Achtzehntes Kapitel

Unsere monistische Religion

[342] Monistische Studien über die Religion der Vernunft und ihre Harmonie mit der Wissenschaft.

Die drei Kultusideale des Wahren, Guten und Schönen.


Viele und sehr angesehene Naturforscher und Philosophen der Gegenwart, welche unsere monistischen Überzeugungen teilen, halten die Religion überhaupt für eine abgetane Sache. Sie meinen, daß die klare Einsicht in die Weltentwicklung, die wir den gewaltigen Erkenntnisfortschritten des neunzehnten Jahrhunderts verdanken, nicht bloß das Kausalitätsbedürfnis unserer Vernunft vollkommen befriedige, sondern auch die höchsten Gefühlsbedürfnisse unseres Gemütes. Diese Ansicht ist in gewissem Sinne richtig, insofern bei einer vollkommen klaren und folgerichtigen Auffassung des Monismus tatsächlich die beiden Begriffe von Religion und Wissenschaft zu Einem miteinander verschmelzen. Indessen nur wenige entschlossene Denker ringen sich zu dieser höchsten und reinsten Auffassung von Spinoza und Goethe empor; vielmehr verharren die meisten Gebildeten unserer Zeit (ganz abgesehen von den ungebildeten Volksmassen) bei der Überzeugung, daß die Religion ein selbständiges, von der Wissenschaft unabhängiges Gebiet unseres Geisteslebens darstelle, nicht minder wertvoll und unentbehrlich als die letztere.

Wenn wir diesen Standpunkt einnehmen, können wir eine Versöhnung zwischen jenen beiden großen, anscheinend getrennten Gebieten in der Auffassung[342] finden, welche ich 1892 in meinem Altenburger Vortrage niedergelegt habe: »Der Monismus als Band zwischen Religion und Wissenschaft.« In dem Vorwort zu diesem »Glaubensbekenntnis eines Naturforschers« habe ich mich über dessen doppelten Zweck mit folgenden Worten geäußert: »Erstens möchte ich damit derjenigen vernünftigen Weltanschauung Ausdruck geben, welche uns durch die neueren Fortschritte der einheitlichen Naturerkenntnis mit logischer Notwendigkeit aufgedrungen wird; sie wohnt im Innersten von fast allen unbefangenen und denkenden Naturforschern, wenn auch nur wenige den Mut oder das Bedürfnis haben, sie offen zu bekennen. Zweitens möchte ich dadurch ein Band zwischen Religion und Wissenschaft knüpfen und somit zur Ausgleichung des Gegensatzes beitragen, welcher zwischen diesen beiden Gebieten der höchsten menschlichen Geistestätigkeit unnötigerweise aufrecht erhalten wird; das ethische Bedürfnis unseres Gemütes wird durch den Monismus ebenso befriedigt wie das logische Kausalitätsbedürfnis unseres Verstandes.«

Die starke Wirkung, welche dieser Altenburger Vortrag hatte, beweist, daß ich mit diesem monistischen Glaubensbekenntnis nicht nur dasjenige vieler Naturforscher, sondern auch zahlreicher gebildeter Männer und Frauen aus verschiedenen Berufskreisen ausgesprochen hatte. Nicht nur wurde ich durch Hunderte von zustimmenden Briefen belohnt, sondern auch durch die weite Verbreitung des Vertrags, von welchem innerhalb sechs Monaten sechs Auflagen erschienen. Ich darf diesen unerwarteten Erfolg um so höher anschlagen, als jenes Glaubensbekenntnis ursprünglich eine freie Gelegenheitsrede war, die unvorbereitet am 9. Oktober 1892 in Altenburg während des Jubiläums der Naturforschenden Gesellschaft des Osterlandes entstand. Natürlich erfolgte auch bald die notwendige Gegenwirkung nach der anderen Seite; ich wurde nicht nur von der ultramontanen Presse des Papismus auf das heftigste angegriffen,[343] von den geschworenen Verteidigern des Aberglaubens, sondern auch von »liberalen« Kriegsmännern des evangelischen Christentums, welche sowohl die wissenschaftliche Wahrheit als auch den aufgeklärten Glauben zu vertreten behaupten. Nun hat sich aber in den bewegten seitdem verflossenen Jahren der große Kampf zwischen der modernen Naturwissenschaft und dem orthodoxen Christentum immer drohender gestaltet; er ist für die erstere um so gefährlicher geworden, je mächtigere Unterstützung das letztere durch die wachsende geistige und politische Reaktion, gefunden hat. Ist doch die letztere in manchen Ländern schon so weit vorgeschritten, daß die gesetzlich garantierte Denk- und Gewissensfreiheit praktisch schwer gefährdet wird (so z.B. jetzt in Bayern). In der Tat hat der große weltgeschichtliche Geisteskampf, welchen John Draper in seiner »Geschichte der Konflikte zwischen Religion und Wissenschaft« so vortrefflich schildert, heute eine Schärfe und Bedeutung erlangt wie nie zuvor; man bezeichnet ihn deshalb seit dem Jahre 1872 mit Recht als »Kulturkampf«.

