[46] Monistische Studien über menschliche und vergleichende Physiologie.
Übereinstimmung in allen Lebensfunktionen des Menschen und der Säugetiere.
Unsere Kenntnis vom menschlichen Leben hat sich erst innerhalb des neunzehnten Jahrhunderts zum Range einer selbständigen, wirklichen Wissenschaft erhoben; sie hat sich erst innerhalb desselben zu einem der vornehmsten, interessantesten und wichtigsten Wissenszweige entwickelt. Diese »Lehre von den Lebenstätigkeiten«, die Physiologie, hat sich zwar frühzeitig der Heilkunde als eine wünschenswerte, ja notwendige Vorbedingung für erfolgreiche ärztliche Tätigkeit fühlbar gemacht, in engem Zusammenhang mit der Anatomie, der Lehre vom Körperbau. Aber sie konnte erst viel später und langsamer als die letztere gründlich erforscht werden, da sie auf viel größere Schwierigkeiten stieß.
Der Begriff des Lebens als Gegensatz zum Tode ist natürlich schon frühzeitig Gegenstand des Nachdenkens gewesen. Man beobachtete am lebenden Men schen wie an den lebendigen Tieren eine Anzahl von eigentümlichen Veränderungen, vorzugsweise Bewegungen, welche den »toten« Naturkörpern fehlten: selbständige Ortsbewegung, Herzklopfen, Atemzüge, Sprache usw. Allein die Unterscheidung solcher »organischen Bewegungen« von ähnlichen Erscheinungen bei anorganischen Naturkörpern war nicht leicht und oft verfehlt; das fließende Wasser, die flackernde[46] Flamme, der wehende Wind, der stürzende Fels zeigten dem Menschen ganz ähnliche Veränderungen, und es war sehr natürlich, daß der naive Naturmensch auch diesen »toten Körpern« ein selbständiges Leben zuschrieb. Von den bewirkenden Ursachen konnte man sich ja bei den letzteren ebensowenig befriedigende Rechenschaft geben als bei den ersteren.
Die ältesten wissenschaftlichen Betrachtungen über das Wesen der menschlichen Lebenstätigkeiten treffen wir (ebenso wie diejenigen über den Körperbau des Menschen) bei den griechischen Naturphilosophen und Ärzten im sechsten und fünften Jahrhundert v. Chr. Die reiche Sammlung von bezüglichen, damals bekannten Tatsachen finden wir in der Naturgeschichte des Aristoteles; ein großer Teil seiner Angaben rührt wahrscheinlich von Demokritos und Hippokrates her. Die Schule des letzteren stellte auch bereits Erklärungsversuche an; sie nahm als Grundursache des Lebens bei Menschen und Tieren einen flüchtigen »Lebensgeist« an (Pneuma), und Erasistratus (280 v. Chr.) unterschied bereits einen niederen und einen höheren Lebensgeist, das Pneuma zoticon im Herzen und das Pneuma psychicon im Gehirn.
Der Ruhm, alle diese zerstreuten Kenntnisse einheitlich zusammengefaßt und den ersten Versuch zu einem System der Physiologie gemacht zu haben, gebührt dem großen griechischen Arzte Galenus, dem ersten Anatomen des Altertums. Bei seinen Untersuchungen über die Organe des menschlichen Körpers stellte er sich beständig auch die Frage nach ihren Lebenstätigkeiten oder Funktionen, und auch hierbei verfuhr er vergleichend und untersuchte vor allem die menschenähnlichsten Tiere, die Affen. Die Erfahrungen, die er hier gewonnen, übertrug er direkt auf den Menschen. Er erkannte auch bereits den hohen Wert des physiologischen Experimentes: bei Vivisektionen von Affen, Hunden und Schweinen stellte er verschiedene interessante Versuche an. Die[47] Vivisektionen sind neuerdings nicht nur von unwissenden und beschränkten Leuten, sondern auch von wissensfeindlichen Theologen und von gefühlsseligen Gemütsmenschen vielfach auf das heftigste angegriffen worden; sie gehören aber zu den unentbehrlichen Methoden der Lebensforschung und haben uns unschätzbare Aufschlüsse über die wichtigsten Fragen gegeben; diese Tatsache wurde schon vor 1700 Jahren von Galenus erkannt.
