Siebzehntes Kapitel

Wissenschaft und Christentum

[317] Monistische Studien über den Kampf zwischen der wissenschaftlichen Erfahrung und der christlichen Offenbarung.

Die vier Perioden in der historischen Metamorphose der christlichen Religion.

Vernunft und Dogma.


Zu den hervorragenden Charakterzügen des vielbewegten neunzehnten Jahrhunderts gehört die wachsende Schärfe des Gegensatzes zwischen Wissenschaft und Christentum. Das ist ganz natürlich und notwendig; denn in demselben Maße, in welchem die siegreichen Fortschritte der modernen Naturerkenntnis alle wissenschaftlichen Eroberungen früherer Jahrhunderte überflügeln, ist zugleich die Unhaltbarkeit aller jener mystischen Weltanschauungen offenbar geworden, welche die Vernunft unter das Joch der sogenannten »Offenbarung« beugen wollten; und dazu gehört auch die christliche Religion. Je sicherer durch die moderne Astronomie, Physik und Chemie die Alleinherrschaft unbeugsamer Naturgesetze im Universum, durch die moderne Botanik, Zoologie und Anthropologie die Gültigkeit derselben Gesetze im Gesamtbereiche der organischen Natur nachgewiesen ist, desto heftiger sträubt sich die christliche Religion, im Vereine mit der dualistischen Metaphysik, die Geltung dieser Naturgesetze im Bereiche des sogenannten »Geisteslebens« anzuerkennen, d.h. in einem Teilgebiete der Gehirnphysiologie.

Diesen offenkundigen und unversöhnlichen Gegensatz zwischen der modernen wissenschaftlichen und der überlebten christlichen Weltanschauung hat niemand klarer, mutiger und unwiderleglicher bewiesen als[317] der größte Theologe des neunzehnten Jahrhunderts, David Friedrich Strauß. Sein letztes Bekenntnis: »Der alte und der neue Glaube« (1872, fünfzehnte Auflage 1903) ist der allgemein gültige Ausdruck der ehrlichen Überzeugung aller derjenigen Gebildeten der Gegenwart, welche den unvermeidlichen Konflikt zwischen den anerzogenen, herrschenden Glaubenslehren des Christentums und den einleuchtenden, vernunftgemäßen Offenbarungen der modernen Naturwissenschaft einsehen; aller derjenigen, welche den Mut finden, das Recht der Vernunft gegenüber den Ansprüchen des Aberglaubens zu wahren, und welche das philosophische Bedürfnis nach einer einheitlichen Naturanschauung empfinden. Strauß hat als ehrlicher und mutiger Freidenker weit besser, als ich es vermag, die wichtigsten Gegensätze zwischen »altem und neuem Glauben« klargelegt. Die volle Unversöhnlichkeit zwischen beiden Gegensätzen, die Unvermeidlichkeit des Entscheidungskampfes zwischen beiden – »auf Tod und Leben« – hat von philosophischer Seite namentlich Eduard Hartmann nachgewiesen in seiner interessanten Schrift über die Selbstzersetzung des Christentums.

Unter den zahlreichen Werken, die im Laufe des neunzehnten Jahrhunderts die wissenschaftliche Kritik des Christentums, seines Wesens und seiner Lehre gefördert haben, sind außerdem namentlich folgende hervorzuheben: David Strauß, Das Leben Jesu für das deutsche Volk (1864), Ludwig Feuerbach, Das Wesen des Christentums (1841), Paul de Regla (P. Desjardin), Jesus von Nazareth, vom wissenschaftlichen, geschichtlichen und gesellschaftlichen Standpunkte dargestellt (Leipzig 1894), S. E. Verus, Vergleichende Übersicht der vier Evangelien (Leipzig 1897).

Wenn man die Werke von Strauß und Feuerbach sowie die »Geschichte der Konflikte zwischen Religion und Wissenschaft« von John William Draper (1875) gelesen hat, könnte es überflüssig erscheinen, diesem Gegenstande hier ein besonderes Kapitel zu[318] widmen. Trotzdem wird es nützlich und notwendig sein, hier einen kritischen Blick auf den historischen Verlauf dieses großen Kampfes zu werfen, und zwar deshalb, weil die Angriffe der streitenden Kirche auf die Wissenschaft im allgemeinen und auf die Entwicklungslehre im besonderen in neuester Zeit besonders scharf und gefahrdrohend geworden sind. Auch ist leider die geistige Erschlaffung, welche sich neuerdings geltend macht, sowie die steigende Flut der Reaktion auf politischem, sozialem und kirchlichem Gebiete nur zu sehr geeignet, jene Gefahren zu verschärfen. Wollte jemand daran zweifeln, so braucht er nur die Verhandlungen der christlichen Synoden, der berüchtigten Katholikentage und des Deutschen Reichstages in den letzten 20 Jahren zu lesen. Im Einklang damit stehen die Bemühungen vieler weltlicher Regierungen, sich mit dem geistlichen Regimente, ihrem natürlichen Todfeinde, auf möglichst guten Fuß zu setzen, d.h. sich dessen Joche zu unterwerfen. Als gemeinsames Ziel schwebt dabei den beiden Verbündeten die Unterdrückung des freien Gedankens und der freien wissenschaftlichen Forschung vor, mit dem klar erkennbaren Zwecke, sich auf diese Weise am leichtesten die absolute Herrschaft zu sichern.

Wir müssen ausdrücklich betonen, daß es sich hier um notgedrungene Verteidigung der Wissenschaft und der Vernunft gegen die scharfen Angriffe der christlichen Kirche und ihrer gewaltigen Heerscharen handelt, und nicht etwa um unberechtigte Angriffe der ersteren gegen die letzteren. In erster Linie muß dabei unsere Abwehr gegen den Papismus oder Ultramontanismus gerichtet sein; denn diese »allein seligmachende« und »für alle bestimmte« katholische Kirche ist nicht allein weit größer und weit mächtiger als die anderen christlichen Konfessionen, sondern sie besitzt vor allem den Vorzug einer großartigen, zentralisierten Organisation und einer unübertroffenen politischen Schlauheit. Man hört allerdings oft von Naturforschern[319] und von anderen Männern der Wissenschaft die Ansicht äußern, daß der katholische Aberglaube nicht schlimmer sei als die anderen Formen des übernatürlichen Glaubens, und daß diese trügerischen »Gestalten des Glaubens« alle in gleichem Maße die natürlichen Feinde der Vernunft und Wissenschaft seien. Im allgemeinen theoretischen Prinzip ist diese Behauptung richtig, aber in bezug auf die praktischen Folgen irrtümlich; denn die zielbewußten und rücksichtslosen Angriffe der ultramontanen Kirche auf die Wissenschaft, gestützt auf die Trägheit und Dummheit der Volksmassen, sind vermöge ihrer mächtigen Organisation ungleich schwerer und gefährlicher als diejenigen aller anderen Religionen.