Die berühmte Enzyklika nebst Syllabus, welche der streitbare Papst Pius IX. 1864 in alle Welt gesandt hatte, erklärte in der Hauptsache der ganzen modernen Wissenschaft den Krieg; sie forderte blinde Unterwerfung der Vernunft unter die Dogmen des »unfehlbaren Statthalters Christi«. Das Ungeheuerliche und Unerhörte dieses brutalen Attentates gegen die höchsten Güter der Kulturmenschheit rüttelte selbst viele träge und indolente Gemüter aus ihrem gewohnten Glaubensschlafe. Im Vereine mit der nachfolgenden Verkündung der päpstlichen Infallibilität (1870) rief die Enzyklika eine weitgehende Erregung hervor und eine energische Abwehr, welche zu den besten Hoffnungen berechtigte. In dem neuen Deutschen Reiche, welches in den Kämpfen von 1866 und 1871 unter schweren Opfern seine unentbehrliche nationale Einheit errungen hatte, wurden die frechen Attentate des Papismus besonders schwer empfunden.[344] Denn einerseits ist Deutschland die Geburtsstätte der Reformation und der modernen Geistesbefreiung; andererseits aber besitzt es leider in seinen 18 Millionen Katholiken ein mächtiges Heer von streitbaren Gläubigen, welches an blindem Gehorsam gegen die Befehle seines Oberhirten von keinem anderen Kulturvolke übertroffen wird. Christus sagt zu Petrus: »Weide meine Schafe!« Die Nachfolger auf dem Stuhle Petri haben das »Weiden« in »Scheren« übersetzt. Die hieraus entspringenden Gefahren erkannte mit klarem Blick der gewaltige Staatsmann, der das »politische Welträtsel« der deutschen Nationalzerrissenheit gelöst und uns durch bewunderungswürdige Staatskunst zu dem ersehnten Ziele nationaler Einheit und Macht geführt hatte. Fürst Bismarck begann 1872 jenen denkwürdigen, vom Vatikan aufgedrungenen Kulturkampf, der von dem ausgezeichneten Kultusminister Falk durch die »Maigesetzgebung« (1873) ebenso klug als energisch geführt wurde. Leider mußte derselbe schon sechs Jahre später aufgegeben werden. Obwohl unser größter Staatsmann ein ausgezeichneter Menschenkenner und kluger Realpolitiker war, hatte er doch die Macht von drei gewaltigen Hindernissen unterschätzt: erstens die unübertroffene Schlauheit und gewissenlose Perfidie der römischen Kurie, zweitens die entsprechende Gedankenlosigkeit und Leichtgläubigkeit der ungebildeten katholischen Massen, auf welche sich die erstere stützte, und drittens die Macht der Trägheit, des Fortbestehens des Unvernünftigen, bloß weil es da ist. So mußte denn schon 1878, nachdem der klügere Papst Leo XIII. seine Regierung angetreten hatte, der schwere »Gang nach Kanossa« wiederholt werden. Die neugestärkte Macht des Vatikans nahm seitdem wieder mächtig zu, einerseits durch die gewissenlosen Ränke und Schlangenwindungen seiner aalglatten Jesuitenpolitik, andererseits durch die falsche Kirchenpolitik der deutschen Reichsregierung und die merkwürdige politische Unfähigkeit des deutschen Volkes. So mußten wir denn am Schlusse des[345] neunzehnten Jahrhunderts das beschämende Schauspiel erleben, daß das sogenannte »Zentrum im Deutschen Reichstage Trumpf« war, und daß die Geschicke unseres gedemütigten Vaterlandes von einer ungebildeten papistischen Partei geleitet wurden, deren Kopfzahl noch nicht den dritten Teil der ganzen Bevölkerung beträgt.