Alle verschiedenen Funktionen des Körpers führte Galenus auf drei Hauptgruppen zurück, entsprechend den drei Formen des Pneuma, des Lebensgeistes oder »Spiritus«. Das Pneuma psychicon – die »Seele« – hat ihren Sitz im Gehirn und den Nerven; sie vermittelt das Denken, Empfinden und den Willen (die willkürliche Bewegung); das Pneuma zoticon – das »Herz« – bewirkt die »sphygmischen Funktionen«, den Herzschlag, Puls und die Wärmebildung; das Pneuma physicon endlich, in der Leber befindlich, ist die Ursache der sogenannten vegetativen Lebenstätigkeiten, der Ernährung und des Stoffwechsels, des Wachstums und der Fortpflanzung. Dabei legt er besonderes Gewicht auf die Erneuerung des Blutes in den Lungen und sprach die Hoffnung aus, daß es einst gelingen werde, aus der atmosphärischen Luft den Bestandteil auszuscheiden, welcher als Pneuma bei der Atmung in das Blut aufgenommen werde. Mehr als fünfzehn Jahrhunderte verflossen, ehe dieses Respirationspneuma – der Sauerstoff – durch Lavoisier entdeckt wurde. Ebenso wie für die Anatomie des Menschen, so blieb auch für seine Physiologie das großartige System des Galenus während des langen Zeitraums von dreizehn Jahrhunderten die unantastbare Quelle aller Kenntnisse. Der kulturfeindliche Einfluß des Christentums bereitete auch auf diesem wie auf allen anderen Gebieten der Naturerkenntnis die unüberwindlichsten Hindernisse. Vom dritten bis zum sechzehnten Jahrhundert trat kein einziger Forscher auf, der gewagt hätte, selbständig wieder die Lebenstätigkeiten des[48] Menschen zu untersuchen und über den Bezirk des Systems von Galenus hinauszugehen. Erst im sechzehnten Jahrhundert wurden dazu mehrere bescheidene Versuche von angesehenen Ärzten und Anatomen gemacht (Paracelsus, Servetus, Vesalius u. a.). Aber erst im Jahre 1628 veröffentlichte der englische Arzt Harvey seine große Entdeckung des Blutkreislaufs und wies nach, daß das Herz ein Pumpwerk ist, welches durch regelmäßige, unbewußte Zusammenziehung seiner Muskeln die Blutwelle unablässig durch das kommunizierende Röhrensystem der Adern oder Blutgefäße treibt. Nicht minder wichtig waren Harveys Untersuchungen über die Zeugung der Tiere, infolge deren er den berühmten Satz aufstellte: »Alles Lebendige entwickelt sich aus einem Ei« (omne vivum ex ovo).
Die mächtige Anregung zu physiologischen Beobachtungen und Versuchen, welche Harvey gegeben hatte, führte im sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert zu einer großen Anzahl von Entdeckungen. Diese faßte der Gelehrte Albrecht Haller um die Mitte des achtzehnten Jahrhunderts zum ersten Male zusammen; in seinem großen Werke »Elemente physiologiae« begründete er den selbständigen Wert dieser Wissenschaft und nicht nur in ihrer Beziehung zur praktischen Medizin. Indem aber Haller für die Nerventätigkeit eine besondere »Empfindungskraft oder Sensibilität« und ebenso für die Muskelbewegung eine besondere »Reizbarkeit oder Irritabilität« als Ursache annahm, lieferte er mächtige Stützen für die irrtümliche Lehre von einer eigentümlichen »Lebenskraft«.
