Sechzehntes Kapitel

Wissen und Glauben

[302] Monistische Studien über Erkenntnis der Wahrheit.

Sinnestätigkeit und Vernunfttätigkeit.

Glauben und Aberglauben.

Erfahrung und Offenbarung.


Alle Arbeit wahrer Wissenschaft geht auf Erkenntnis der Wahrheit. Unser echtes und wertvolles Wissen ist realer Natur und besteht aus Vorstellungen, welche wirklich existierenden Dingen entsprechen. Wir sind zwar unfähig, das Innerste Wesen dieser realen Welt – »das Ding an sich« – zu erkennen; aber unbefangene und kritische Beobachtung und Vergleichung überzeugt uns, daß bei normaler Beschaffenheit des Gehirns und der Sinnesorgane die Eindrücke der Außenwelt auf diese bei allen vernünftigen Menschen dieselben sind, und daß bei normaler Funktion der Denkorgane bestimmte, überall gleiche Vorstellungen gebildet werden. Diese nennen wir wahr und sind dabei überzeugt, daß ihr Inhalt dem erkennbaren Teile der Dinge entspricht. Wir wissen, daß diese Tatsachen nicht eingebildet, sondern wirklich sind und auf tausendfach bestätigten Erfahrungen beruhen.

Alle Erkenntnis der Wahrheit beruht auf zwei verschiedenen, aber innig zusammenhängenden Gruppen von physiologischen Funktionen des Menschen; erstens auf der Empfindung der Objekte mittelst der Sinnestätigkeit, und zweitens auf der Verbindung der so gewonnenen Eindrücke durch Assozion zur Vorstellung im Subjekt. Die Werkzeuge der Empfindung sind die Sinnesorgane (Sensillen); die[302] Werkzeuge, welche die Vorstellungen bilden und verknüpfen, sind die Denkorgane (Phroneten). Diese letzteren sind Teile des zentralen, die ersteren hingegen Teile des peripheren Nervensystems, jenes wichtigen und höchstentwickelten Organsystems der höheren Tiere, welches einzig und allein deren gesamte Seelentätigkeit vermittelt.

Die Sinnestätigkeit des Menschen, welche der erste Ausgangspunkt aller Erkenntnis ist, hat sich langsam und allmählich aus derjenigen der nächstverwandten Säugetiere, der Primaten, entwickelt. Die Organe derselben sind in der höchstentwickelten Tierklasse überall von wesentlich gleichem Bau, und ihre Funktion erfolgt überall nach denselben physikalischen und chemischen Gesetzen. Sie haben sich allenthalben in derselben Weise historisch entwickelt. Wie bei allen anderen Tieren, so sind auch bei den Mammalien alle Sensillen ursprünglich Teile der Hautdecke, und die empfindlichen Zellen der Oberhaut (Epidermis) sind die Ureltern aller verschiedenen Sinnesorgane, welche durch Anpassung an verschiedene Reize (Licht, Wärme, Schall, Chemopathos) ihre spezifische Energie erlangt haben. Sowohl die Stäbchenzellen der Retina in unserem Auge und die Hörzellen in der Schnecke unseres Ohres, als auch die Riechzellen in der Nase und die Schmeckzellen auf unserer Zunge stammen ursprünglich von jenen einfachen indifferenten Zellen der Oberhaut ab, welche die ganze Oberfläche unseres Körpers überziehen. Diese bedeutungsvolle Tatsache wird durch die unmittelbare Beobachtung am Embryo des Menschen ebenso wie aller anderen Tiere direkt bewiesen. Aus dieser ontogenetischen Tatsache folgt aber nach dem biogenetischen Grundgesetze mit Sicherheit der folgenschwere phylogenetische Schluß, daß auch in der langen Stammesgeschichte unserer Vorfahren die höheren Sinnesorgane mit ihren speziellen Energien ursprünglich aus der Oberhaut niederer Tiere entstanden sind, aus einer einfachen Zellenschicht, die noch keine gesonderten Sensillen enthielt.[303]