Als der deutsche Kulturkampf 1872 begann, wurde er mit vollem Rechte von allen frei denkenden Männern als eine politische Erneuerung der Reformation begrüßt, als ein energischer Versuch, die moderne Kultur von dem Joche der papistischen Geistestyrannei zu befreien; die gesamte liberale Presse feierte Fürst Bismarck als »politischen Luther«, als den gewaltigen Helden, der nicht nur die nationale Einigung, sondern, auch die geistige Befreiung Deutschlands erringe. Zehn Jahre später, nachdem der Papismus gesiegt hatte, behauptete dieselbe »liberale Presse« das Gegenteil und erklärte den Kulturkampf für einen großen Fehler; und dasselbe tut sie noch heute. Diese Tatsache beweist nur, wie kurz das Gedächtnis unserer Zeitungsschreiber, wie mangelhaft ihre Kenntnis der Geschichte und wie unvollkommen ihre philosophische Bildung ist. Der sogenannte »Friedensschluß zwischen Staat und Kirche« ist immer nur ein Waffenstillstand. Der moderne Papismus, getreu den absolutistischen, seit 1600 Jahren befolgten Prinzipien, will und muß die Alleinherrschaft über die leichtgläubigen Seelen behaupten; er muß die absolute Unterwerfung des Kulturstaates fordern, der als solcher die Rechte der Vernunft und Wissenschaft vertritt. Wirklicher Friede kann erst eintreten, wenn einer der beiden ringenden Kämpfer bewältigt am Boden liegt. Entweder siegt die »alleinseligmachende Kirche«, und dann hört »freie Wissenschaft und freie Lehre« überhaupt auf; dann werden sich unsere Universitäten in Konvikte, unsere Gymnasien in Klosterschulen verwandeln. Oder es siegt der moderne Vernunftstaat, und dann wird sich im zwanzigsten Jahrhundert die menschliche Bildung, Freiheit[346] und Wohlstand in noch weit höherem Maße fortschreitend entwickeln, als es im neunzehnten erfreulicherweise der Fall gewesen ist. (Vergl. hierüber Eduard Hartmann, Die Selbstzersetzung des Christentums, 1874.)

Gerade zur Förderung dieser hohen Ziele erscheint es höchst wichtig, daß die moderne Naturwissenschaft nicht bloß die Wahngebilde des Aberglaubens zertrümmert und deren wüsten Schutt aus dem Wege räumt, sondern daß sie auch auf dem frei gewordenen Bauplatze ein neues wohnliches Gebäude für das menschliche Gemüt herrichtet; einen Palast der Vernunft, in welchem wir mittelst unserer neu gewonnenen monistischen Weltanschauung die wahre »Dreieinigkeit« des neunzehnten Jahrhunderts andächtig verehren, die Trinität des Wahren, Guten und Schönen. Um den Kultus dieser göttlichen Ideale greifbar zu gestalten, erscheint es vor allem notwendig, uns mit den herrschenden Religionsformen des Christentums auseinanderzusetzen und die Veränderungen ins Auge zu fassen, welche bei der Ersetzung der letzteren durch die erstere zu erstreben sind. Denn die christliche Religion besitzt (in ihrer ursprünglichen, reinen Form!) trotz aller Irrtümer und Mängel einen so hohen sittlichen Wert, sie ist vor allem seit anderthalb Jahrtausenden so eng mit den wichtigsten sozialen und politischen Einrichtungen unseres Kulturlebens verwachsen, daß wir uns bei Begründung unserer monistischen Religion möglichst an die bestehenden Institutionen anlehnen müssen. Wir wollen keine gewaltsame Revolution, sondern eine vernünftige Reformation unseres religiösen Geisteslebens. In ähnlicher Weise nun, wie vor 2000 Jahren die klassische Poesie der alten Hellenen ihre Tugendideale in Göttergestalten verkörperte, können wir auch unseren drei Vernunftidealen die Gestalt hehrer Göttinnen verleihen; wir wollen untersuchen, wie die drei Göttinnen der Wahrheit, der Schönheit und der Tugend nach unserem Monismus sich gestalten, und wir wollen ferner ihr Verhältnis zu den entsprechenden[347] Werten des Christentums untersuchen, die sie ersetzen sollen.

