist eine besondere Folge der biologischen Verhältnisse; weder in der Entwicklung der Weltkörper noch in derjenigen unserer organischen Erdrinde ist ein leitender Zweck nachzuweisen; hier ist alles Zufall! Beide Parteien haben recht, je nach der Definition des »Zufalls«. Das allgemeine Kausalgesetz, in Verbindung mit dem Sub stanzgesetz, überzeugt uns, daß jede Erscheinung ihre mechanische Ursache hat; in diesem Sinne gibt es keinen Zufall. Wohl aber können und müssen wir diesen unentbehrlichen Begriff beibehalten, um damit das Zusammentreffen von zwei Erscheinungen zu bezeichnen, die nicht unter sich kausal verknüpft sind, von denen aber natürlich jede ihre Ursache hat unabhängig von der anderen. Wie jedermann weiß, spielt der Zufall in diesem monistischen Sinne die größte Rolle im Leben des Menschen wie in demjenigen aller anderen Naturkörper. Das hindert aber nicht, daß wir in jedem einzelnen »Zufall« wie in der Entwicklung des Weltganzen die universale Herrschaft des umfassendsten Naturgesetzes anerkennen, des Substanzgesetzes.[282]
Monistische Studien über Theismus und Pantheismus.
Der anthropistische Monotheismus der drei grossen Mediterran-Religionen.
Extramundaner und intramundaner Gott.
Als letzten und höchsten Urgrund aller Erscheinungen betrachtet die Menschheit seit Jahrtausenden eine bewirkende Ursache unter dem Begriffe Gott (Deus, Theos). Wie alle anderen allgemeinen Begriffe, so ist auch dieser höchste Grundbegriff im Laufe der Vernunftentwicklung den bedeutendsten Umbildungen und den mannigfaltigsten Abartungen unterworfen gewesen. Ja, man kann sagen, daß kein anderer Begriff so sehr umgestaltet und abgeändert worden ist; denn kein anderer berührt in gleich hohem Maße sowohl die höchsten Aufgaben des erkennenden Verstandes und der vernünftigen Wissenschaft als auch zugleich die tiefsten Interessen des gläubigen Gemütes und der dichtenden Phantasie.
Eine vergleichende Kritik der zahlreichen verschiedenen Hauptformen der Gottesvorstellung ist zwar höchst interessant und lehrreich, würde uns aber hier viel zu weit führen; wir müssen uns damit begnügen, nur auf die wichtigsten Gestaltungen der Gottesidee und auf ihre Beziehung zu unserer heutigen, durch die reine Naturerkenntnis bedingten Weltanschauung einen flüchtigen Blick zu werfen. Für alle weiteren Untersuchungen über dieses interessante Gebiet verweisen wir auf das ausgezeichnete,[283] mehrfach zitierte Werk von Adalbert Svoboda: »Gestalten des Glaubens« (2 Bände. Leipzig 1897).
Wenn wir von allen feineren Abtönungen und bunten Gewandungen des Gottesbildes absehen, können wir füglich – mit Beschränkung auf den tiefsten Inhalt desselben – alle verschiedenen Vorstellungen darüber in zwei entgegengesetzte Hauptgruppen ordnen, in die theistische und die pantheistische Gruppe. Die letztere ist eng verknüpft mit der monistischen oder rationellen, die erstere mit der dualistischen oder mystischen Weltanschauung.
I. Theismus: Gott und Welt sind zwei verschiedene Wesen. Gott steht der Welt gegenüber als deren Schöpfer, Erhalter und Regierer. Dabei wird Gott stets mehr oder weniger menschenähnlich gedacht, als ein Organismus, welcher dem Menschen ähnlich (wenn auch in höchst vollkommener Form) denkt und handelt. Dieser anthropomorphe Gott, offenbar polyphyletisch von den verschiedenen Naturvölkern er dacht, unterliegt in deren Phantasie bereits den mannigfaltigsten Abstufungen, vom Fetischismus aufwärts bis zu den geläuterten monotheistischen Religionen der Gegenwart. Als wichtigste Unterarten der theistischen Begriffsbildung unterscheiden wir Polytheismus, Triplotheismus, Amphitheismus und Monotheismus.
Polytheismus (Vielgötterei): Die Welt ist von vielen verschiedenen Göttern bevölkert, welche mehr oder weniger selbständig in deren Getriebe eingreifen. Der Fetischismus findet dergleichen untergeordnete Götter in den verschiedensten leblosen Naturkörpern, in den Steinen, im Wasser, in der Luft, in menschlichen Kunstprodukten aller Art (Götterbildern, Statuen usw.). Der Dämonismus erblickt Götter in lebendigen Organismen aller Art, in Bäumen, Tieren, Menschen. Diese Vielgötterei nimmt schon in den niedersten Religionsformen der rohen Naturvölker sehr mannigfaltige Formen an. Sie erscheint auf der höchsten Stufe geläutert im hellenischen Polytheismus, in jenen herrlichen Göttersagen[284] des alten Griechenlands, welche noch heute unserer modernen Kunst die schönsten Vorbilder für Poesie und Bildnerei liefern. Auf viel tieferer Stufe steht der katholische Polytheismus, in dem zahlreiche »Heilige« (oft von sehr zweifelhaftem Rufe!) als untergeordnete Gottheiten angebetet und um gütige Vermittlung beim obersten Gott (oder bei dessen Freundin und Tochter, der »Jungfrau Maria«) ersucht werden – eine jämmerliche Karikatur des christlichen »Monotheismus«!