Von größter Bedeutung für die menschliche Erkenntnis ist die Tatsache, daß verschiedene Nerven unseres Körpers imstande sind, ganz verschiedene Qualitäten der Außenwelt und nur diese wahrzunehmen. Der Sehnerv des Auges vermittelt nur Lichtempfindung, der Hörnerv des Ohres nur Schallempfindung, der Riechnerv der Nase nur Geruchsempfindung usw. Gleichviel welche Reize das einzelne Sinneswerkzeug treffen und erregen, ihre Reaktion dagegen behält dieselbe Qualität. Aus dieser spezifischen Energie der Sinnesnerven, welche von dem großen Physiologen Johannes Müller zuerst in ihrer weitreichenden Bedeutung gewürdigt wurde, sind sehr irrtümliche Schlüsse gezogen worden, besonders zugunsten einer dualistischen und apriorischen Erkenntnistheorie. Man behauptete, daß das Gehirn oder die Seele nur einen gewissen Zustand des erregten Nerven wahrnehme, und daß daraus nichts auf die Existenz und Beschaffenheit der erregenden Außenwelt geschlossen werden könne. Die skeptische Philosophie zog daraus den Schluß, daß diese letztere selbst zweifelhaft sei, und der extreme Idealismus bezweifelte nicht nur diese Realität, sondern er negierte sie einfach; er behauptete, daß die Welt nur in unserer Vorstellung existiere.

Diesen Irrtümern gegenüber müssen wir daran erinnern, daß die »spezifische Energie« ursprünglich nicht eine anerschaffene besondere Qualität einzelner Nerven, sondern erst durch Anpassung an die besondere Tätigkeit der Oberhautzellen entstanden ist, in welchen sie enden. Nach den großen Gesetzen der Arbeitsteilung nahmen die ursprünglich indifferenten »Hautsinneszellen« verschiedene Aufgaben in Angriff, indem die einen den Reiz der Lichtstrahlen, die anderen den Eindruck der Schallwellen, eine dritte Gruppe die chemische Einwirkung riechender Substanzen usw. auffingen. Im Laufe langer Zeiträume bewirkten diese äußeren Sinnesreize eine allmähliche Veränderung der physiologischen und weiterhin auch der morphologischen Eigenschaften dieser[304] Oberhautstellen; damit zugleich veränderten sich die sensiblen Nerven, welche die von ihnen aufgenommenen Eindrücke zum Gehirn leiteten. Die Selektion verbesserte Schritt für Schritt die besonderen Umbildungen derselben, welche sich als nützlich erwiesen, und schuf so zuletzt im Laufe vieler Jahrmillionen jene bewunderungswürdigen Instrumente, welche als Auge und Ohr unsere teuersten Güter darstellen; ihre Einrichtung ist so wunderbar zweckmäßig, daß sie uns zu der irrtümlichen Annahme einer »Schöpfung nach vorbedachtem Bauplan« führen könnte. Die besondere Eigentümlichkeit jedes Sinnesorganes und seines spezifischen Nerven hat sich aber erst durch Gewohnheit und Übung – d.h. durch Anpassung – allmählich entwickelt und ist dann durch Vererbung von Generation zu Generation übertragen worden. Albrecht Rau hat diese Auffassung ausführlich begründet in seinem vortrefflichen Werke über »Empfindung und Denken; eine physiologische Untersuchung über die Natur des menschlichen Verstandes« (1896). Dort ist sowohl die richtige Deutung des Müllerschen Gesetzes von den spezifischen Sinnesenergien gegeben, als auch eine scharfsinnige Erörterung über ihre Beziehungen zum Gehirn und besonders im letzten Kapitel eine ausgezeichnete, auf den Schultern von Ludwig Feuerbach stehende »Philosophie der Sinnlichkeit«; ich schließe mich diesen überzeugenden Ausführungen durchaus an.