Wir haben uns durch die vorhergehenden Betrachtungen (besonders im ersten und dritten Abschnitt) überzeugt, daß die reine Wahrheit nur in dem Tempel der Naturerkenntnis zu finden ist, und daß die einzigen brauchbaren Wege zu demselben die kritische »Beobachtung und Reflexion« sind, die empirische Erforschung der Tatsachen und die vernunftgemäße Erkenntnis ihrer bewirkenden Ursachen. So gelangen wir mittelst der reinen Vernunft zur wahren Wissenschaft, dem kostbarsten Schatze der Kulturmenschheit. Dagegen müssen wir aus den gewichtigen, im sechzehnten Kapitel erörterten Ursachen jede sogenannte »Offenbarung« ablehnen, jede Glaubensdichtung, welche behauptet, auf übernatürlichem Wege Wahrheiten zu erkennen, zu deren Entdeckung unsere Vernunft nicht ausreicht. Da nun das ganze Glaubensgebäude der jüdisch-christlichen Religion, ebenso wie das islamitische und buddhistische, auf solchen angeblichen Offenbarungen beruht, da ferner diese mystischen Phantasieprodukte direkt der klaren empirischen Naturerkenntnis widersprechen, so ist es sicher, daß wir die Wahrheit nur mittelst der Vernunfttätigkeit der echten Wissenschaft finden können, nicht mittelst der Phantasiedichtung des mystischen Glaubens. In dieser Beziehung ist es offenbar, daß die christliche Weltanschauung durch die monistische Philosophie zu ersetzen ist. Die Göttin der Wahrheit wohnt im Tempel der Natur, im grünen Walde, auf dem blauen Meere, auf den schneebedeckten Gebirgshöhen; – aber nicht in den dumpfen Hallen der Klöster, in den engen Kerkern der Konviktschulen und nicht in den weihrauchduftenden christlichen. Kirchen. Die Wege, auf denen wir uns dieser herrlichen Göttin der Wahrheit und Erkenntnis nähern, sind die liebevolle Erforschung der Natur und ihrer Gesetze, die Beobachtung der unendlich großen Sternenwelt mittelst des Teleskops, der unendlich kleinen Zellenwelt mittelst des Mikroskops;[348] – aber nicht sinnlose Andachtsübungen und gedankenlose Gebete, nicht die Opfergaben des Ablasses und der Peterspfennige. Die kostbaren Gaben, mit denen uns die Göttin der Wahrheit beschenkt, sind die herrlichen Früchte vom Baume der Erkenntnis und der unschätzbare Gewinn einer klaren, einheitlichen Weltanschauung, – aber nicht der Glaube an übernatürliche »Wunder« und das Wahngebilde eines »ewigen Lebens«.

Anders als mit dem ewig Wahren verhält es sich mit dem Gottesideal des ewig Guten. Während bei der Erkenntnis der Wahrheit die Offenbarung der Kirche völlig auszuschließen und allein die Erforschung der Natur zu befragen ist, fällt dagegen der Inbegriff des Guten, den wir Tugend nennen, in unserer monistischen Religion größtenteils mit der christlichen Tugend zusammen. Natürlich gilt das nur von dein ursprünglichen, reinen Christentum der drei ersten Jahrhunderte, wie dessen Tugendlehren in den Evangelien und in den paulinischen Briefen niedergelegt sind; – es gilt aber nicht von der vatikanischen Karikatur jener reinen Lehre, welche die europäische Kultur zu ihrem unendlichen Schaden durch zwölf Jahrhunderte beherrscht hat. Den besten Teil der christlichen Moral, an dem wir festhalten, bilden die Humanitätsgebote der Liebe und Duldung, des Mitleids und der Hilfe. Nur sind diese edlen Pflichtgebote, die man als »christliche Moral« (im besten Sinne!) zusammen faßt, keine neuen Erfindungen des Christentums, sondern sie sind von diesem aus älteren Religionsformen herübergenommen. In der Tat ist ja die »Goldene Regel«, welche diese Gebote in einem Satze zusammenfaßt, Jahrhunderte älter als das Christentum. In der Praxis des Lebens aber wurde dieses natürliche Sittengesetz ebenso oft von Atheisten und Nichtchristen sorgsam befolgt als von frommen, gläubigen Christen außer acht gelassen. Übrigens beging die christliche Tugendlehre einen großen Fehler, indem sie einseitig den Altruismus zum Gebote erhob, den Egoismus dagegen verwarf.[349] Unsere monistische Ethik legt beiden gleichen Wert bei, sie findet die vollkommene Tugend in dem richtigen Gleichgewicht von Nächstenliebe und Eigenliebe. (Vergl. Kapitel 19: Das ethische Grundgesetz.)