Um die ungeheuere Bedeutung des Christentums für die ganze Kulturgeschichte, besonders aber seinen prinzipiellen Gegensatz gegen Vernunft und Wissenschaft richtig zu würdigen, müssen wir einen flüchtigen Blick auf die wichtigsten Abschnitte seiner geschichtlichen Entwicklung werfen. Wir unterscheiden in derselben vier Hauptperioden: I. das Urchristentum (die drei ersten Jahrhunderte), II. den Papismus (zwölf Jahrhunderte, vom vierten bis fünfzehnten), III. die Reformation (drei Jahrhunderte, vom sechzehnten bis achtzehnten), IV. das moderne Scheinchristentum (im neunzehnten Jahrhundert).

Das Urchristentum umfaßt die ersten drei Jahrhunderte. Christus selbst, der edle, ganz von Menschenliebe erfüllte Prophet und Schwärmer, stand tief unter dem Niveau der klassischen Kulturbildung; er kannte nur jüdische Tradition; er hat selbst keine einzige Zeile hinterlassen. Auch hatte er von dem hohen Zustande der Welterkenntnis, zu dem griechische Philosophie und Naturforschung schon ein halbes Jahrtausend früher sich erhoben hatten, keine Ahnung. Was wir daher von ihm und von seiner ursprünglichen Lehre wissen, schöpfen wir aus den wichtigsten Schriften des Neuen Testamentes; erstens aus den vier Evangelien und zweitens aus den paulinischen Briefen. Von den vier kanonischen Evangelien[320] wissen wir jetzt, daß sie im Jahre 325 auf dem Konzil zu Nizäa durch 318 versammelte Bischöfe aus einem Haufen von widersprechenden und gefälschten Handschriften der drei ersten Jahrhunderte ausgesucht wurden. Auf die weitere Wahlliste kamen vierzig, auf die engere vier Evangelien. Da sich die streitenden, boshaft sich schmähenden Bischöfe über die Auswahl nicht einigen konnten, beschloß man, die Auswahl durch ein göttliches Wunder bewirken zu lassen: man legte alle Bücher zusammen unter den Altar und betete, daß die unechten, menschlichen Ursprungs, darunter liegen bleiben möchten, die echten, von Gott selbst eingegebenen dagegen auf den Tisch des Herrn hinaufhüpfen möchten. Und das geschah wirklich! Die drei synoptischen Evangelien (Matthäus, Markus, Lukas – alle drei nicht von ihnen, sondern nach ihnen niedergeschrieben, im Beginn des zweiten Jahrhunderts -) und das ganz verschiedene vierte Evangelium (angeblich nach Johannes, in der Mitte des zweiten Jahrhunderts abgefaßt), alle vier hüpften auf den Tisch und wurden nunmehr zu echten (tausendfach sich widersprechenden!) Grundlagen der christlichen Glaubenslehre. Sollte ein moderner »Ungläubiger« dieses »Bücherhüpfen« unglaubwürdig finden, so erinnern wir ihn daran, daß das ebenso glaubhafte »Tischrücken« und »Geisterklopfen« noch heute von Millionen »gebildeter« Spiritisten fest geglaubt wird; und Hunderte von Millionen gläubiger Christen sind noch heute ebenso fest von ihrer eigenen Unsterblichkeit, ihrer »Auferstehung nach dem Tode« und von der »Dreieinigkeit Gottes« überzeugt – Dogmen, welche der reinen Vernunft nicht mehr und nicht weniger widersprechen als jenes wunderbare Springen der Evangelienhandschrif ten. Näheres darüber berichtet der englische Theologe Saladin (Stewart Ross) in seiner scharfsinnigen, neuerdings viel besprochenen Schrift: »Jehovas Gesammelte Werke, eine kritische Untersuchung des jüdisch-christlichen Religionsgebäudes auf Grund der Bibelforschung«, Leipzig 1896.[321]

Nächst den Evangelien sind bekanntlich die wichtigsten Quellen die 13 verschiedenen (größtenteils gefälschten!) Episteln des Apostels Paulus. Die echten paulinischen Briefe (der neueren Kritik zufolge nur vier: an die Römer, die Galater und die beiden Korintherbriefe) sind sämtlich früher niedergeschrieben als die vier kanonischen Evangelien und enthalten weniger unglaubliche Wundersagen als die letzteren; auch suchen sie mehr als diese sich mit einer vernünftigen Weltanschauung zu vereinigen. Die aufgeklärte Theologie der Neuzeit konstruiert daher teilweise ihr ideales Christentum mehr auf Grund der Paulusbriefe als der Evangelien, so daß man dasselbe geradezu als Paulinismus bezeichnet hat. Die bedeutende Persönlichkeit des Apostels Paulus, der jedenfalls viel mehr Weltkenntnis und praktischen Sinn besaß als Christus, ist für die anthropologische Beurteilung auch insofern interessant, als der Rassenursprung der beiden großen Religionsstifter ähnlich sein soll. Auch von den beiden Eltern des Paulus soll (neueren historischen Forschungen zufolge) der Vater griechischer, die Mutter jüdischer Rasse sein. Die Mischlinge dieser beiden Rassen, die ursprünglich ja sehr verschieden sind (obgleich beide Zweige derselben Spezies: Homo mediterraneus!), zeichnen sich oft durch eine glückliche Mischung der Talente und Charaktereigenschaften aus, wie auch viele Beispiele aus neuerer Zeit und aus der Gegenwart beweisen. Die plastische orientalische Phantasie der Semiten und die kritische okzidentalische Vernunft der Arier ergänzen sich oft in vorteilhafter Weise. Das zeigt sich auch in der paulinischen Lehre, die bald größeren Einfluß gewann als die älteste urchristliche Anschauung. Man hat daher auch den Paulinismus mit Recht als eine neue Erscheinung bezeichnet, deren Vater die griechische Philosophie, deren Mutter die jüdische Religion war; eine ähnliche Mischung zeigte der Neuplatonismus.

Über die ursprünglichen Lehren und Ziele von[322] Christus – ebenso wie über viele wichtige Seiten seines Lebens – sind die Ansichten der streitenden Theologen um so mehr auseinander gegangen, je mehr die historische Kritik (Strauß, Feuerbach, Baur, Renan, Kalthoff) die zugänglichen Tatsachen in ihr wahres Licht gestellt und unbefangene Schlüsse daraus gezogen hat. Sicher bleibt davon stehen das edelste Prinzip der allgemeinen Menschenliebe und der daraus folgende höchste Grundsatz der Sittenlehre: »die goldene Regel« – beide übrigens schon Jahrhunderte vor Christus bekannt und geübt (vergl. Kap. 19)! Im übrigen waren die Urchristen der ersten Jahrhunderte zum größten Teil reine Kommunisten, zum Teil Sozialdemokraten, die nach den heute in Deutschland herrschenden Grundsätzen mit Feuer und Schwert hätten vertilgt werden müssen.