Die kritische Vergleichung der Sinnestätigkeit beim Menschen und bei den übrigen Wirbeltieren ergibt eine Anzahl überaus wichtiger Tatsachen, welche wir erst den eingehenden Forschungen des neunzehnten Jahrhunderts und besonders seiner zweiten Hälfte verdanken. Ganz besonders gilt dies von den beiden höchstentwickelten, den »ästhetischen Sinneswerkzeugen«, Auge und Ohr. Dieselben zeigen im Stamme der Wirbeltiere einen anderen und verwickelteren Bau als bei den übrigen Tieren und entwickeln sich auch im Embryo derselben auf eigentümliche Weise.[305] Diese typische Ontogenese und Struktur der Sensillen bei sämtlichen Wirbeltieren erklärt sich durch Vererbung von einer gemeinsamen Stammform. Innerhalb des Stammes aber zeigt sich eine große Mannigfaltigkeit der Ausbildung im einzelnen, und diese ist bedingt durch die Anpassung an die Lebensweise der einzelnen Arten, durch den gesteigerten oder geminderten Gebrauch der einzelnen Teile.

Der Mensch erscheint nun in bezug auf die Ausbildung seiner Sinne keineswegs als das vollkommenste und höchstentwickelte Wirbeltier. Das Auge der Vögel ist viel schärfer und unterscheidet kleine Gegenstände auf weite Entfernung viel deutlicher als das menschliche Auge. Das Gehör vieler Säugetiere, besonders der in Wüsten lebenden Raubtiere, Huftiere, Nagetiere usw. ist viel empfindlicher als das menschliche und nimmt leise Geräusche auf viel weitere Entfernungen wahr; darauf weist schon ihre große und sehr bewegliche Ohrmuschel hin. Die Singvögel offenbaren selbst in bezug auf musikalische Begabung eine höhere Entwicklungsstufe als viele Menschen. Der Geruchssinn ist bei den meisten Säugetieren, namentlich Raubtieren und Huftieren, viel mehr ausgebildet als beim Menschen; wenn der Hund seine eigene feine Spürnase mit derjenigen des Menschen vergleichen könnte, würde er mitleidig auf letztere herabsehen. Auch in bezug auf die niederen Sinne, den Geschmackssinn, den Geschlechtssinn, den Tastsinn und den Temperatursinn, behauptet der Mensch keineswegs in jeder Beziehung die höchste Entwicklungsstufe.

Wir selbst können natürlich nur über diejenigen Sinnesempfindungen urteilen, die wir selbst besitzen. Nun weist uns aber die Anatomie im Körper vieler Tiere noch andere als unsere bekannten Sinnesorgane nach. So besitzen die Fische und auch niedere, im Wasser lebende Wirbeltiere eigentümliche Sensillen in der Haut, welche mit besonderen Sinnesnerven in Verbindung stehen. In den Seiten des Fischkörpers verläuft rechts und links ein langer Kanal, der vorn[306] am Kopfe in mehrere verzweigte Kanäle übergeht. In diesen »Schleimkanälen« liegen Nerven mit zahlreichen Ästen, deren Enden mit eigentümlichen Nervenhügeln verbunden sind. Wahrscheinlich dient dieses ausgedehnte »Hautsinnesorgan« zur Wahrnehmung von Unterschieden im Wasserdruck oder in anderen Eigenschaften des Wassers. Einige Gruppen sind noch durch den Besitz anderer eigentümlicher Sensillen ausgezeichnet, deren Bedeutung uns unbekannt ist.

Schon aus diesen Tatsachen ergibt sich, daß unsere menschliche Sinnestätigkeit beschränkt ist, und zwar sowohl in quantitativer als auch in qualitativer Hinsicht. Wir können also mit unseren Sinnen, vor allem dem Auge und dem Tastsinn, immer nur einen Teil der Eigenschaften erkennen, welche die Objekte der Außenwelt besitzen. Aber auch diese partielle Wahrnehmung ist unvollständig, insofern unsere Sinneswerkzeuge unvollkommen sind und die Sinnesnerven als Dolmetscher dem Gehirn nur die Übersetzung der empfangenen Eindrücke mitteilen.