Über ein volles Jahrhundert hindurch, von der Mitte des achtzehnten bis zur Mitte des neunzehnten Jahrhunderts, blieb in der Medizin und speziell in der Physiologie die alte Anschauung herrschend, daß zwar ein Teil der Lebenserscheinungen auf physikalische und chemische Vorgänge zurückzuführen sei, daß aber ein anderer Teil derselben durch eine besondere, davon unabhängige Lebenskraft (Vis vitalis) bewirkt werde. So verschiedenartig auch die besonderen[49] Vorstellungen vom Wesen derselben und besonders von ihrem Zusammenhang mit der »Seele« sich ausbildeten, so stimmten doch alle darin überein, daß die Lebenskraft von den physikalisch-chemischen Kräften der gewöhnlichen »Materie« unabhängig und wesentlich verschieden sei; als eine selbständige, der anorganischen Natur fehlende »Urkraft« (Archaeus) sollte sie die ersteren in ihren Dienst nehmen. Nicht allein die Seelentätigkeit selbst, die Sensibilität der Nerven und die Irritabilität der Muskeln, sondern auch die Vorgänge der Sinnestätigkeit, der Fortpflanzung und Entwicklung erschienen allgemein so wunderbar und in ihren Ursachen so rätselhaft, daß es unmöglich sei, sie auf einfache physikalische und chemische Naturprozesse zurückzuführen. Da die freie Tätigkeit der Lebenskraft zweckmäßig und bewußt wirkte, führte sie in der Philosophie zu einer vollkommenen Teleologie. Besonders erschien diese unbestreitbar, seitdem selbst der »kritische« Philosoph Kant in seiner berühmten Kritik der teleologischen Urteilskraft zugestanden hatte, daß zwar die Befugnis der menschlichen Vernunft zur mechanischen Erklärung aller Erscheinungen unbeschränkt sei, daß aber die Fähigkeit dazu bei den Erscheinungen des organischen Lebens aufhöre; hier müsse man notgedrungen zu einem »zweckmäßig tätigen«, also übernatürlichen Prinzip seine Zuflucht nehmen. Natürlich wurde der Gegensatz dieser vitalen Phänomene zu den mechanischen Lebenstätigkeiten um so auffälliger, je weiter man in der chemischen und physikalischen Erklärung der letzteren gelangte. Der Blutkreislauf und ein Teil der anderen Bewegungserscheinungen ließen sich auf mechanische Vorgänge, die Atmung und Verdauung auf chemische Prozesse gleich denjenigen in der anorganischen Natur zurückführen; dagegen bei den wunderbaren Leistungen der Nerven und Muskeln wie im eigentlichen »Seelenleben« schien das unmöglich, und auch das einheitliche Zusammenwirken aller dieser verschiedenen Kräfte im Leben des Individuums[50] erschien damit unerklärbar. So entwickelte sich ein vollständiger physiologischer Dualismus – ein prinzipieller Gegensatz zwischen anorganischer und organischer Natur, zwischen mechanischen und vitalen Prozessen, zwischen materieller Kraft und Lebenskraft, zwischen Leib und Seele. Im Beginne des neunzehnten Jahrhunderts wurde dieser Vitalismus besonders durch Louis Dumas in Frankreich begründet. Eine schöne poetische Darstellung desselben hatte schon 1795 Alexander Humboldt in seiner Erzählung vom Rhodischen Genius gegeben (- wiederholt mit kritischen Anmerkungen in den »Ansichten der Natur« -). In neuester Zeit lebte er wieder auf als »Neovitalismus«.
Schon in der ersten Hälfte des siebzehnten Jahrhunderts hatte der berühmte Philosoph Descartes, fußend auf Harveys Entdeckung des Blutkreislaufes, den Gedanken ausgesprochen, daß der Körper des Menschen ebenso wie der Tiere eine komplizierte Maschine sei, und daß ihre Bewegungen nach denselben mechanischen Gesetzen erfolgen wie bei den künstlichen, vom Menschen für einen bestimmten Zweck gebauten Maschinen. Allerdings nahm Descartes trotzdem für den Menschen allein eine vollkommene Selbständigkeit der immateriellen Seele an und erklärte sogar deren subjektive Empfindung, das Denken, für das einzige in der Welt, von dem wir unmittelbar ganz sichere Kenntnis besitzen (»Cogito, ergo sum!«). Allein dieser Dualismus hinderte ihn nicht, im einzelnen die Erkenntnis der mechanischen Lebenstätigkeiten vielseitig zu fördern. Im Anschluß daran führte Borelli (1660) die Bewegungen des Tierkörpers auf rein physikalische Gesetze zurück, und gleichzeitig versuchte Sylvius die Vorgänge bei der Verdauung und Atmung als rein chemische Prozesse zu erklären; ersterer begründete in der Medizin eine iatromechanische, letzterer eine iatrochemische Schule. Allein diese vernünftigen Ansätze zu einer naturgemäßen, mechanischen Erklärung der Lebenserscheinungen vermochten keine allgemeine[51] Anwendung und Geltung zu erringen, und im Laufe des achtzehnten Jahrhunderts traten sie ganz zurück, je mehr sich der teleologische Vitalismus entwickelte. Eine endgültige Widerlegung des letzteren und Rückkehr zur ersteren bewirkte erst im vierten Dezennium des neunzehnten Jahrhunderts die neue vergleichende Physiologie.