Triplotheismus (Dreigötterei, Trinitätslehre): Die Lehre von der »Dreieinigkeit Gottes«, welche heute noch im Glaubensbekenntnis der christlichen Kulturvölker die grundlegenden »drei Glaubensartikel« bildet, gipfelt bekanntlich in der Vorstellung, daß der Eine Gott des Christentums eigentlich in Wahrheit aus drei Personen von verschiedenem Wesen sich zusammensetzt: 1. Gott der Vater ist der »allmächtige Schöpfer Himmels und der Erde« (dieser unhaltbare Mythus ist durch die wissenschaftliche Kosmogenie, Astronomie und Geologie längst widerlegt). 2. Jesus Christus ist der »eingeborene Sohn Gottes des Vaters« (und zugleich der dritten Person, des »Heiligen Geistes«!!), erzeugt durch unbefleckte Empfängnis der Jungfrau Maria (über diesen Mythus vergl. Kapitel 17). 3. Der Heilige Geist, ein mystisches Wesen, über dessen unbegreifliches Verhältnis zum »Sohne« und zum Vater sich Millionen von christlichen Theologen seit 1900 Jahren den Kopf ganz umsonst zerbrochen haben. Die Evangelien, die doch die einzigen lauteren Quellen dieses christlichen Triplotheismus sind, lassen uns über die eigentlichen Beziehungen dieser drei Personen zueinander völlig im Dunkeln und geben auf die Frage nach ihrer rätselhaften Einheit keine irgend befriedigende Antwort. Dagegen müssen wir besonders darauf hinweisen, welche Verwirrung diese unklare und mystische Trinitätslehre in den Köpfen unserer Kinder schon beim ersten Schulunterricht notwendig anrichten muß. Montag morgens in der ersten Unterrichtsstunde[285] (Religion) lernen sie: dreimal eins ist eins! – und gleich darauf in der zweiten Stunde (Rechnen): dreimal eins ist drei! Ich erinnere mich selbst sehr wohl noch der Bedenken, welche dieser auffällige Widerspruch in mir schon beim ersten Unterricht erregte. – Übrigens ist die »Dreieinigkeit« im Christentum keineswegs originell, sondern gleich den meisten anderen Lehren desselben aus älteren Religionen übernommen. Aus dem Sonnendienste der chaldäischen Magier entwickelt sich die Trinität der Ilu, der geheimnisvollen Urquelle der Welt; ihre drei Offenbarungen waren Anu, das ursprüngliche Chaos, Bei, der Ordner der Welt, und Ao, das himmlische Licht, die alles erleuchtende Weisheit. – In der Brahmanenreligion wird die Trimurti als »Gotteseinheit« ebenfalls aus drei Personen zusammengesetzt, aus Brahma (dem Schöpfer), Wischnu (dem. Erhalter) und Schiwa (dem Zerstörer). Es scheint, daß in diesen wie in anderen Trinitätsvorstellungen die »heilige Dreizahl« als solche – als »symbolische Zahl« – eine Rolle gespielt hat. Auch die drei ersten Christenpflichten: »Glaube, Liebe, Hoffnung«, bilden eine solche Triade.
Amphitheismus (Zweigötterei): Die Welt wird von zwei verschiedenen Göttern regiert, einem guten und einem bösen Wesen, Gott und Teufel. Beide Weltregenten befinden sich in einem beständigen Kampfe, wie Kaiser und Gegenkaiser, Papst und Gegenpast. Das Ergebnis dieses Kampfes ist jederzeit der gegenwärtige Zustand der Welt. Der liebe Gott, als das gute Wesen, ist der Urquell des Guten und Schönen, der Lust und Freude. Die Welt würde vollkommen sein, wenn sein Wirken nicht beständig durchkreuzt würde von dem bösen Wesen, dem Teufel; dieser schlimme Satanas ist die Ursache alles Bösen und Häßlichen, der Unlust und des Schmerzes.
Dieser Amphitheismus ist unter allen verschiedenen Formen des Götterglaubens insofern der vernünftigste, als sich seine Theorie am ersten mit einer wissenschaftlichen Welterklärung verträgt. Wir finden[286] ihn daher schon mehrere Jahrtausende vor Christus bei verschiedenen Kulturvölkern des Altertums ausgebildet. Im alten Indien kämpft Wischnu, der Erhalter, mit Schiwa, dem Zerstörer. Im alten Ägypten steht dem guten Osiris der böse Typhon gegenüber. Bei den ältesten Hebräern besteht ein ähnlicher Dualismus zwischen Aschera, der fruchtbar zeugenden Erdmutter (= Keturah), und Eljou (= Moloch oder Sethos), dem strengen Himmelsvater. In der Zendreligi von der alten Perser, von Zoroaster 2000 Jahre vor Christus gegründet, herrscht beständiger Kampf zwischen Ormudz, dem guten Gott des Lichtes, und Ahriman, dem bösen Gott der Finsternis.