Diese anerkannte Unvollkommenheit unserer Sinnestätigkeit darf uns aber nicht hindern, in deren Werkzeugen, und vor allem im Auge, die edelsten Organe zu erblicken; im Vereine mit den Denkorganen des Gehirns sind sie das wertvollste Geschenk der Natur für den Menschen. In voller Wahrheit sagt Albrecht Rau (a. a. O.): »Alle Wissenschaft ist in letzter Linie Sinneserkenntnis; die Data der Sinne werden darin nicht negiert, sondern interpretiert. Die Sinne sind unsere ersten und besten Freunde; lange bevor sich der Verstand entwickelt, sagen die Sinne dem Menschen, was er tun und lassen soll. Wer die Sinnlichkeit überhaupt verneint, um ihren Gefahren zu entgehen, der handelt ebenso unbesonnen und töricht als der, welcher seine Augen ausreißt, weil sie einmal auch schändliche Dinge sehen könnten; oder der, welcher seine Hand abhaut, weil er fürchtet, sie könnte auch einmal nach fremdem Gute langen.« Mit vollem Rechte nennt deshalb[307] Feuerbach alle Philosophien, alle Religionen, alle Institute, die dem Prinzipe der Sinnlichkeit widersprechen, nicht nur irrtümliche, sondern sogar grundverderbliche. Ohne Sinne keine Erkenntnis! »Nihil est in intellectu, quod non fuerit in sensu!« (Locke.) Welches hohe Verdienst sich neuerdings der Darwinismus und die tiefere Erkenntnis und richtige Würdigung der Sinnestätigkeit erworben hat, habe ich schon im Jahre 1878 in meinem Vortrage »Über Ursprung und Entwicklung der Sinneswerkzeuge« zu zeigen versucht.

Der Erkenntnistrieb des hochentwickelten Kulturmenschen begnügt sich nicht mit jener lückenhaften Kenntnis der Außenwelt, welche er durch seine unvollkommenen Sinnesorgane gewinnt. Er bemüht sich vielmehr, die sinnlichen Eindrücke, welche er durch dieselben gewonnen hat, in Erkenntniswerte umzusetzen; er verwandelt sie in den Sinnesherden der Großhirnrinde in spezifische Sinnesempfindungen und verbindet diese durch Assozion in deren Denkherden zu Vorstellungen; durch weitere Verkettung der Vorstellungsgruppen gelangt er endlich zu zusammenhängendem Wissen. Aber dieses Wissen bleibt immer lückenhaft und unbefriedigend, wenn nicht die Phantasie die ungenügende Kombinationskraft des erkennenden Verstandes ergänzt und durch Assozion von Gedächtnisbildern entfernt liegende Erkenntnisse zu einem zusammenhängenden Ganzen verknüpft. Dabei entstehen neue allgemeine Vorstellungsgebilde, welche erst die wahrgenommene Tatsachen erklären und das Kausalitätsbedürfnis der Vernunft befriedigen.

Die Vorstellungen, welche die Lücken des Wissens ausfüllen oder an dessen Stelle treten, kann man im weiteren Sinne als »Glauben« bezeichnen. So geschieht es fortwährend im alltäglichen Leben. Wenn wir irgendeine Tatsache nicht sicher wissen, so sagen wir: Ich glaube sie. In diesem Sinne sind wir auch in der Wissenschaft selbst zum Glauben gezwungen; wir vermuten oder nehmen an, daß ein[308] bestimmtes Verhältnis zwischen zwei Erscheinungen besteht, obwohl wir dasselbe nicht sicher kennen. Handelt es sich dabei um die Erkenntnis von Ursachen, so bilden wir uns eine Hypothese. Indessen dürfen in der Wissenschaft nur solche Hypothesen zugelassen werden, die innerhalb des menschlichen Erkenntnisvermögens liegen und die bekannten Tatsachen nicht widersprechen. Solche Hypothesen sind z.B. in der Physik die Lehre von Vibrationen des Äthers, in der Chemie die Annahme der Atome und deren Wahlverwandtschaft, in der Biologie die Lehre von der Molekularstruktur des lebendigen Plasma usw.