Das »lateinische Christentum« oder »Papsttum«, die »römisch-katholische Kirche«, oft auch als Ultramontanismus, nach ihrer Residenz Vatikanismus oder kurz als Papismus bezeichnet, ist unter allen Erscheinungen der menschlichen Kulturgeschichte eine der großartigsten und merkwürdigsten, eine »welthistorische Größe« ersten Ranges. Trotz aller Stürme der Zeit erfreut sie sich noch heute des mächtigsten Einflusses. Von den 410 Millionen Christen, welche die Erde gegenwärtig bewohnen, bekennt mehr als die Hälfte, nämlich 225 Millionen, den römischen, nur 75 Millionen den griechischen Katholizismus, und 110 Millionen sind Protestanten. Während eines Zeitraumes von 1200 Jahren, vom vierten bis zum sechzehnten Jahrhundert, hat der Papismus das geistige Leben Europas fast vollkommen beherrscht und vergiftet; dagegen hat er den großen alten Religionssystemen in Asien und Afrika nur sehr wenig Boden abgewonnen. In Asien zählt der Buddhismus heute noch 503 Millionen, die Brahmareligion 138 Millionen, der Islam 120 Millionen Anhänger. Die Weltherrschaft des Papismus prägt vor allem dem Mittelalter seinen finsteren Charakter auf; sie bedeutet den Tod alles freien Geisteslebens,[323] den Rückgang aller wahren Wissenschaft, den Verfall aller reinen Sittlichkeit. Von der glänzenden Blüte, zu welcher sich das menschliche Geistesleben im klassischen Altertum erhoben hatte, im ersten Jahrtausend vor Christus und in den ersten Jahrhunderten nach Christus, sank dasselbe unter der Herrschaft des Papsttums bald zu einem Niveau herab, das mit Bezug auf die Erkenntnis der Wahrheit nur als Barbarei bezeichnet werden kann. Man rühmt wohl am Mittelalter, daß andere Seiten des Geisteslebens darin zu reicher Entfaltung gekommen seien, Dichtkunst und bildende Kunst, scholastische Gelehrsamkeit und patristische Philosophie. Aber diese Kulturtätigkeit befand sich im Dienste der herrschenden Kirche und wurde nicht zur Hebung, sondern zur Unterdrückung der freien Geistesforschung verwandt. Die ausschließliche Vorbereitung für ein unbekanntes »ewiges Leben im Jenseits«, die Verachtung der Natur, die Abwendung von ihrem Studium, welche im Prinzip der christlichen Religion innewohnt, wurde von der römischen Hierarchie zur heiligen Pflicht gemacht. Eine Wandlung zum Besseren brachte erst im Beginn des sechzehnten Jahrhunderts die Reformation.

Es würde uns viel zu weit führen, wenn wir hier die jammervollen Rückschritte schildern wollten, welche menschliche Kultur und Gesittung während zwölf Jahrhunderten unter der geistigen Gewaltherrschaft des Papismus erlitten. Am prägnantesten sind dieselben wohl durch einen einzigen Satz des größten und geistreichsten Hohenzollernfürsten illustriert; Friedrich der Große faßte sein Urteil in dem Satze zusammen, man werde durch das Studium der Geschichte zu der Überzeugung geführt, daß von Konstantin dem Großen bis auf die Zeit der Reformation die ganze Welt wahnsinnig gewesen sei. Eine vortreffliche kurze Schilderung dieser »Wahnsinnsperiode« hat (1887) L. Büchner gegeben in seiner Schrift »Über religiöse und wissenschaftliche Weltanschauung«. Wer sich näher darüber unterrichten[324] will, den verweisen wir auf die Geschichtswerke von Ranke, Draper, Kolb, Svoboda usw. Die wahrheitsgemäße Darstellung, welche diese und andere unbefangene Historiker von den grauenhaften Zuständen des christlichen Mittelalters geben, wird bestätigt durch alle ehrliche Quellenforschung und durch die kulturgeschichtlichen Denkmäler, welche diese traurigste Periode der menschlichen Geschichte überall hinterlassen hat. Gebildete Katholiken, welche ehrlich die Wahrheit suchen, können nicht genug auf das eigene Studium dieser Quellen hingewiesen werden. Dies ist um so mehr zu betonen, als auch gegenwärtig noch die ultramontane Literatur einen gewaltigen Einfluß besitzt; das alte Kunststück, durch dreiste Umkehrung der Tatsachen und Erfindung von Wundermärchen das »gläubige Volk« zu betören, wird auch heute noch von ihr mit größtem Erfolge angewendet; wir erinnern nur an Lourdes und an den »Heiligen Rock« von Trier (1844, erneuert 1890). Wie weit die Entstellung der Wahrheit selbst in wissenschaftlichen Werken geht, davon liefert ein auffälliges Beispiel der ultramontane Professor der Geschichte Johannes Janssen in Frankfurt a. M.; seine viel gelesenen Werke (besonders die »Geschichte des deutschen Volkes seit dem Ausgang des Mittelalters«, in zahlreichen Auflagen erschienen) leisten das Unglaublichste an dreister Geschichtsfälschung. Die Verlogenheit dieser jesuitischen Fälschungen steht auf gleicher Stufe mit der Leichtgläubigkeit und Kritiklosigkeit des einfältigen deutschen Volkes, das sie als bare Münze annimmt.

Unter den historischen Tatsachen, welche am einleuchtendsten die Verwerflichkeit der ultramontanen Geistestyrannei beweisen, interessiert uns vor allem ihre energische und konsequente Bekämpfung der wahren Wissenschaft als solcher. Diese war zwar schon von Anfang an prinzipiell im Christentum dadurch bestimmt, daß dasselbe den Glauben über die Vernunft stellte und die blinde Unterwerfung der letzteren unter den ersteren forderte; nicht minder[325] da durch, daß es das ganze Erdenleben nur als eine Vorbereitung für das erdichtete »Jenseits« betrachtete, also auch der wissenschaftlichen Forschung an sich jeden Wert absprach. Allein die planmäßige und erfolgreiche Bekämpfung der letzteren begann doch erst im Anfange des vierten Jahrhunderts, besonders seit dem berüchtigten Konzil von Nizäa (325), welchem Kaiser Konstantin präsidierte, – »der Große« genannt, weil er das Christentum zur Staatsreligion erhob und Konstantinopel gründete, dabei ein nichtswürdiger Charakter, ein falscher Heuchler und vielfacher Mörder. Wie erfolgreich der Papismus in seinem Kampfe gegen jedes selbständige wissenschaftliche Denken und Forschen war, beweist am besten der jammervolle Zustand der Naturerkenntnis und ihrer Literatur im Mittelalter. Nicht nur wurden die reichen Geistesschätze, welche das klassische Altertum hinterlassen hatte, zum größten Teil vernichtet oder der Verbreitung entzogen, sondern Folterknechte und Scheiterhaufen sorgten dafür, daß jeder »Ketzer«, d.h. jeder selbständige Denker, seine vernünftigen Gedanken für sich behielt. Tat er das nicht, so mußte er sich darauf gefaßt machen, lebendig verbrannt zu werden, wie es dem großen monistischen Philosophen Giordano Bruno, dem Reformator Johann Huß und mehr als hunderttausend anderen »Zeugen der Wahrheit« geschah. Die Geschichte der Wissenschaften im Mittelalter lehrt uns auf jeder Seite, daß das selbständige Denken und die empirische wissenschaftliche Forschung unter dem Drucke des allmächtigen Papismus durch zwölf traurige Jahrhunderte wirklich völlig begraben blieben.