Keine geringere Rolle spielt der Teufel als Gegner des guten Gottes in der Mythologie des Christentums als der Versucher und Verführer, der Fürst der Hölle und Herr der Finsternis. Als persönlicher Satanas war er auch noch im Anfange des neunzehnten Jahrhunderts ein wesentliches Element im Glauben der meisten Christen; erst gegen die Mitte desselben wurde er mit zunehmender Aufklärung allmählich abgesetzt, oder er mußte sich mit jener untergeordneten Rolle begnügen, welche ihm Goethe in der größten aller dramatischen Dichtungen, im »Faust«, als Mephistopheles zuteilt. Gegenwärtig gilt in den besseren gebildeten Kreisen der »Glaube an den persönlichen Teufel« als ein überwundener Aberglaube des Mittelalters, während gleichzeitig der »Glaube an Gott« (d.h. den persönlichen, guten und lieben Gott) als ein unentbehrlicher Bestandteil der Religion festgehalten wird. Und doch ist der erstere Glaube ebenso voll berechtigt (und ebenso haltlos!) wie der letztere! Jedenfalls erklärt sich die vielbeklagte »Unvollkommenheit des Erdenlebens«, der »Kampf ums Dasein«, und was dazu gehört, viel einfacher und natürlicher durch diesen unentschiedenen Kampf des guten und des bösen Gottes, als durch irgendwelche andere Form des Gottesglaubens.
Monotheismus (Eingötterei). Die Lehre von der Einheit Gottes kann in vieler Beziehung als die einfachste[287] und natürlichste Form der Gottesverehrung gelten; nach der herrschenden Meinung ist sie die weitestverbreitete Grundlage der Religion und beherrscht namentlich den Kirchenglauben der Kulturvölker. Tatsächlich ist dies jedoch nicht der Fall; denn der angebliche Monotheismus erweist sich bei näherer Betrachtung meistens als eine der vorher angeführten Formen des Theismus, indem neben dem obersten »Hauptgotte« noch einer oder mehrere Nebengötter angebetet werden. Auch sind die meisten Religionen, welche einen rein monotheistischen Ausgangspunkt haben, im Laufe der Zeit mehr oder minder polytheistisch geworden. Allerdings behauptet die moderne Statistik, daß unter den 1500 Millionen Menschen, welche unsere Erde bevölkern, die große Mehrzahl Monotheisten seien; angeblich sollen davon ungefähr 600 Millionen Brahmabuddhisten sein, 300 Millionen (sogenannte!) Christen, 200 Millionen Heiden (verschiedenster Sorte), 180 Millionen Mohammedaner, 10 Millionen Israeliten und 10 Millionen ganz religionslos. Allein die große Mehrzahl der angeblichen Monotheisten hat ganz unklare Gottesvorstellungen oder glaubt neben dem einen Hauptgott auch noch an viele Nebengötter, als da sind: Engel, Teufel, Dämonen usw. Die verschiedenen Formen, in denen der Monotheismus sich polyphyletisch entwickelt hat, können wir in zwei Hauptgruppen bringen: naturalistische und anthropistische Eingötterei.
Der naturalistische Monotheismus erblickt die Verkörperung Gottes in einer erhabenen, alles beherrschenden Naturerscheinung. Als solche imponierte schon vor vielen Jahrtausenden den Menschen vor allem die Sonne, die leuchtende und erwärmende Gottheit, von deren Einfluß sichtlich alles organische Leben unmittelbar abhängig ist. Der Sonnenkultus (Solarismus oder Heliotheismus) erscheint für den modernen Naturforscher wohl unter allen theistischen Glaubensformen als die würdigste und als diejenige, welche am leichtesten mit der monistischen Naturphilosophie der Gegenwart sich verschmelzen[288] läßt. Denn unsere moderne Astrophysik und Geogenie hat uns überzeugt, daß die Erde ein abgelöster Teil der Sonne ist und später wieder in deren Schoß zurückkehren wird. Die moderne Physiologie lehrt uns, daß der erste Urquell des organischen Lebens auf der Erde die Plasmabildung oder Plasmodomie ist und daß diese Synthese von einfachen anorganischen Verbindungen, von Wasser, Kohlensäure und Ammoniak (oder Salpetersäure), nur unter dem Einflusse des Sonnenlichtes erfolgt. Auf die primäre Entwicklung der plasmo domen Pflanzen ist erst nachträglich, sekundär, diejenige der plasmophagen Tiere gefolgt, die sich direkt oder indirekt