Die Erklärung einer größeren Reihe von zusammenhängenden Erscheinungen durch Annahme einer gemeinsamen Ursache nennen wir Theorie. Auch bei der Theorie, wie bei der Hypothese, ist der Glaube (in wissenschaftlichem Sinne!) unentbehrlich; denn auch hier ergänzt die dichtende Phantasie die Lücke, welche der Verstand in der Erkenntnis des Zusammenhanges der Dinge offen läßt. Die Theorie kann daher immer nur als eine Annäherung an die Wahrheit betrachtet werden; es muß zugestanden werden, daß sie später durch eine andere, besser begründete Theorie verdrängt werden kann. Trotz dieser eingestandenen Unsicherheit bleibt die Theorie für jede wahre Wissenschaft unentbehrlich; denn sie erklärt erst die Tatsachen durch Annahme von Ursachen. Wer auf die Theorie ganz verzichten und reine Wissenschaft bloß aus »sicheren Tatsachen« aufbauen will (wie es oft von beschränkten Köpfen in der modernen sogenannten »exakten Naturwissenschaft« geschieht), der verzichtet damit auf die Erkenntnis der Ursachen überhaupt und somit auf die Befriedigung des Kausalitätsbedürfnisses der Vernunft.

Die Gravitationstheorie in der Astronomie (Newton), die kosmologische Gastheorie in der Kosmogenie (Kant und Laplace), das Energieprinzip in der Physik (Mayer und Helmholtz), die Atomtheorie in der Chemie (Dalton), die Vibrationstheorie in der Optik (Huygens), die Zellentheorie in der Gewebelehre[309] (Schleiden und Schwann), die Deszendenztheorie in der Biologie (Lamarck und Darwin) sind gewaltige Theorien ersten Ranges; sie erklären eine ganze Welt von großen Naturerscheinungen durch Annahme einer gemeinsamen Ursache für alle einzelnen Tatsachen ihres Gebietes und durch den Nachweis, daß alle Erscheinungen in demselben zusammenhängen und durch feste, von dieser einen Ursache ausgehende Gesetze geregelt werden. Dabei kann aber diese Ursache selbst ihrem Wesen nach unbekannt oder nur eine »provisorische Hypothese« sein. Die »Schwerkraft« in der Gravitationstheorie und in der Kosmogenie, die »Energie« selbst in ihrem Verhältnis zur Materie, der »Äther« in der Optik und Elektrik, das »Atom« in der Chemie, das lebendige »Plasma« in der Zellenlehre, die »Vererbung« in der Abstammungslehre – diese und ähnliche Grundbegriffe in anderen großen Theorien können von der skeptischen Philosophie als »bloße Hypythesen«, als Erzeugnisse des wissenschaftlichen Glaubens betrachtet werden; sie bleiben uns aber als solche unentbehrlich, so lange, bis sie durch eine bessere Hypothese ersetzt werden.

Ganz anderer Natur als diese Formen des wissenschaftlichen Glaubens sind diejenigen Vorstellungen, welche in den verschiedenen Religionen zur Erklärung der Erscheinungen benutzt und schlechtweg als Glaube im engeren Sinne (!) bezeichnet werden. Da aber diese beiden Glaubensformen, der »natürliche Glaube« der Wissenschaft und der »übernatürliche Glaube« der Religion, nicht selten verwechselt werden und so Verwirrung entsteht, ist es zweckmäßig, Ja notwendig, ihren prinzipiellen Gegensatz scharf zu betonen. Der »religiöse« Glaube ist stets Wunderglaube und steht als solcher mit dem natürlichen Glauben der Vernunft in unversöhnlichem Widerspruch. Im Gegensatz zu letzterem behauptet er übernatürliche Vorgänge und kann somit als »Überglaube« oder »Oberglaube« bezeichnet werden, die ursprüngliche Form des Wortes Aberglaube. Der[310] wesentliche Unterschied dieses Aberglaubens von dem »vernünftigen Glauben« besteht eben darin, daß er übernatürliche Kräfte und Erscheinungen annimmt, welche die Wissenschaft nicht kennt und nicht zuläßt, welche durch irrtümliche Wahrnehmungen und falsche Phantasiedichtung erzeugt sind; der Aberglaube widerspricht mithin den klar erkannten Naturgesetzen und ist als solcher unvernünftig.