Alles das, was wir am wahren Christentum im Sinne seines Stifters und seiner edelsten Nachfolger hochschätzen, und was wir aus dem unausbleiblichen Untergang dieser »Weltreligion« in unsere neue, monistische Religion hinüber zu retten suchen müssen, liegt auf seiner ethischen und sozialen Seite. Die Prinzipien der wahren Humanität, der[326] goldenen Regel, der Toleranz, der Menschenliebe im besten und höchsten Sinne des Wortes, alle diese wahren Lichtseiten des Christentums sind zwar nicht von ihm zuerst erfunden und aufgestellt, aber doch erfolgreich in jener kritischen Periode zur Geltung gebracht worden, in der das klassische Altertum seiner Auflösung entgegenging. Der Papismus aber hat es verstanden, alle jene Tugenden in ihr direktes Gegenteil zu verkehren und dabei doch die alte Firma als Aushängeschild zu bewahren. An die Stelle der christlichen Liebe trat der fanatische Haß gegen alle Andersgläubigen; mit Feuer und Schwert wurden nicht allein die Heiden ausgerottet, sondern auch jene christlichen Sekten, welche in besserer Erkenntnis Einwendungen gegen die aufgezwungenen Lehrsätze des ultramontanen Aberglaubens zu erheben wagten. Überall in Europa blühten die Ketzergerichte und forderten unzählige Opfer, deren Folterqualen ihren frommen, von »christlicher Bruderliebe« erfüllten Peinigern besonderes Vergnügen bereiteten. Die Papstmacht wütete auf ihrer Höhe durch Jahrhunderte erbarmungslos gegen alles, was ihrer Herrschaft im Wege stand. Unter dem berüchtigten Großinquisitor Torquemada (1481 bis 1498) wurden allein in Spanien achttausend Ketzer lebendig verbrannt, neunzigtausend mit Einziehung des Vermögens und den empfindlichsten Kirchenbußen bestraft, während in den Niederlanden unter der Herrschaft Karls des Fünften dem klerikalen Blutdurst mindestens fünfzigtausend Menschen zum Opfer fielen. Und während das Geheul gemarterter Menschen die Luft erfüllte, strömten in Rom, dem die ganze christliche Welt tributpflichtig war, die Reichtümer der halben Welt zusammen, und wälzten sich die angeblichen Stellvertreter Gottes auf Erden und ihre Helfershelfer (welche selbst nicht selten dem weitestgehenden Atheismus huldigten!) in Lüsten und Lastern jeder Art. »Welche Vorteile«, sagt der frivole und syphilitische Papst Leo X. ironisch, »hat uns doch diese Fabel von Jesus Christus gebracht!«[327] Dabei war der Zustand der europäischen Gesellschaft trotz Kirchenzucht und Gottesfurcht von der allerschlimmsten Art. Feudalismus, Leibeigenschaft, Gottesgnadentum und Mönchtum beherrschten das Land, und die armen Heloten waren froh, wenn sie ihre elenden Hurten im Machtbereiche der Schlösser oder Klöster ihrer geistlichen und weltlichen Unterdrücker und Ausbeuter errichten durften. Heutzutage noch leiden wir unter den Nachwehen von Überbleibseln dieser traurigen Zustände und Zeiten, in welchen von Pflege der Wissenschaft und höherer Geistesbildung nur ausnahmsweise und im Verborgenen die Rede sein konnte. »Unwissenheit, Armut und Aberglaube vereinigten sich mit der entsittlichenden Wirkung des im elften Jahrhundert eingeführten Zölibats, um die absolute Papstmacht immer stärker werden zu lassen« (Büchner a. a. O.). Man hat berechnet, daß während dieser Glanzperiode des Papismus über zehn Millionen Menschen dem fanatischen Glaubenshaß der »christlichen Liebe« zum Opfer fielen; und wieviel mehr Millionen betrugen die geheimen Menschenopfer, welche das Zölibat, die Ohrenbeichte und der Gewissenszwang erforderten, die gemeinschädlichsten und fluchwürdigsten Institutionen des päpstlichen Absolutismus! Die »ungläubigen« Philosophen, welche Beweise gegen das Dasein Gottes sammelten, haben einen der stärksten Beweise dagegen übersehen, die Tatsache, daß die römischen »Statthalter Christi« zwölf Jahrhunderte hindurch ungestraft die gräulichsten Verbrechen und Schandtaten »im Namen Gottes« verüben durften.