In größten Gegensatz zum Christentum tritt unser Monismus auf dem Gebiete der Schönheit. Das ursprüngliche, reine Christentum predigt die Wertlosigkeit des irdischen Lebens und betrachtete dasselbe bloß als eine Vorbereitung für das ewige Leben im »Jenseits«. Daraus folgt unmittelbar, daß alles, was das menschliche Leben im »Diesseits« darbietet, alles Schöne in Kunst und Wissenschaft, im öffentlichen und privaten Leben, keinen Wert besitzt. Der wahre Christ muß sich von ihm abwenden und nur daran denken, sich für das Jenseits würdig vorzubereiten. Die Verachtung der Natur, die Abwendung von allen ihren unerschöpflichen Reizen, die Verwerfung jeder Art von schöner Kunst sind echte Christenpflichten; diese würden am vollkommensten erfüllt, wenn der Mensch sich von seinen Mitmenschen absonderte, sich kasteite und in Klöstern oder Einsiedeleien ausschließlich mit der »Anbetung Gottes« beschäftigte.

Nun lehrt uns freilich die Kulturgeschichte, daß diese asketische Christenmoral, die aller Natur Hohn sprach, als natürliche Folge das Gegenteil bewirkte. Die Klöster, die Asyle der Keuschheit und Zucht, wurden bald die Brutstätten der tollsten Orgien; der sexuelle Verkehr der Mönche und Nonnen erzeugte romantische Verhältnisse, wie sie die Literatur der Renaissance sehr naturwahr geschildert hat. Der Kultus der »Schönheit«, der hier getrieben wurde, stand mit der gepredigten »Weltentsagung« in schneidendem Widerspruch, und dasselbe gilt von dem Luxus und der Pracht, welche sich bald in dem sittenlosen Privatleben des höheren katholischen Klerus und in der künstlerischen Ausschmückung der christlichen Kirchen und Klöster entwickelten.

Man wird hier einwenden, daß unsere Ansicht durch die Schönheitsfülle der christlichen Kunst[350] widerlegt werde, welche besonders in der Blütezeit des Mittelalters so unvergängliche Werke schuf. Die prachtvollen gotischen und byzantinischen Basiliken, die Hunderte von prächtigen Kapellen, die Tausende von Marmorstatuen christlicher Heiligen und Märtyrer, die Millionen von schönen Heiligenbildern, von tiefempfundenen Darstellungen von Christus und der Madonna – sie zeugen alle von einer Entwicklung der schönen Künste im Mittelalter, die in ihrer Art einzig ist. Alle diese herrlichen Denkmäler der bildenden Kunst, ebenso wie die der Dichtkunst, behalten ihren hohen ästhetischen Wert, gleichviel, wie wir die darin enthaltene Mischung von »Wahrheit und Dichtung« beurteilen. Aber was hat das alles mit der reinen Christenlehre zu tun, mit jener Religion der Entsagung, welche von allem irdischen Prunk und Glanz, von aller materiellen Schönheit und Kunst sich abwendete, welche das Familienleben und die Frauenliebe gering schätzte, welche allein die Sorge um die immateriellen Güter des »ewigen Lebens« predigte? Der Begriff der »christlichen Kunst« ist eigentlich ein Widerspruch in sich, eine »Contradictio in adjecto«. Die reichen Kirchenfürsten freilich, welche dieselbe pflegten, verfolgten damit ganz andere Zwecke, und sie erreichten sie auch vollständig. Indem sie das ganze Interesse und Streben des menschlichen Geistes im Mittelalter auf die christliche Kirche und deren eigentümliche Kunst lenkten, wendeten sie dasselbe von der Natur ab und von der Erkenntnis der hier verborgenen Schätze, die zu selbständiger Wissenschaft geführt hätten. Außerdem aber erinnerte der tägliche Anblick der überall massenhaft ausgestellten Heiligenbilder, der Darstellungen aus der »heiligen Geschichte«, den gläubigen Christen jederzeit an den reichen Sagenschatz, den die Phantasie der Kirche angesammelt hatte. Die Legenden derselben wurden für wahre Erzählungen, die Wundergeschichten für wirkliche Ereignisse ausgegeben und geglaubt. Unzweifelhaft hat in dieser Beziehung die christliche Kunst einen[351] ungeheueren Einfluß auf die allgemeine Bildung und ganz besonders auf die Festigung des Glaubens geübt, einen Einfluß, der sich in der ganzen Kulturwelt bis auf den heutigen Tag geltend macht.