von ihnen nähren; und die Entstehung des Menschengeschlechtes selbst ist wiederum nur ein späterer Vorgang in der Stammesgeschichte des Tierreichs. Auch unser gesamtes körperliches und geistiges Menschenleben ist ebenso wie alles andere organische Leben im letzten Grunde auf die strahlende, Licht und Wärme spendende Sonne zurückzuführen. Im Lichte der reinen Vernunft betrachtet, erscheint daher der Sonnenkultus als naturalistischer Monotheismus weit besser begründet als der anthropistische Gottesdienst der Christen und anderer Kulturvölker, welche Gott in Menschengestalt sich vorstellen. Tatsächlich haben auch schon vor Jahrtausenden die Sonnenanbeter sich auf eine höhere intellektuelle und moralische Bildungsstufe erhoben als die meisten anderen Theisten. Als ich im November 1881 in Bombay war, betrachtete ich mit der größten Teilnahme die erhebenden Andachtsübungen der frommen Parsi, welche beim Aufgang und Untergang der Sonne, am Meeresstrande stehend oder auf ausgebreitetem Teppich kniend, dem kommenden und scheidenden Tagesgestirn ihre Verehrung bezeugten. Weniger bedeutend als dieser Solarismus ist der Lunarismus oder Selenotheismus, der Mondkultus; wenn auch einige Naturvölker den Mond allein als Gottheit verehren, so werden doch meistens daneben noch die Sterne und die Sonne angebetet.[289]
Die Vermenschlichung Gottes, die Vorstellung, daß das »höchste Wesen« dem Menschen gleich empfindet, denkt und handelt (wenn auch in erhabenster Form) spielt als anthropomorpher Monotheismus die größte Rolle in der Kulturgeschichte. Vor allen anderen treten hier in den Vordergrund die drei großen Religionen der mediterranen Menschenart, die ältere mosaische, die mittlere christliche und die jüngere mohammedanische. Diese drei großen Mittelmeerreligionen, alle drei an der gesegneten Ostküste des interessantesten aller Meere entstanden, alle drei in ähnlicher Weise von einem phantasiereichen Schwärmer semitischer Rasse gestiftet, hängen nicht nur äußerlich durch diesen gemeinsamen Ursprung innig zusammen, sondern auch durch zahlreiche gemeinsame Züge ihrer inneren Glaubensvorstellungen. Wie das Christentum einen großen Teil seiner Mythologie aus dem älteren Judentum direkt übernommen hat, so hat der jüngere Islam wiederum von diesen beiden Religionen viele Erbschaften beibehalten. Alle drei Mediterranreligionen waren ursprünglich rein monotheistisch; alle drei sind späterhin den mannigfaltigsten polytheistischen Umbildungen unterlegen, je weiter sie sich zunächst an den vielteiligen Küsten des mannigfach bevölkerten Mittelmeeres und sodann in den übrigen Erdteilen ausbreiteten.
Der jüdische Monotheismus, wie ihn Moses (1600 vor Chr.) begründete, gilt gewöhnlich als diejenige Glaubensform des Altertums, welche die höchste Bedeutung für die weitere ethische und religiöse Entwicklung der Menschheit besitzt. Unzweifelhaft ist ihr dieser hohe historische Wert schon deshalb zuzugestehen, weil die beiden anderen weltbeherrschenden Mediterranreligionen aus ihr hervorgegangen sind; Christus steht ebenso auf den Schultern von Moses wie später Mohammed auf den Schultern von Christus. Ebenso ruht das Neue Testament, welches in der kurzen Zeitspanne von 1900 Jahren das Glaubensfundament der höchstentwickelten Kulturvölker gebildet hat, auf der ehrwürdigen Basis des Alten Testaments.[290] Beide zusammengenommen haben als Bibel einen Einfluß und eine Verbreitung gewonnen wie kein anderes Buch in der Welt. Tatsächlich ist ja noch heute in gewisser Beziehung die Bibel – trotz ihrer seltsamen Mischung aus den besten und den schlechtesten Bestandteilen! – das »Buch der Bücher«. Wenn wir aber diese merkwürdige Geschichtsquelle unbefangen und vorurteilslos prüfen, so stellen sich viele wichtige Beziehungen ganz anders dar, als überall gelehrt wird. Auch hier hat die tiefer eindringende moderne Kritik und Kulturgeschichte wichtige Aufschlüsse geliefert, welche die geltende Tradition in ihren tiefsten Fundamenten erschüttern.