Die Geschichte der Kulturvölker, welche wir »die Weltgeschichte« zu nennen belieben, läßt deren dritten Hauptabschnitt, die »Neuzeit«, oft mit der Reformation der christlichen Kirche beginnen, ebenso wie den zweiten, das Mittelalter, mit der Gründung des Christentums; und sie tut recht daran. Denn mit der Reformation beginnt die Wiedergeburt der gefesselten Vernunft, das Wiedererwachen der Wissenschaft, welche die eiserne Faust des christlichen Papismus[328] durch 1200 Jahre gewaltsam niedergehalten hatte. Allerdings hatte die Verbreitung allgemeiner Bildung durch die Buchdruckerkunst schon um die Mitte des fünfzehnten Jahrhunderts begonnen, und gegen Ende desselben traten mehrere große Ereignisse ein, welche im Verein mit der »Renaissance« der Kunst auch diejenige der Wissenschaft vorbereiteten, vor allem die Entdeckung von Amerika (1492). Auch wurden in der ersten Hälfte des sechzehnten Jahrhunderts mehrere höchst wichtige Fortschritte in der Erkenntnis der Natur gemacht, welche die bestehende Weltanschauung in ihren Grundfesten erschütterten; so die erste Umschiffung der Erde durch Magellan, welche den empirischen Beweis für ihre Kugelgestalt lieferte (1522); die Gründung des Weltsystems durch Kopernikus (1543). Aber der 31. Oktober 1517, an welchem Martin Luther seine 95 Thesen an die hölzerne Tür der Schloßkirche zu Wittenberg nagelte, bleibt daneben ein weltgeschichtlicher Tag; denn damit wurde die eiserne Tür des Kerkers gesprengt, in dem der päpstliche Absolutismus durch 1200 Jahre die gefesselte Vernunft eingeschlossen gehalten hatte. Man hat die Verdienste des großen Reformators, der auf der Wartburg die Bibel übersetzte, teils übertrieben, teils unterschätzt; man hat auch mit Recht darauf hingewiesen, wie er gleich den anderen Reformatoren noch vielfach im tiefsten Aberglauben befangen blieb. So konnte sich Luther zeitlebens nicht von dem starren Buchstabenglauben der Bibel befreien; er verteidigte eifrig die Lehre von der Auferstehung, der Erbsünde und der Prädestination, der Rechtfertigung durch den Glauben usw. Die gewaltige Geistestat des Kopernikus verwarf er als Narrheit, weil in der Bibel »Josua die Sonne stillstehen hieß und nicht das Erdreich«. Für die großen politischen Umwälzungen seiner Zeit, besonders die großartige und vollberechtigte Bauernbewegung, hatte er kein Verständnis. Schlimmer noch war der fanatische Reformator Calvin in Genf, welcher (1553) den geistreichen spanischen Arzt Serveto lebendig verbrennen[329] ließ, weil er den unsinnigen Glauben an die Dreieinigkeit bekämpfte. Überhaupt traten die fanatischen »Rechtgläubigen« der reformierten Kirche leider nur zu oft in die blutbefleckten Fußtapfen ihrer papistischen Todfeinde, wie sie es auch heute noch tun. Leider folgten auch ungeheuere Greueltaten der Reformation auf dem Fuße: die Bartholomäusnacht und die Hugenottenverfolgung in Frankreich, blutige Ketzerjagden in Italien, lange Bürgerkriege in England, der Dreißigjährige Krieg in Deutschland. Aber trotz alledem bleibt dem sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert der Ruhm, dem denkenden Menschengeiste zuerst wieder freie Bahn geschaffen und die Vernunft von dem erstickenden Drucke der papistischen Herrschaft befreit zu haben. Erst dadurch wurde die mächtige Entfaltung verschiedener Richtungen der kritischen Philosophie und neuer Bahnen der Naturforschung möglich, welche dann dem folgenden achtzehnten Jahrhundert den Ehrentitel des »Jahrhunderts der Aufklärung« erwarb.

Als vierten und letzten Hauptabschnitt in der Geschichte des Christentums stellen wir das neunzehnte Jahrhundert seinen Vorgängern gegenüber. Wenn in diesen letzteren bereits die »Aufklärung« nach allen Richtungen hin die kritische Philosophie gefördert, und wenn das Aufblühen der Naturwissenschaften derselben die stärksten empirischen Waffen in die Hände gegeben hatte, so erscheint uns doch der Fortschritt nach beiden Richtungen hin im neunzehnten Jahrhundert ganz gewaltig; denn es beginnt damit wiederum eine ganz neue Periode in der Geschichte des Menschengeistes, charakterisiert durch die Entwicklung der monistischen Naturphilosophie. Schon im Beginne desselben wurde der Grund zu einer neuen Anthropologie gelegt (durch die vergleichende Anatomie von Cuvier) und zu einer neuen Biologie (durch die Philosophie zoologique von Lamarck). Bald folgten diesen beiden großen Franzosen zwei ebenbürtige Deutsche, Baer als Begründer[330] der Entwicklungsgeschichte (1828) und Johannes Müller (1834) als der der vergleichenden Morphologie und Physiologie. Ein Schüler des letzteren, Theodor Schwann, schuf 1838, im Verein mit M. Schleiden, die grundlegende Zellentheorie. Schon vorher hatte Lyell (1830) die Entwicklungsgeschichte der Erde auf natürliche Ursachen zurückgeführt und damit auch für unseren Planeten die Geltung der mechanischen Kosmogenie bestätigt, welche Kant bereits 1755 mit kühner Hand entworfen hatte. Endlich wurde durch Robert Mayer und Helmholtz (1842) das Energieprinzip festgestellt und damit die zweite, ergänzende Hälfte des großen Substanzgesetzes gegeben, dessen erste Hälfte, die Konstanz der Materie, schon Lavoisier entdeckt hatte. Allen diesen tiefen Einblicken in das innere Wesen der Natur setzte dann im Jahre 1859 Charles Darwin die Krone auf durch seine neue, auf die sichersten Erfahrungen gestützte Entwicklungslehre, die wir als das größte naturphilosophische Ereignis des neunzehnten Jahrhunderts feiern müssen.

Wie verhält sich nun zu diesen gewaltigen, alles frühere weit überbietenden Fortschritten der Naturerkenntnis das moderne Christentum? Zunächst wurde naturgemäß die tiefe Kluft zwischen den beiden Hauptrichtungen desselben immer größer, zwischen dem konservativen Papismus und dem progressiven Protestantismus. Der ultramontane Klerus (- und im Verein mit ihm die orthodoxe »Evangelische Allianz« -) mußten naturgemäß jenen mächtigen Eroberungen des freien Geistes den heftigsten Widerstand entgegensetzen; sie verharrten unbeirrt auf ihrem strengen Buchstabenglauben und verlangten die unbedingte Unterwerfung der Vernunft unter das Dogma. Der liberale Protestantismus hingegen verflüchtigte sich immer mehr zu einem monistischen Pantheismus und strebte nach Versöhnung der beiden entgegengesetzten Prinzipien; er suchte die unvermeidliche Anerkennung der empirisch bewiesenen Naturgesetze und der daraus gefolgerten philosophischen[331] Schlüsse mit einer geläuterten Religionsform zu verbinden, in der freilich von der eigentlichen Glaubenslehre fast nichts mehr übrig blieb. Zwischen beiden Extremen bewegten sich zahlreiche Kompromißversuche; darüber hinaus aber drang in immer weitere Kreise die Überzeugung, daß das dogmatische Christentum überhaupt jeden Boden verloren habe, und daß man nur seinen wertvollen ethischen Inhalt in die neue, monistische Religion des zwanzigsten Jahrhunderts hinüberretten könne. Da jedoch gleichzeitig die gegebenen äußeren Formen der herrschenden, christlichen Religion fortbestanden, da sie sogar trotz der fortgeschrittenen politischen Entwicklung mit den praktischen Bedürfnissen des Staates immer enger verknüpft wurden, entwickelte sich jene weitverbreitete religiöse Weltanschauung der gebildeten Kreise, die wir nur als Scheinchristentum bezeichnen können – im Grunde eine »religiöse Lüge« bedenklichster Art. Die großen Gefahren, welche dieser tiefe Konflikt zwischen der wahren Überzeugung und dem falschen Bekenntnis der modernen Scheinchristen mit sich bringt, hat u. a. trefflich Max Nordau geschildert in seinem interessanten Werke: »Die Konventionellen Lügen der Kulturmenschheit« (XII. Aufl. 1886).