Das diametrale Gegenstück dieser herrschenden christlichen Kunst ist diejenige neue Form der bildenden Kunst, die sich erst in unserem Jahrhundert, im Zusammenhang mit der Naturwissenschaft entwickelt hat. Die überraschende Erweiterung unserer Weltkenntnis, die Entdeckung von unzähligen schönen Lebensformen, die wir der letzteren verdanken, hat in unserer Zeit einen ganz anderen ästhetischen Sinn geweckt und damit auch der bildenden Kunst eine neue Richtung gegeben. Zahlreiche wissenschaftliche Reisen und große Expeditionen zur Erforschung unbekannter Länder und Meere förderten schon im achtzehnten, noch viel mehr aber im neunzehnten Jahrhundert eine ungeahnte Fülle von unbekannten organischen Formen zutage. Die Zahl der neuen Tier- und Pflanzenarten wuchs bald ins Unermeßliche, und unter diesen (besonders unter den früher vernachlässigten niederen Gruppen) fanden sich Tausende schöner und interessanter Gestalten, ganz neue Motive für Malerei und Bildhauerei, für Architektur und Kunstgewerbe. Eine neue Welt erschloß in dieser Beziehung besonders die ausgedehntere mikroskopische Forschung in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts und namentlich die Entdeckung der fabelhaften Tiefseebewohner, die erst durch die berühmte Challengerexpedition (1872 bis 1876) ans Licht gezogen wurden. Tausende von zierlichen Radiolarien und Thalamophoren, von prächtigen Medusen und Korallen, von abenteuerlichen Mollusken und Krebsen eröffneten uns da mit einem Male eine ungeahnte Fülle von verborgenen Formen, deren eigenartige Schönheit und Mannigfaltigkeit alle von der menschlichen Phantasie geschaffenen Kunstprodukte weitaus übertrifft. Allein schon in den 50 großen Bänden des Challengerwerkes ist auf 3000 Tafeln eine Masse solcher schöner[352] Gestalten abgebildet; aber auch in vielen anderen großen Prachtwerken, welche die mächtig wachsende zoologische und botanische Literatur der letzten Dezennien enthält, sind Millionen reizender Formen dargestellt. In meinen »Kunstformen der Natur« habe ich versucht, eine Auswahl von solchen schönen und reizvollen Gestalten weiteren Kreisen zugänglich zu machen (100 Tafeln, Leipzig, 1899).

Indessen bedarf es nicht weiter Reisen und kostspieliger Werke, um jedem Menschen die Herrlichkeiten dieser Welt zu erschließen. Vielmehr müssen dafür nur seine Augen geöffnet und sein Sinn geübt werden. Überall bietet uns die umgebende Natur eine überreiche Fülle von schönen und interessanten Objekten aller Art. In jedem Moose und Grashalme, in jedem Käfer und Schmetterling finden wir bei genauer Untersuchung Schönheiten, an denen der Mensch gewöhnlich achtlos vorübergeht. Vollends wenn wir dieselben mit einer Lupe bei schwacher Vergrößerung betrachten, oder noch mehr, wenn wir die stärkere Vergrößerung eines guten Mikroskopes anwenden, entdecken wir überall in der organischen Natur eine neue Welt voll unerschöpflicher Reize.

Aber nicht nur für diese ästhetische Betrachtung des Kleinen und Kleinsten, sondern auch für diejenige des Großen und Größten in der Natur hat uns erst das neunzehnte Jahrhundert die Augen geöffnet. Noch im Beginne desselben war die Ansicht herrschend, daß die Hochgebirgsnatur zwar großartig, aber abschreckend, das Meer zwar gewaltig, aber furchtbar sei. Jetzt, am Ende desselben, sind die meisten Gebildeten – und besonders die Bewohner der Großstädte – glücklich, wenn sie jährlich auf ein paar Wochen die Herrlichkeit der Alpen und die Kristallpracht der Gletscher genießen können; oder wenn sie sich an der Majestät des blauen Meeres, an den reizenden Landschaftsbildern seiner Küsten erfreuen können. Alle diese Quellen des edelsten Naturgenusses sind uns erst neuerdings in ihrer[353] ganzen Herrlichkeit offenbar und verständlich geworden, und die erstaunlich gesteigerte Leichtigkeit und Schnelligkeit des Verkehrs hat selbst den Unbemittelteren die Gelegenheit zu ihrer Kenntnis verschafft. Alle diese Fortschritte im ästhetischen Naturgenusse – und damit zugleich im wissenschaftlichen Naturverständnis – bedeuten ebenso viele Fortschritte in der höheren menschlichen Geistesbildung und damit zugleich in der Geltung unserer vernunftgemäßen monistischen Religion.