Durch die großen Fortschritte der Ethnologie im neunzehnten Jahrhundert ist uns eine erstaunliche Fülle von mannigfaltigen Formen und Erzeugnissen des Aberglaubens bekannt geworden, wie sie noch heute unter den rohen Naturvölkern existieren. Vergleicht man dieselben untereinander und mit den entsprechenden mythologischen Vorstellungen früherer Zeiten, so ergibt sich eine vielfache Analogie, oft ein gemeinsamer Ursprung und zuletzt schließlich eine Urquelle für alle. Diese finden wir in dem natürlichen Kausalitätsbedürfnisse der Vernunft, in dem Suchen nach Erklärung unbekannter Erscheinungen durch Auffinden ihrer Ursachen. Besonders gilt das von solchen Bewegungserscheinungen, die Gefahr drohen und Furcht erregen, wie Blitz und Donner, Erdbeben, Mondfinsternis usw. Das Bedürfnis nach kausaler Erklärung solcher Naturerscheinungen besteht schon bei den Naturvölkern der niedersten Stufe und ist bereits von ihren Primatenahnen durch Vererbung übertragen. Es besteht ebenso bei vielen anderen Wirbeltieren. Wenn ein Hund den Vollmond anbellt oder eine tönende Glocke, deren Klöppel er sich bewegen sieht, oder eine Fahne, die im Winde weht, so äußert er dabei nicht nur Furcht, sondern auch den dunklen Drang nach Erkenntnis der Ursache dieser unbekannten Erscheinung. Die rohen Religionsanfänge der primitiven Naturvölker haben ihre Wurzeln teilweise in solchem erblichen Aberglauben ihrer Primatenahnen, teilweise im Ahnenkultus, in verschiedenen Gemütsbedürfnissen und in traditionell gewordenen Gewohnheiten.

Die religiösen Glaubensvorstellungen der modernen[311] Kulturvölker, die ihnen als höchster geistiger Besitz gelten, pflegen von ihnen hoch über den »rohen Aberglauben« der Naturvölker gestellt zu werden; man preist den großen Fortschritt, welchen die aufklärende Kultur durch Beseitigung des letzteren herbeigeführt habe. Das ist ein großer Irrtum! Bei unbefangener kritischer Prüfung und Vergleichung zeigt sich, daß beide nur durch die besondere »Gestalt des Glaubens« und durch die äußere Hülle der Konfession voneinander verschieden sind. Im klaren Lichte der Vernunft erscheint der destillierte Wunderglaube der freisinnigsten Kirchenreligionen – insofern er klar erkannten und festen Naturgesetzen widerspricht – genau so als unvernünftiger Aberglaube, wie der rohe Gespensterglaube der primitiven Fetischreligionen, auf welchen jene stolz herabsehen.