Inmitten dieser offenkundigen Unwahrhaftigkeit des herrschenden Scheinchristentums ist es für den Fortschritt der vernunftgemäßen Naturerkenntnis sehr wertvoll, daß dessen mächtigster und entschiedenster Gegner, der Papismus, um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts die alte Maske angeblicher höherer Geistesbildung abgeworfen und der selbständigen Wissenschaft als solcher den entscheidenden »Kampf auf Tod und Leben« angekündigt hat. Es geschah dies in drei bedeutungsvollen Kriegserklärungen gegen die Vernunft, für deren Unzweideutigkeit und Entschiedenheit die moderne Wissenschaft und Kultur dem römischen »Staathalter Christi« nur dankbar sein kann: I. Im Dezember 1854 verkündete der Papst das Dogma von der unbefleckten[332] Empfängnis Mariä. II. Zehn Jahre später, im Dezember 1864, sprach der »Heilige Vater« in der berüchtigten Enzyklika das absolute Verdammungsurteil über die ganze moderne Zivilisation und Geistesbildung aus; in dem begleitenden Syllabus gab er eine Aufzählung und Verfluchung aller einzelnen Vernunftsätze und philosophischen Prinzipien, welche von unserer modernen Wissenschaft als sonnenklare Wahrheit anerkannt sind. III. Endlich setzte sechs Jahr später, am 13. Juli 1870, der streitbare Kirchenfürst im Vatikan seinem Aberwitz die Krone auf, indem er für sich und alle seine Vorgänger in der Papstwürde die Unfehlbarkeit in Anspruch nahm. Dieser Triumph der römischen Kurie wurde der erstaunten Welt fünf Tage später verkündet, am 18. Juli 1870, an demselben denkwürdigen Tage, an welchem Frankreich den Krieg an Preußen erklärte! Zwei Monate später wurde die unberechtigte weltliche Herrschaft des Papstes infolge dieses Krieges aufgehoben.

Diese drei wichtigen Akte des Papismus im neunzehnten Jahrhundert waren so offenkundige Faustschläge in das Antlitz der Vernunft, daß sie selbst innerhalb der orthodoxen katholischen Kreise von Anfang an das höchste Bedenken erregten. Als man im vatikanischen Konzil am 13. Juli 1870 zur Abstimmung über das Dogma von der Unfehlbarkeit schritt, erklärten sich nur drei Viertel der Kirchenfürsten zugunsten desselben, nämlich 451 von 601 Abstimmenden; dazu fehlten noch zahlreiche andere Bischöfe, welche sich der gefährlichen Abstimmung enthalten wollten. Indessen zeigte sich bald, daß der kluge und menschenkundige Papst richtiger gerechnet hatte als die zaghaften »besonnenen Katholiken«; denn in den leichtgläubigen und ungebildeten Massen fand auch dieses ungeheuerliche Dogma trotz aller Bedenken blinde Annahme.

Die ganze Geschichte des Papsttums, wie sie durch Tausende von zuverlässigen Quellen und von handgreiflichen historischen Dokumenten unwiderleglich[333] festgenagelt ist, erscheint für den unbefangenen Kenner als ein gewissenloses Gewebe von Lug und Trug, als ein rücksichtsloses Streben nach absoluter geistlicher Herrschaft und weltlicher Macht, als eine frivole Verleugnung aller der hohen sittlichen Gebote, welche das wahre Christentum predigt: Menschenliebe und Duldung, Wahrheit und Keuschheit, Armut und Entsagung. Wenn man die lange Reihe der Päpste und der römischen Kirchenfürsten, aus denen sie gewählt wurden, nach dem Maßstabe der reinen christlichen Moral mustert, ergibt sich klar, daß die große Mehrzahl derselben schamlose Gaukler und Betrüger waren, viele von ihnen nichtswürdige Verbrecher. Diese allbekannten historischen Tatsachen hindern aber nicht, daß noch heute Millionen von »gebildeten« gläubigen Katholiken an die »Unfehlbarkeit« dieses »Heiligen Vaters« glauben, die er sich selbst zugesprochen hat; sie hindern nicht, daß noch heute protestantische Fürsten nach Rom fahren und dem »Heiligen Vater« (ihrem gefährlichsten Feinde!) ihre Verehrung bezeugen; sie hindern nicht, daß noch heute im Deutschen Reichstage die Knechte und Helfershelfer dieses »heiligen Gauklers« die Geschicke des deutschen Volkes bestimmen – dank seiner unglaublichen politischen Unfähigkeit und seiner kritiklosen Gläubigkeit; dank der Macht der geheiligten Tradition und der bequemen Denkfaulheit!

Unter den angeführten drei großen Gewalttaten, durch welche der moderne Papismus in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts seine absolute Herrschaft zu retten und zu befestigen suchte, ist für uns am interessantesten die Verkündigung der Enzyklika und des Syllabus im Dezember 1864; denn in diesen denkwürdigen Aktenstücken wird der Vernunft und Wissenschaft überhaupt jede selbständige Tätigkeit abgesprochen und ihre absolute Unterwerfung unter den »alleinseligmachenden Glauben«, d.h. unter die Dekrete des »unfehlbaren Papstes«, gefordert. Die ungeheuere Erregung, welche diese maßlose Frechheit in allen gebildeten und unabhängig[334] denkenden Kreisen hervorrief, entsprach dem ungeheuerlichen Inhalte der Enzyklika; eine vortreffliche Erörterung ihrer kulturellen und politischen Bedeutung hat u. a. Draper in seiner Geschichte der Konflikte zwischen Religion und Wissenschaft gegeben (1875).

Weniger einschneidend und bedeutungsvoll als die Enzyklika und als das Dogma der Infallibilität des Papstes erscheint vielleicht das Dogma von der unbefleckten Empfängnis. Indessen legt nicht nur die römische Hierarchie auf diesen Glaubenssatz das höchste Gewicht, sondern auch ein Teil der orthodoxen Protestanten (z.B. die Evangelische Allianz). Der sogenannte »Immakulateid«, d.h. die eidliche Versicherung des Glaubens an die unbefleckte Empfängnis Maria, gilt noch heute Millionen von Christen als heilige Pflicht. Viele Gläubige verbinden damit einen doppelten Begriff; sie behaupten, daß die Mutter der Jungfrau Maria ebenso durch den »Heiligen Geist« befruchtet worden sei wie diese selbst. Demnach würde dieser seltsame Gott sowohl zur Mutter als zur Tochter in den intimsten Beziehungen gestanden haben: er müßte mithin sein eigener Schwiegervater sein Saladin. Die vergleichende und kritische Theologie hat neuerdings nachgewiesen, daß auch dieser Mythus, gleich den meisten anderen Legenden der christlichen Mythologie, keineswegs originell, sondern aus älteren Religionen, besonders dem Buddhismus, übernommen ist. Ähnliche Sagen hatten schon mehrere Jahrhunderte vor Christi Geburt eine weite Verbreitung in Indien, Persien, Kleinasien und Griechenland. Wenn Königstöchter oder andere Jungfrauen aus höheren Ständen, ohne legitim verheiratet zu sein, durch die Geburt eines Kindes erfreut wurden, so wurde als der Vater dieses illegitimen Sprößlings meistens ein »Gott« oder »Halbgott« ausgegeben, in diesem Falle der mysteriöse »Heilige Geist«.