Der Gegensatz, in welchem unser naturalistisches Jahrhundert zu den vorhergehenden anthropistischen steht, prägt sich besonders in der verschiedenen Wertschätzung und Verbreitung von Illustrationen der mannigfaltigsten Naturobjekte aus. Es hat sich in unserer Zeit ein lebhaftes Interesse für bildliche Darstellungen derselben entwickelt, das früheren Zeiten unbekannt war; dasselbe wird unterstützt durch die erstaunlichen Fortschritte der Technik und des Verkehrs, welche eine allgemeine Verbreitung derselben in weitesten Kreisen gestatten. Zahlreiche illustrierte Zeitschriften verbreiten mit der allgemeinen Bildung zugleich den Sinn für die unendliche Schönheit der Natur in allen Gebieten. Besonders ist es die Landschaftsmalerei, die hier eine früher nicht geahnte Bedeutung gewonnen hat. Schon in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts hatte einer unserer größten und vielseitigsten Naturforscher, Alexander von Humboldt, darauf hingewiesen, wie die Entwicklung der modernen Landschaftsmalerei nicht nur als »Anregungsmittel zum Naturstudium« und als geographisches Anschauungsmittel von hoher Bedeutung sei, sondern wie sie auch in anderer Beziehung als ein edles Bildungsmittel hochzuschätzen sei. Seitdem ist der Sinn dafür noch bedeutend weiter entwickelt. Es sollte Aufgabe jeder Schule sein, die Kinder frühzeitig zum Genüsse der Landschaft anzuleiten und zu der höchst dankbaren Kunst, sie durch Zeichnen und Aquarellmalen ihrem Gedächtnis einzuprägen.[354]

Der unendliche Reichtum an Schönem und Erhabenem bietet jedem Menschen, der offene Augen und ästhetischen Sinn besitzt, eine unerschöpfliche Fülle der herrlichsten Gaben. So wertvoll und beglückend aber auch der unmittelbare Genuß jeder einzelnen Gabe ist, so wird deren Wert doch noch hoch gesteigert durch die Erkenntnis ihrer Bedeutung und ihres Zusammenhanges mit der übrigen Natur. Als Alexander von Humboldt im Jahre 1845 in seinem großartigen »Kosmos« den »Entwurf einer physischen Weltbeschreibung« gab, als er in seinen mustergültigen »Ansichten der Natur« wissenschaftliche und ästhetische Betrachtung in glücklichster Weise verband, da hat er mit Recht hervorgehoben, wie eng der veredelte Naturgenuß mit der »wissenschaftlichen Ergründung der Weltgesetze« verknüpft ist, und wie beide vereinigt dazu dienen, das Menschenwesen auf eine höhere Stufe der Vollendung zu erheben. Die staunende Bewunderung, mit der wir den gestirnten Himmel und das mikroskopische Leben in einem Wassertropfen betrachten, die Ehrfurcht, mit der wir das wunderbare Wirken der Energie in der bewegten Materie untersuchen, die Andacht, mit welcher wir die Geltung des, allumfassenden Substanzgesetzes im Universum verehren, – sie alle sind Bestandteile unseres Gemütslebens, die unter den Begriff der »natürlichen Religion« fallen.

Wie das Auge für die bildende Kunst, so ist das Gehörorgan für die Tonkunst die Quelle der edelsten Genüsse; durch die vielseitige Assozion mit den höchsten Geistestätigkeiten – den bewunderungswürdigen Arbeiten der Neuronen in der Großhirnrinde – werden beide »ästhetische Sinnesorgane« die kostbarsten Geisteswerkzeuge des hochentwickelten Kulturmenschen. Indem sich die Musik mit der Dichtkunst verbindet, und indem beide vereinigt die reichen, neu gewonnenen Schätze der Naturerkenntnis verwerten, erquicken sie unser Gemüt und werden zu einem bedeutungsvollen Gebiet unserer natürlichen[355] monistischen Religion. Wie unerschöpflich diese Quellen der Poesie sind und wie sowohl die Dichtkunst als die Tonkunst reichen Ersatz für die verlorenen Güter des Kirchenglaubens gewähren, hat namentlich David Strauß in seiner gedankenreichen Schrift über den »Alten und neuen Glauben« gezeigt.