Der Monotheismus, wie ihn Moses im Jehovadienste zu begründen suchte, und wie ihn später mit großem Erfolge die Propheten – die Philosophen der Hebräer – ausbildeten, hatte ursprünglich harte und lange Kämpfe mit dem herrschenden älteren Polytheismus zu bestehen. Ursprünglich war Jehova oder Jahve aus jenem Himmelsgotte abgeleitet, der als Moloch oder Baal eine der meist verehrten orientalischen Gottheiten war (Sethos oder Typhon der Ägypter, Saturnus oder Kronos der Griechen). Die vielbesprochenen Forschungen der modernen Assyriologen über »Bibel und Babel« (Delitzsch u. a.) haben gelehrt, daß der monotheistische Jahveglaube schon lange vor Moses in Babylon heimisch war. Daneben aber blieben andere Götter vielfach in hohem Ansehen, und der Kampf mit der »Abgötterei« bestand im jüdischen Volke immer fort. Trotzdem blieb im Prinzipe Jehova der alleinige Gott, der im ersten der zehn Gebote Mosis ausdrücklich sagt: »Ich bin der Herr dein Gott, du sollst nicht andere Götter haben neben mir.«
Der christliche Monotheismus teilte das Schicksal seiner Mutter, des Mosaismus, und blieb wahre Eingötterei meistens nur theoretisch im Prinzip, während er praktisch in die mannigfaltigsten Formen des Polytheismus sich verwandelte. Eigentlich war ja schon in der Trinitätslehre selbst, die doch als ein unentbehrliches[291] Fundament der christlichen Religion gilt, der Monotheismus logischerweise aufgegeben. Die drei Personen, die als Vater, Sohn und Heiliger Geist unterschieden werden, sind und bleiben ebenso drei verschiedene Individuen (und zwar anthropomorphe Personen!) wie die drei indischen Gottheiten der Trimurti (Brahma, Wischnu, Schiwa) oder wie die Trinität der alten Hebräer (Anu, Bei, Ao). Dazu kommt noch, daß in den weitestverbreiteten Abarten des Christianismus als vierte Gottheit die Jungfrau Maria, als unbefleckte Mutter Christi, eine große Rolle spielt; in weiten katholischen Kreisen gilt sie sogar als viel wichtiger und einflußreicher als die drei männlichen Personen der Himmelsregierung. Der Madonnenkultus hat hier tatsächlich eine solche Bedeutung gewonnen, daß man ihn als einen weiblichen Monotheismus der gewöhnlichen männlichen Form der Eingötterei gegenüberstellen kann. Die »hehre Himmelskönigin« erscheint hier so sehr im Vordergrund aller Vorstellungen (wie es auch unzählige Madonnenbilder und Sagen bezeugen), daß die drei männlichen Personen der Trinität dagegen ganz zurücktreten.
Nun hat sich aber außerdem schon frühzeitig in der Phantasie der gläubigen Christen eine zahlreiche Gesellschaft von »Heiligen« aller Art zu dieser obersten Himmelsregierung gesellt, und musikalische Engel sorgen dafür, daß es im »ewigen Leben« an Konzert genüssen nicht fehlt. Die römischen Päpste – die größten Charlatans, die jemals eine Religion hervorgebracht hat! – sind beständig beflissen, durch neue Heiligsprechungen die Zahl dieser anthropomorphen Himmelstrabanten zu vermehren. Den reichsten und interessantesten Zuwachs hat aber diese seltsame Paradiesgesellschaft am 13. Juli 1870 dadurch bekommen, daß das vatikanische Konzil die Päpste als Stellvertreter Christi für unfehlbar erklärt und sie damit selbst zum Range von Göttern erhoben hat. Nimmt man dazu noch den von ihnen anerkannten »persönlichen Teufel« und die »bösen Engel«,[292] welche seinen Hofstaat bilden, so gewährt uns der Papismus, die heute noch weitestverbreitete Form des modernen Christentums, ein so buntes Bild des reichsten Polytheismus, daß der hellenische Olymp dagegen klein und dürftig erscheint.
Der Islam (oder der mohammedanische Monotheismus) ist die jüngste und zugleich die reinste Form der Eingötterei. Als der junge Mohammed (geb. 570) frühzeitig den polytheistischen Gottesdienst seiner arabischen Stammesgenossen verachten und das Christentum der Nestorianer kennen lernte, eignete er sich zwar deren Grundlehren im allgemeinen an; er konnte sich aber nicht entschließen, in Christus etwas anderes zu erblicken als einen Propheten, gleich Moses. Im Dogma der Dreieinigkeit fand er nur das, was bei unbefangenem Nachdenken jeder vorurteilsfreie Mensch darin finden muß, einen widersinnigen Glaubenssatz, der weder mit den Grundsätzen unserer Vernunft vereinbar noch für unsere religiöse Erhebung von irgendwelchem Werte ist. Die Anbetung der unbefleckten Jungfrau Maria als der »Mutter Gottes« betrachtete er mit Recht ebenso als eitle Götzendienerei wie die Verehrung von Bildern und Bildsäulen. Je länger er darüber nachdachte, und je mehr er nach einer reineren Gottesvorstellung hinstrebte, desto klarer wurde ihm die Gewißheit seines Hauptsatzes: »Gott ist der alleinige Gott«; es gibt keine anderen Götter neben ihm.
Allerdings konnte auch Mohammed sich von dem Anthropomorphismus der Gottesvorstellung nicht frei machen. Auch sein alleiniger Gott blieb ein idealisierter, allmächtiger Mensch, ebenso wie der strenge, strafende Gott des Moses, ebenso wie der milde, liebende Gott des Christus. Aber trotzdem müssen wir der mohammedanischen Religion den Vorzug lassen, daß sie auch im Verlaufe ihrer historischen Entwicklung und der unvermeidlichen Abartung den Charakter des reinen Monotheismus viel strenger bewahrte als die mosaische und die christliche Religion. Das zeigt sich auch heute noch äußerlich in[293] den Gebetsformen und Predigtweisen ihres Kultus wie in der Architektur und Ausschmückung ihrer Gotteshäuser. Als ich 1873 zum ersten Male den Orient besuchte und die herrlichen Moscheen in Kairo und Smyrna, in Brussa und Konstantinopel bewunderte, erfüllten mich mit wahrer Andacht die einfache und geschmackvolle Dekoration des Inneren, der erhabene und zugleich prächtige architektonische Schmuck des Äußeren. Wie edel und erhaben erscheinen die Moscheen im Vergleiche zu der Mehrzahl der katholischen Kirchen, welche innen mit bunten Bildern und goldenem Flitterkram überladen, außen durch übermäßige Fülle von Menschen- und Tierfiguren verunstaltet sind! Nicht minder erhaben erscheinen die stillen Gebete und die einfachen Andachtsübungen des Koran im Vergleiche mit dem lauten, unverstandenen Wortgeplapper der katholischen Messen und der lärmenden Musik ihrer theatralischen Prozessionen.