Werfen wir von diesem unbefangenen Standpunkte einen kritischen Blick auf die gegenwärtig noch herrschenden Glaubensvorstellungen der heutigen Kulturvölker, so finden wir sie allenthalben von traditionellem Aberglauben durchdrungen. Der christliche Glaube an die Schöpfung, die Dreieinigkeit Gottes, an die unbefleckte Empfängnis Maria, an die Erlösung, die Auferstehung und Himmelfahrt Christi usw. ist ebenso reine Dichtung und kann ebensowenig mit der vernünftigen Naturerkenntnis in Einklang gebracht werden, als die verschiedenen Dogmen der mohammedanischen und mosaischen, der buddhistischen und brahmanischen Religion. Jede von diesen Religionen ist für den wahrhaft »Gläubigen« eine zweifellose Wahrheit, und jede von ihnen betrachtet jede andere Glaubenslehre als Ketzerei und verderblichen Irrtum. Je mehr eine bestimmte Konfession sich für die »allein selig machende« hält – für die »katholische« – und je inniger diese Überzeugung als heiligste Herzenssache verteidigt wird, desto eifriger muß sie naturgemäß alle anderen Konfessionen bekämpfen, und desto fanatischer gestalten sich die fürchterlichen Glaubenskriege, welche die traurigsten Blätter im Buche der Kulturgeschichte[312] bilden. Und doch überzeugt uns die unparteiische »Kritik der reinen Vernunft«, daß alle diese verschiedenen Glaubensformen in gleichem Maße unwahr und unvernünftig sind, Produkte der dichtenden Phantasie und der unkritischen Tradition. Die vernünftige Wissenschaft muß sie samt und sonders als Erzeugnisse des Aberglaubens verwerfen.

Der unermeßliche Schaden, welchen der unvernünftige Aberglaube seit Jahrtausenden in der gläubigen Menschheit angerichtet hat, offenbart sich wohl nirgends auffälliger als in dem unaufhörlichen »Kämpfe der Glaubensbekenntnisse«. Unter allen Kriegen, welche die Völker mit Feuer und Schwert gegeneinander geführt haben, sind die Religionskriege die blutigsten gewesen; unter allen Formen der Zwietracht, welche das Glück der Familien und der einzelnen Personen zerstört haben, sind die religiösen, dem Glaubensunterschiede entsprungenen noch heute die gehässigsten. Man denke nur an die vielen Millionen Menschen, welche in den Christenbekehrungen und -verfolgen, in den Glaubenskämpfen des Islam und der Reformation, durch die Inquisition und die Hexenprozesse ihr Leben verloren haben. Oder man denke an die noch größere Zahl der Unglücklichen, welche wegen Glaubensverschiedenheiten in Familienzwist geraten, ihr Ansehen bei den gläubigen Mitbürgern und ihre Stellung im Staate verloren oder aus dem Vaterlande haben auswandern müssen. Die verderblichste Wirkung übt das offizielle Glaubensbekenntnis dann, wenn es mit den politischen Zwecken des Kulturstaates verknüpft und als »konfessioneller Religionsunterricht« in den Schulen zwangsweise gelehrt wird. Die Vernunft der Kinder wird dadurch schon frühzeitig von der Erkenntnis der Wahrheit abgelenkt und dem Aberglauben zugeführt. Jeder Menschenfreund sollte daher die Trennung von Schule und Kirche, die konfessionslose Schule als eine der wertvollsten Institutionen des modernen Vernunftstaates mit allen Mitteln zu fördern suchen.[313]

Der hohe Wert, welcher trotzdem noch heute in den weitesten Kreisen dem konfessionellen Religionsunterricht beigelegt wird, ist nicht allein durch den Konfessionszwang des rückständigen Kulturstaates und dessen Abhängigkeit von klerikaler Herrschaft bedingt, sondern auch durch das Gewicht von alten Traditionen und von »Gemütsbedürfnissen« verschiedener Art. Unter diesen ist besonders wirkungsvoll jene andächtige Verehrung, welche in weitesten Kreisen der konfessionellen Tradition gezollt wird, dem »heiligen Glauben unserer Väter«. In Tausenden von Erzählungen und Gedichten wird das Festhalten an demselben als ein geistiger Schatz und als eine heilige Pflicht gepriesen. Und doch genügt unbefangenes Nachdenken über die Geschichte des Glaubens, um uns von der völligen Ungereimtheit jener einflußreichen Vorstellung zu überzeugen. Der herrschende evangelische Kirchenglaube in der zweiten Hälfte des aufgeklärten neunzehnten Jahrhunderts ist wesentlich verschieden von demjenigen in der ersten Hälfte desselben, und dieser wieder von demjenigen des achtzehnten Jahrhunderts. Der letztere weicht sehr ab von dem »Glauben unserer Väter« im siebzehnten und noch mehr im sechzehnten Jahrhundert. Die Reformation, welche die geknechtete Vernunft von der Tyrannei des Papismus befreite, wird natürlich von dieser als ärgste Ketzerei verfolgt; aber auch der Glaube des Papismus selbst hatte sich im Laufe eines Jahrtausends völlig verändert. Und wie verschieden ist der Glaube der getauften Christen von demjenigen ihrer heidnischen Väter! Jeder selbständig denkende Mensch bildet sich eben seinen eigenen, mehr oder weniger »persönlichen Glauben«, und immer ist dieser verschieden von demjenigen seiner Väter; denn er ist abhängig von dem gesamten Bildungszustande seiner Zeit. Je weiter wir in der Kulturgeschichte zurückgehen, desto mehr erscheint uns der gepriesene »Glaube unserer Väter« als unhaltbarer Aberglaube, dessen Formen sich beständig umbilden.[314]