Die angedeuteten Fortschritte der Neuzeit in der Erkenntnis des Wahren und im Genüsse des Schönen bilden wertvolle Stützen unserer monistischen Religion, während sie andererseits im Gegensatze zum Christentum stehen. Denn der menschliche Geist lebt dort in dem bekannten »Diesseits«, hier in einem unbekannten »Jenseits«. Unser Monismus lehrt, daß wir sterbliche Kinder der Erde sind, die ein oder zwei, höchstens drei »Menschenalter« hindurch das Glück haben, im Diesseits die Herrlichkeiten dieses Planeten zu genießen, die unerschöpfliche Fülle seiner Schönheit zu schauen und die wunderbaren Spiele seiner Naturkräfte zu erkennen. Das Christentum dagegen lehrt, daß die Erde ein elendes Jammertal ist, auf welchem wir bloß eine kurze Zeitlang uns zu kasteien und abzuquälen brauchen, um sodann im »Jenseits« ein ewiges Leben voller Wonne zu genießen. Wo dies »Jenseits« liegt, und wie diese Herrlichkeit des ewigen Lebens eigentlich beschaffen sein soll, das hat uns noch keine »Offenbarung« gesagt. Solange der »Himmel« für den Menschen ein blaues Zelt war, ausgespannt über der scheibenförmigen Erde und erleuchtet durch das blinkende Lampenlicht einiger tausend Sterne, konnte sich die menschliche Phantasie oben in diesem Himmelsaal allenfalls das ambrosische Gastmahl der olympischen Götter oder die Tafelfreuden der Walhallabewohner vorstellen. Nun ist aber neuerdings für alle diese Gottheiten und für die mit ihnen tafelnden »unsterblichen Seelen« die offenkundige, von David Strauß geschilderte Wohnungsnot eingetreten; denn wir wissen jetzt durch die Astrophysik, daß der unendliche Raum mit ungenießbarem Äther[356] erfüllt ist, und daß Millionen von Weltkörpern, nach ewigen ehernen Gesetzen bewegt, sich rastlos in demselben umhertreiben, alle im ewigen großen »Werden und Vergehen« begriffen.

Die Stätten der Andacht, in denen der Mensch sein religiöses Gemütsbedürfnis befriedigt und die Gegenstände seiner Anbetung verehrt, betrachtet er als seine geheiligten »Kirchen«. Die Pagoden im buddhistischen Asien, die griechischen Tempel im klassischen Altertum, die Synagogen in Palästina, die Moscheen in Ägypten, die katholischen Dome im südlichen und die evangelischen Kathedralen im nördlichen Europa – alle diese »Gotteshäuser« sollen dazu dienen, den Menschen über die Misere und Prosa des realen Alltagslebens zu erheben; sie sollen ihn in die Weihe und die Poesie einer höheren, idealen Welt versetzen. Sie erfüllen diesen Zweck in vielen tausend verschiedenen Formen, entsprechend den verschiedenen Kulturformen und Zeitverhältnissen. Der moderne Mensch, welcher »Wissenschaft und Kunst« besitzt – und damit zugleich auch Religion - , bedarf keiner besonderen Kirche, keines engen, eingeschlossenen Raumes. Denn überall in der freien Natur, wo er seine Blicke auf das unendliche Universum oder auf einen Teil desselben richtet, überall findet er zwar den harten »Kämpf ums Dasein«, aber daneben auch das »Wahre, Schöne und Gute«; überall findet er seine »Kirche« in der herrlichen Natur selbst. Indessen wird es doch den besonderen Bedürfnissen vieler Menschen entsprechen, auch außerdem in schön geschmückten Tempeln oder Kirchen geschlossene Andachtshäuser zu besitzen, in die sie sich zurückziehen können. Ebenso, wie seit dem sechzehnten Jahrhundert der Papismus zahlreiche Kirchen an die Reformation abtreten mußte, wird im zwanzigsten Jahrhundert ein großer Teil derselben an die »freien Gemeinden« des Monismus übergehen.[357]

Quelle:
Ernst Haeckel: Gemeinverständliche Werke. Band 3, Leipzig und Berlin [o.J.], S. 342-358.
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