Unter dem Begriffe Mixotheismus (Mischgötterei) kann man füglich alle diejenigen Formen des Götterglaubens zusammenfassen, welche Mischlingen von religiösen Vorstellungen verschiedener und zum Teil direkt widersprechender Art enthalten. Theoretisch ist diese weitestverbreitete Religionsform bisher nirgends anerkannt. Praktisch aber ist sie die wichtigste und merkwürdigste von allen. Denn die große Mehrzahl aller Menschen, die sich überhaupt religiöse Vorstellungen bildeten, waren von jeher und sind noch heute Mixotheisten; ihre Gottesvorstellung ist bunt gemischt aus den frühzeitig in der Kindheit eingeprägten Glaubenssätzen ihrer speziellen Konfession und aus vielen verschiedenen Eindrücken, welche später bei der Berührung mit anderen Glaubensformen empfangen werden, und welche die ersteren modifizieren. Bei vielen Gebildeten kommen dazu noch der umgestaltende Einfluß philosophischer Studien im reiferen Alter und vor allem die unbefangene Beschäftigung mit den Erscheinungen der Natur, welche die Nichtigkeit der theistischen Glaubensbilder[294] dartun. Der Kampf dieser widersprechenden Vorstellungen, welcher für feiner empfindende Gemüter äußerst schmerzlich ist und oft das ganze Leben hindurch unentschieden bleibt, offenbart klar die ungeheure Macht der Vererbung alter Glaubenssätze einerseits und der frühzeitigen Anpassung an irrtümliche Lehren andererseits. Die besondere Konfession, in welche das Kind von frühester Jugend an durch die Eltern eingezwängt wurde, bleibt meistens in der Hauptsache maßgebend, falls nicht später durch den stärkeren Einfluß eines anderen Glaubensbekenntnisses eine Konversion eintritt. Aber auch bei diesem Übertritt von einer Glaubensform zur anderen ist oft der neue Name, ebenso wie der alte aufgegebene, nur eine äußere Etikette, unter welcher bei näherer Untersuchung die allerverschiedensten Überzeugungen und Irrtümer bunt gemischt sich verstecken. Die große Mehrzahl der sogenannten Christen sind nicht Monotheisten (wie sie glauben), sondern Amphitheisten, Triplotheisten oder Polytheisten. Dasselbe gilt aber auch von den Bekennern des Islam und des Mosaismus, wie von anderen monotheistischen Religionen. Überall gesellen sich zu der ursprünglichen Vorstellung des »alleinigen oder dreieinigen Gottes« später erworbene Glaubensbilder von untergeordneten Gottheiten: Engeln, Teufeln, Heiligen und anderen Dämonen, eine bunte Mischung der verschiedensten theistischen Gestalten.
Alle hier angeführten Formen des Theismus im eigentlichen Sinne – gleichviel, ob dieser Gottesglaube eine naturalistische oder anthropistische Form annimmt – haben gemeinsam die Vorstellung Gottes als des Außerweltlichen (Extramundanum) oder Übernatürlichen (Supranaturale). Immer steht Gott als selbständiges Wesen der Welt oder der Natur gegenüber, meistens als Schöpfer, Erhalter und Regierer der Welt. In den allermeisten Religionen kommt dazu noch der Charakter des Persönlichen und bestimmter noch die Vorstellung, daß Gott als Person dem Menschen ähnlich ist. »In seinen Göttern[295] malet sich der Mensch.« Dieser Anthropomorphismus Gottes oder die anthropistische Vorstellung eines Wesens, welches gleich dem Menschen denkt, empfindet und handelt, ist bei der großen Mehrzahl der Gottesgläubigen maßgebend, bald in mehr roher und naiver, bald in mehr feiner und abstrakter Form. Allerdings wird die fortgeschrittenste Form der Theosophie behaupten, daß Gott als höchstes Wesen von absoluter Vollkommenheit und daher gänzlich von dem unvollkommenen Wesen des Menschen verschieden sei. Allein bei genauerer Untersuchung bleibt immer das Gemeinsame beider ihre Seelen- oder Geistestätigkeit. Gott empfindet, denkt und handelt wie der Mensch, wenn auch in unendlich vollkommenerer Form.
Der persönliche Anthropismus Gottes ist bei der großen Mehrzahl der Gläubigen zu einer so natürlichen Vorstellung geworden, daß sie keinen Anstoß an der menschlichen Personifikation Gottes in Bildern und Statuen nehmen, und an den mannigfaltigen Dichtungen der Phantasie, in welchen Gott menschliche Gestalt annimmt, d.h. sich in ein Wirbeltier verwandelt. In vielen Mythen erscheint die Person Gottes auch in Gestalt anderer Säugetiere (Affen, Löwen, Stiere usw.), seltener in Gestalt von Vögeln (Adler, Tauben, Störche) oder in Form von anderen Wirbeltieren (Schlangen, Krokodile, Drachen).