Eine der merkwürdigsten Formen des Aberglaubens ist diejenige, welche noch heutzutage in unserer modernen Kulturwelt eine erstaunliche Rolle spielt, der Spiritismus und Okkultismus, der moderne Geisterglaube. Es ist eine ebenso befremdende wie betrübende Tatsache, daß noch heute Millionen gebildeter Kulturmenschen von diesem finsteren Aberglauben völlig beherrscht sind; ja sogar einzelne berühmte Naturforscher haben sich von demselben nicht losmachen können. Zahlreiche spiritistische Zeitschriften verbreiten diesen Gespensterglauben in weitesten Kreisen, und unsere »feinsten Gesellschaftskreise« schämen sich nicht, »Geister« erscheinen zu lassen, welche klopfen, schreiben, »Mitteilungen aus dem Jenseits« machen usw. Man beruft sich in den Kreisen der Spiritisten oft darauf, daß selbst angesehene Naturforscher diesem Aberglauben huldigen. In Deutschland werden dafür als Beispiele u. a. Zöllner und Fechner in Leipzig angeführt, in England Wallace und Crookes in London. Die bedauerliche Tatsache, daß selbst so hervorragende Physiker und Biologen sich dadurch haben irreführen lassen, erklärt sich teils aus ihrem Übermaß an Phantasie und Kritikmangel, teils aus dem mächtigen Einfluß starrer Dogmen, welche religiöse Beziehung dem kindlichen Gehirn im frühester Jugend schon einprägt. Übrigens ist gerade bei den berühmten spiritistischen Vorstellungen in Leipzig, in welchen die Physiker Zöllner, Fechner und Wilhelm Weber durch den schlauen Taschenspieler Slade irregeführt wurden, der Schwindel des letzteren nachträglich klar zutage gekommen; Slade selbst wurde als gemeiner Betrüger entlarvt und bestraft. Auch in allen anderen Fällen, in welchen die angeblichen »Wunder des Spiritismus« gründlich untersucht werden konnten, hat sich als Ursache derselben eine gröbere oder feinere Täuschung herausgestellt, und die sogenannten »Medien« (meist weiblichen Geschlechts) sind teils als schlaue Schwindler entlarvt, teils als nervöse Personen von ungewöhnlicher Reizbarkeit erkannt worden.[315] Ihre angebliche Telepathie (oder »Fernwirkung des Gedankens ohne materielle Vermittelung«) existiert ebensowenig als die »Stimmen der Geister«, die »Seufzer der Gespenster« usw. Die lebhaften Schilderungen, welche Carl du Prel und andere Spiritisten von solchen »Geistererscheinungen« geben, beruhen auf Tätigkeit der freien Phantasie, verbunden mit Mangel an Kritik und an physiologischen Kenntnissen.[316]

Quelle:
Ernst Haeckel: Gemeinverständliche Werke. Band 3, Leipzig und Berlin [o.J.], S. 302-317.
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