Die besonderen Gaben des Geistes und Körpers, durch welche solche »Kinder der Liebe« oft vor gewöhnlichen[335] Menschenkindern sich auszeichneten, wurden damit zugleich teilweise durch Vererbung erklärt. Solche hervorragende »Göttersöhne« standen sowohl im Altertum als im Mittelalter in hohem Ansehen, während der Moralkodex der modernen Zivilisation ihnen den Mangel der »legitimen« Eltern als Makel anrechnet. In noch höherem Maße gilt dies von den »Göttertöchtern«, obwohl diese armen Mädchen an dem fehlenden Titel ihres Vaters ebenso unschuldig sind. Übrigens weiß jeder, der sich an der schönheitsvollen Mythologie des klassischen Altertums erfreut hat, wie gerade die angeblichen Söhne und Töchter der griechischen und römischen »Götter« sich oft den höchsten Idealen des reinen Menschentypus am meisten genähert haben; man denke nur an die große legitime und die noch viel größere illegitime Familie des Göttervaters Zeus.

Was nun speziell die Befruchtung der Jungfrau Maria durch den Heiligen Geist betrifft, so werden wir durch das Zeugnis der Evangelien selbst darüber aufgeklärt. Die beiden Evangelisten, welche allein darüber Bericht erstatten, Matthäus und Lukas, erzählen, übereinstimmend, daß die jüdische Jungfrau Maria mit dem Zimmermann Joseph verlobt war, aber ohne dessen Mitwirkung schwanger wurde, und zwar durch den »Heiligen Geist«. Matthäus sagt ausdrücklich (Kap. I, Vers 19): »Joseph aber, ihr Mann, war fromm und wollte sie nicht in Schande bringen, gedachte aber, sie heimlich zu verlassen«; er wurde erst beschwichtigt, als ihm der »Engel des Herrn« mitteilte: »Was in ihr geboren ist, das ist von dem Heiligen Geist.« Ausführlicher erzählt Lukas (Kap. I, Vers 26-38) »die Verkündigung Mariä« durch den Erzengel Gabriel mit den Worten: »Der Heilige Geist wird über dich kommen, und die Kraft des Höchsten wird dich überschatten« – worauf Maria antwortete: »Siehe, ich bin des Herrn Magd, mir geschehe, wie du gesagt hast.« Bekanntlich ist dieser Besuch des Engels Gabriel und seine Verkündigung von vielen berühmten Malern[336] zum Vorwurf interessanter Gemälde gewählt worden. Svoboda sagt darüber: »Der Erzengel spricht da mit einer Aufrichtigkeit, welche die Malerei zum Glück nicht wiederholen konnte. Es zeigt sich auch in diesem Falle die Veredelung eines prosaischen Bibelstoffes durch die bildende Kunst. Allerdings gab es auch Maler, welche für die embryologischen Betrachtungen des Erzengels Gabriel in ihren Darstellungen volles Verständnis bekundeten.«

Wie schon vorher angeführt wurde, sind die vier kanonischen Evangelien, welche von der christlichen Kirche allein als die echten anerkannt und als die Grundlagen des Glaubens hochgehalten werden, willkürlich ausgewählt aus einer viel größeren Zahl von Evangelien, deren tatsächliche Angaben sich oft unter sich nicht weniger widersprechen als die Sagen der ersteren. Die Kirchenväter selbst zählen nicht weniger als 40-50 solcher unechter oder apokrypher Evangelien auf; einige davon sind sowohl in griechischer als auch in lateinischer Sprache vorhanden, so z.B. das Evangelium des Jakobus, des Thomas, des Nikodemus u. a. Die Angaben, welche diese apokryphen Evangelien über das Leben Jesu machen, besonders über seine Geburt und Kindheit, können ebensogut (oder vielmehr größtenteils ebensowenig!) Anspruch auf historische Glaubwürdigkeit erheben als die vier kanonischen, die sogenannten »echten« Evangelien. Nun findet sich aber in einer jener apokryphen Schriften eine historische Angabe, die wahrscheinlich das »Welträtsel« von der übernatürlichen Empfängnis und Geburt Christi ganz einfach und natürlich löst. Jener Geschichtschreiber erzählt mit trockenen Worten in einem Satze die merkwürdige Novelle, welche diese Lösung enthält: »Josephus Pandera, der römische Hauptmann einer kalabresischen Legion, welche in Judäa stand, verführte Mirjam von Bethlehem, ein hebräisches Mädchen, und wurde der Vater von Jesus.« (Vergl. Celsus, 178 n. Chr.)

Natürlich werden diese historischen Angaben von[337] den offiziellen Theologen sorgfältig verschwiegen, da sie schlecht zu dem traditionellen Mythus passen und den Schleier von dessen Geheimnis in sehr einfacher und natürlicher Weise lüften. Um so mehr ist es gutes Recht der objektiven Wahrheitsforschung und heilige Pflicht der reinen Vernunft, diese wichtigen Angaben kritisch zu prüfen. Da ergibt sich denn, daß dieselben sicher weit eher Anrecht auf Glaubwürdigkeit haben, als alle anderen Behauptungen über den Ursprung Christi. Da wir seine Parthenogenesis, die übernatürliche Erzeugung durch »Überschattung des Höchsten«, aus den bekannten wissenschaftlichen Prinzipien überhaupt als reinen Mythus ablehnen müssen, bleibt nur noch die weitverbreitete Behauptung der modernen »rationellen Theologie« übrig, daß der jüdische Zimmermann Joseph der wahre Vater von Christus gewesen sei. Diese Annahme wird aber durch verschiedene Sätze des Evangeliums ausdrücklich widerlegt. Christus selbst war überzeugt, »Gottes Sohn« zu sein, und hat niemals seinen Stiefvater Joseph als seinen Erzeuger anerkannt. Joseph aber wollte seine Braut Maria verlassen, als er entdeckte, daß sie ohne sein Zutun schwanger geworden war. Er gab diese Absicht erst auf, nachdem ihm im Traum ein »Engel des Herrn« erschienen war und ihn beschwichtigt hatte. Wie im ersten Kapitel des Evangeliums Matthäi (Vers 24, 25) ausdrücklich hervorgehoben wird, fand die sexuelle Verbindung von Joseph und Maria zum ersten Male statt, nachdem Jesus geboren war.