In den höheren und abstrakteren Religionsformen wird diese körperliche Erscheinung aufgegeben und Gott nur als »reiner Geist« ohne Körper verehrt. »Gott ist ein Geist, und wer ihn anbetet, soll ihn im Geist und in der Wahrheit anbeten.« Trotzdem bleibt aber die reine Seelentätigkeit dieses reinen Geistes ganz dieselbe wie diejenige der anthropomorphen Gottesperson. In Wirklichkeit wird auch dieser immaterielle Geist nicht unkörperlich, sondern unsichtbar gedacht, gasförmig. Dieser Anthropismus führt zu der paradoxen Vorstellung Gottes als sogenannten »gasförmigen Wirbeltieres« (1866).
II. Pantheismus (All-Eins-Lehre): Gott und Welt[296] sind ein einziges Wesen. Der Begriff Gottes fällt mit demjenigen der Natur oder der Substanz zusammen. Diese pantheistische Weltanschauung steht im Prinzip sämtlichen angeführten und allen sonst noch möglichen Formen des Theismus schroff gegenüber, wenngleich man durch Entgegenkommen von beiden Seiten die tiefe Kluft zwischen beiden zu überbrücken sich vielfach bemüht hat. Immer bleibt zwischen beiden der fundamentale Gegensatz bestehen, daß im Theismus Gott als extramundanes Wesen der Natur schaffend und erhaltend gegenübersteht und von außen auf sie einwirkt, während im Pantheismus Gott als intramundanes Wesen allenthalben die Natur selbst ist und im Inneren der Substanz als »Kraft oder Energie« tätig ist. Diese letztere Ansicht allein ist vereinbar mit jenem höchsten Naturgesetze, dessen Erkenntnis einen der größten Triumphe des neunzehnten Jahrhunderts bildet, mit dem Substanzgesetze. Daher ist notwendigerweise der Pantheismus die Weltanschauung unserer modernen Naturwissenschaft. Freilich gibt es auch heute noch nicht wenige Naturforscher, welche diesen Satz bestreiten und welche meinen, die alte theistische Beurteilung des Menschen mit dem pantheistischen Grundgedanken des Substanzgesetzes vereinigen zu können. Indessen beruhen alle diese vergeblichen Bemühungen auf Unklarheit oder Inkonsequenz des Denkens, falls sie überhaupt aufrichtig und ehrlich gemeint sind. Das gilt auch vom modernen »Idealistischen Monismus«, der eigentlich »Pseudomonismus« ist.
Da der Pantheismus erst aus der geläuterten Naturbetrachtung des denkenden Kulturmenschen hervorgehen konnte, ist er begreiflicherweise viel jünger als der Theismus, dessen roheste Formensicher schon vor mehr als zehntausend Jahren bei den primitiven Naturvölkern in mannigfaltigen Variationen ausgebildet wurden. Wenn auch in den ersten Anfängen der Philosophie bei den ältesten Kulturvölkern (in Indien und Ägypten, in China und Japan) schon mehrere Jahrtausende vor Christus Keime des[297] Pantheismus in verschiedenen Religionsformen sich eingestreut finden, so tritt doch eine bestimmte philosophische Fassung desselben erst in dem Hylozoismus der ionischen Naturphilosophen auf, in der ersten Hälfte des sechsten Jahrhunderts v. Chr. Alle großen Denker dieser Blüteperiode des hellenischen Geistes überragt der gewaltige Anaximander von Milet, der die prinzipielle Einheit des unendlichen Weltganzen (Apeiron) tiefer und klarer erfaßte als sein Lehrer Thales und sein Schüler Anaximenes. Nicht nur den großen Gedanken der ursprünglichen Einheit des Kosmos, der Entwicklung aller Erscheinungen aus der alles durchdringenden Urmaterie, hatte Anaximander bereits ausgesprochen, sondern auch die kühne Vorstellung von zahllosen, in periodischem Wechsel entstehenden und vergehenden Weltbildungen.
Auch viele von den folgenden großen Philosophen des klassischen Altertums, vor allen Demokritos, Heraklitos und Empedokles, hatten in gleichem oder ähnlichem Sinne tief eindringend bereits jene Einheit von Natur und Gott, von Körper und Geist erfaßt, welche im Substanzgesetze unseres heutigen Monismus den bestimmtesten Ausdruck gewonnen hat. Der große römische Dichter und Naturphilosoph Lukretius Carus hat ihn in seinem berühmten Lehrgedichte »De rerum natura« in hochpoetischer Form dargestellt. Allein dieser naturwahre pantheistische Monismus wurde bald ganz zurückgedrängt durch den mystischen Dualismus von Plato und besonders durch den gewaltigen Einfluß, den seine idealistische Philosophie durch die Verschmelzung mit den christlichen Glaubenslehren gewann. Als sodann deren mächtigster Anwalt, der römische Papst, die geistige Weltherrschaft gewann, wurde der Pantheismus gewaltsam unterdrückt; Giordano Bruno, sein geistvoller Vertreter, wurde am 17. Februar 1600 auf dein Campo Fiori in Rom von dem »Stellvertreter Gottes« lebendig verbrannt.