Die Angabe der alten apokryphen Schriften, daß der römische Hauptmann Pandera oder Pantheras der wahre Vater von Christus gewesen, erscheint um so glaubhafter, wenn man von streng anthropologischen Gesichtspunkten aus die Person Christi kritisch prüft. Gewöhnlich wird derselbe als reiner Jude betrachtet. Allein gerade die Charakterzüge, die seine hohe und edle Persönlichkeit besonders auszeichnen, und welche seiner »Religion der Liebe« den Stempel aufdrücken, sind entschieden nicht semitisch;[338] vielmehr erscheinen sie als Grundzüge der höheren arischen Rasse und vor allen ihres edelsten Zweiges, der Hellenen. Nun deutet aber der Name von Christus' wahrem Vater: »Pandera« unzweifelhaft auf hellenischen Ursprung; in einer Handschrift wird er sogar »Pandora« geschrieben. Pandora war aber bekanntlich nach der griechischen Sage die erste, von Vulkan aus Erde gebildete und von den Göttern mit allen Liebreizen ausgestattete Frau, welche Epimetheus heiratete, und welche der Göttervater mit der schrecklichen, alle Übel enthaltenden »Pandorabüchse« zu den Menschen schickte; das war die Strafe dafür, daß der Lichtbringer Prometheus das göttliche Feuer (der »Vernunft«!) vom Himmel entwendet hatte!

Interessant ist übrigens die verschiedene Auffassung und Beurteilung, welche der Liebesroman der Mirjam von seiten der vier großen christlichen Kulturnationen Europas erfahren hat. Nach den strengeren Moralbegriffen der germanischen Rassen wird derselbe schlechtweg verworfen; lieber glaubt der ehrliche Deutsche und der prüde Brite blind an die unmögliche Sage von der Erzeugung durch den »Heiligen Geist«. Wie bekannt, entspricht diese strenge, sorgfältig zur Schau getragene Prüderie der feineren Gesellschaft (besonders in England!) keineswegs dem wahren Zustande der sexuellen Sittlichkeit in dem dortigen »Highlife«. Die Enthüllungen z.B., welche darüber vor zwei Dutzend Jahren die »Pall Mall Gazette« brachte, erinnerten sehr an die Zustände von Babylon und an das Rom der Kaiserzeit. Aber auch das heutige Rom, Paris und Berlin zeigen ähnliche Verhältnisse.

Die romanischen Rassen, welche diese Prüderie verlachen und die sexuellen Verhältnisse leichtfertiger beurteilen, finden jenen »Roman der Maria« recht anziehend, und der besondere Kultus, dessen gerade im Frankreich und Italien »Unsere liebe Frau« sich erfreut, ist oft in merkwürdiger Naivität mit jener Liebesgeschichte verknüpft. So findet z.B. Paul[339] de Regla (Dr. Desjardin), welcher (1894) »Jesus von Nazareth vom wissenschaftlichen, geschichtlichen und gesellschaftlichen Standpunkte aus dargestellt« hat, gerade in der unehelichen Geburt Christi ein besonderes »Anrecht auf den Heiligenschein, der seine herrliche Gestalt umstrahlt«!

Es erschien mir notwendig, diese wichtigen Fragen der Christusforschung hier offen im Sinne der objektiven Geschichtswissenschaft zu beleuchten, weil die streitende Kirche selbst darauf das größte Gewicht legt, und weil sieden darauf gegründeten Wunderglauben als stärkste Waffe gegen die moderne Weltanschauung verwendet. Der hohe ethische Wert des ursprünglichen reinen Christentums, der veredelnde Einfluß dieser »Religion der Liebe« auf die Kulturgeschichte, ist ganz unabhängig von jenen mythologischen Dogmen. Die angeblichen »Offenbarungen«, auf welche sich diese Mythen stützen, sind dagegen unvereinbar mit den sichersten Ergebnissen unserer modernen Naturerkenntnis.

Die meisten Religionen haben trotz ihrer mannigfaltigen Verschiedenheit einen gemeinsamen Grundzug, der zugleich eine ihrer mächtigsten Stützen in weiten Kreisen bildet; sie behaupten, die Rätsel des Daseins, deren Lösung auf natürlichem Wege durch die Vernunft nicht möglich ist, auf übernatürlichem Wege durch Offenbarung geben zu können; zugleich leiten sie daraus die Geltung der Dogmen oder Glaubenssätze ab, welche als »göttliche Gesetze« die Sittenlehre ordnen und die Lebensführung bestimmen sollen. Derartige göttliche Inspirationen bilden die Grundlage zahlreicher Mythen und Legenden, deren anthropistischer Ursprung auf der Hand liegt. Zwar erscheint der Gott, der »sich offenbart«, oft nicht direkt in menschlicher Gestalt, sondern im Donner und Blitz, im Sturm und Erdbeben, im feurigen Busch oder der drohenden Wolke. Aber die Offenbarung selbst, welche er dem gläubigen Menschenkinde gibt, wird in allen Fällen anthropistisch gedacht, als Mitteilung von Vorstellungen oder Befehlen, welche genau[340] so formuliert und ausgesprochen werden, wie es normalerweise nur durch die Großhirnrinde und durch den Kehlkopf des Menschen geschieht. In den indischen und ägyptischen Religionen, in der hellenischen und römischen Mythologie, im Talmud wie im Koran, im Alten wie im Neuen Testament – denken, sprechen und handeln die Götter ganz wie die Menschen, und die Offenbarungen, in denen sie uns die Geheimnisse des Daseins enthüllen, die dunklen Welträtsel lösen wollen, sind Dichtungen der menschlichen Phantasie. Die Wahrheit, welche der Gläubige darin findet, ist menschliche Erfindung, und der »kindliche Glaube« an diese unvernünftigen Offenbarungen ist unhaltbarer Aberglaube.

Die wahre Offenbarung, d.h. die wahre Quelle vernünftiger Erkenntnis, ist nur in der Natur zu finden. Der reiche Schatz wahren Wissens, der den wertvollsten Teil der menschlichen Kultur darstellt, ist einzig und allein den Erfahrungen entsprungen, welche der forschende Verstand durch Naturerkenntnis gewonnen hat, und den Vernunftschlüssen, welche er durch richtige Assozion dieser empirischen Vorstellungen gebildet hat. Jeder vernünftige Mensch mit normalem Gehirn und normalen Sinnen schöpft bei unbefangener Betrachtung aus der Natur diese wahre Offenbarung und befreit sich damit von dem Aberglauben, welchen ihm die Offenbarungen der Religion aufgebürdet haben.[341]

Quelle:
Ernst Haeckel: Gemeinverständliche Werke. Band 3, Leipzig und Berlin [o.J.], S. 317-342.
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