Erst in der zweiten Hälfte des siebzehnten Jahrhunderts[298] wurde durch den großen Baruch Spinoza das System des Pantheismus in reinster Form ausgebildet; er stellte für die Gesamtheit der Dinge den reinen Substanzbegriff auf, in welchem »Gott und Welt« untrennbar vereinigt sind. Wir müssen die Klarheit, Sicherheit und Folgerichtigkeit des monistischen Systems von Spinoza heute um so mehr bewundern, als diesem gewaltigen Denker vor 250 Jahren noch alle die sicheren empirischen Fundamente fehlten, die wir erst in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts gewonnen haben. Das Verhältnis von Spinoza zum späteren Materialismus im achtzehnten und zu unserem heutigen Monismus im neunzehnten Jahrhundert haben wir bereits im ersten Kapitel besprochen. Zur weiteren Verbreitung desselben, besonders im deutschen Geistesleben, haben vor allem die unsterblichen Werke unseres größten Dichters und Denkers beigetragen. Wolfgang Goethe. Seine herrlichen Dichtungen »Gott und Welt«, »Prometheus«, »Faust« usw. hüllen die Grundgedanken des Pantheismus in die vollkommenste und schönste dichterische Form: »Gott und Natur sind Eins«.
Die Beziehungen unseres heutigen Monismus zu den früheren philosophischen Systemen, sowie die wichtigsten Grundzüge von deren historischer Entwicklung, sind in dem vortrefflichen »Grundriß der Geschichte der Philosophie« von Friedrich Überweg eingehend dargestellt (Zehnte Auflage, bearbeitet von Max Heinze, Berlin 1905). Eine vortreffliche klare Übersicht derselben – gewissermaßen eine »Stammesgeschichte der Welträtsel und der Versuche zu ihrer Lösung« – hat Fritz Schultze (Dresden) in seinem »Stammbaum der Philosophie« gegeben; ein »Tabellarisch-Schematischer Grundriß der Geschichte der Philosophie von den Griechen bis zur Gegenwart« (Leipzig, II. Aufl., 1899).
Atheismus (»die entgötterte Weltanschauung«): Es gibt keinen Gott und keine Götter, falls man unter diesem Begriff persönliche, außerhalb der Natur[299] stehende Wesen versteht. Diese »gottlose Weltanschauung« fällt im wesentlichen mit dem Monismus oder Pantheismus unserer modernen Naturwissenschaft zusammen; sie gibt nur einen anderen Ausdruck dafür, indem sie eine negative Seite derselben hervorhebt, die Nichtexistenz der extramundanen oder übernatürlichen Gottheit. In diesem Sinne sagt Schopenhauer ganz richtig: »Pantheismus ist nur ein höflicher Atheismus. Die Wahrheit des Pantheismus besteht in der Aufhebung des dualistischen Gegensatzes zwischen Gott und Welt, in der Erkenntnis, daß die Welt aus ihrer inneren Kraft und durch sich selbst da ist. Der Satz des Pantheismus: ›Gott und die Welt ist Eins‹ ist bloß eine höfliche Wendung, dem Herrgott den Abschied zu geben.«
Während des ganzen Mittelalters, unter der blutigen Tyrannei des Papismus, wurde der Atheismus als die entsetzlichste Form der Weltanschauung mit Feuer und Schwert verfolgt. Da der »Gottlose« im Evangelium mit dem »Bösen« schlechtweg identifiziert wird und ihm im ewigen Leben – bloß wegen »Glaubensmangels«! – die Höllenstrafe der ewigen Verdammnis angedroht wird, ist es begreiflich, daß jeder gute Christ selbst den entfernten Verdacht des Atheismus ängstlich mied. Leider besteht auch heute noch diese Auffassung in weiten Kreisen fort. Dem atheistischen Naturforscher, der seine Kraft und sein Leben der Erforschung der Wahrheit widmet, traut man von vornherein alles Böse zu; der theistische Kirchengänger dagegen, der die leeren Zeremonien des papistischen Kultus gedankenlos mitmacht, gilt schon deswegen als guter Staatsbürger, auch wenn er sich bei seinem Glauben gar nichts denkt und nebenher der verwerflichsten Moral huldigt. Dieser Irrtum wird sich erst klären, wenn im zwanzigsten Jahrhundert das Licht der naturwissenschaftlichen Aufklärung mehr in den allgemeinen Schulunterricht eindringt und wenn die Schule von den Fesseln der Kirche befreit wird. Freilich ist dazu erforderlich, daß der moderne Staat sich selbst von[300] den Banden des Kirchenregiments ablöst und nicht die Dogmen des konfessionellen Glaubens, sondern die klaren Erkenntnisse des vernünftigen Denkens zur Grundlage der wahren Bildung erhebt. Dann erst wird der herrschende Aberglaube mehr der vernünftigen Naturerkenntnis weichen und der monistischen Überzeugung der Einheit von Gott und Welt.[301]
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