Wie unsere Kenntnisse vom Körperbau des Menschen, so wurden auch diejenigen von seiner Lebenstätigkeit ursprünglich größtenteils nicht durch direkte Beobachtung am menschlichen Organismus selbst gewonnen, sondern an den nächstverwandten höheren Wirbeltieren, vor allen den Säugetieren. Insofern waren schon die ältesten Anfänge der menschlichen Anatomie und Physiologie »vergleichend«. Aber die eigentliche »vergleichende Physiologie«, welche das ganze Gebiet der Lebenserscheinungen von den niedersten Tieren bis zum Menschen hinauf im Zusammenhang erfaßt, ist erst eine Errungenschaft des neunzehnten Jahrhunderts; ihr großer Schöpfer war Johannes Müller in Berlin (geboren 1801 in Koblenz als Sohn eines Schuhmachers). Von 1833-1858 entfaltete dieser vielseitigste und umfassendste Biologe des neunzehnten Jahrhunderts an der Berliner Universität volle 25 Jahre hindurch als Lehrer und Forscher eine Tätigkeit, die nur mit der vereinigten Wirksamkeit von Haller und Cuvier zu vergleichen ist. Fast alle großen Biologen, welche in den letzten 60 Jahren in Deutschland lehrten und wirkten, waren direkt oder indirekt Schüler von Johannes Müller. Ursprünglich ausgehend von der Anatomie und Physiologie des Menschen, zog derselbe bald alle Hauptgruppen der höheren und niederen Tiere in den Kreis seiner Vergleichung. Indem er zugleich die Bildung der ausgestorbenen Tiere mit den lebenden, den gesunden Organismus des Menschen mit dem kranken verglich, indem er wahrhaft philosophisch alle Erscheinungen des organischen Lebens zusammenzufassen strebte, erhob er sich zu einer bis dahin unerreichten Höhe der biologischen Erkenntnis.[52]
Die wertvollste Frucht dieser umfassenden Studien von Johannes Müller war sein »Handbuch der Physiologie des Menschen« (in zwei Bänden und acht Büchern; 1833, vierte Auflage 1844). Dieses klassische Werk gab viel mehr als der Titel besagt; es ist der Entwurf zu einer umfassenden »Vergleichenden Biologie«. Noch heute steht dasselbe in bezug auf Inhalt und Umfang des Forschungsgebietes unübertroffen da. Insbesondere sind darin die Methoden der Beobachtung und des Experimentes ebenso mustergültig angewendet wie die philosophischen Methoden der Induktion und Deduktion. Allerdings war Müller ursprünglich, gleich allen Physiologen seiner Zeit, Vitalist. Allein die herrschende Lehre von der Lebenskraft nahm bei ihm eine neue Form an und verwandelte sich allmählich in ihr prinzipielles Gegenteil. Denn auf allen Gebieten der Physiologie war Müller bestrebt, die Lebenserscheinungen mechanisch zu erklären; seine reformierte Lebenskraft steht nicht über den physikalischen und chemischen Gesetzen der übrigen Natur, sondern sie ist streng an dieselben gebunden; sie ist schließlich weiter nichts als das »Leben« selbst, d.h. die Summe aller Bewegungserscheinungen, die wir am lebendigen Organismus wahrnehmen. Überall war er bestrebt, dieselben mechanisch zu erklären, in dem Sinnes- und Seelenleben wie in der Tätigkeit der Muskeln, in den Vorgängen des Blutkreislaufes, der Atmung und Verdauung wie in den Erscheinungen der Fortpflanzung und Entwicklung. Die größten Fortschritte führte hier Müller dadurch herbei, daß er überall von den einfachsten Lebenserscheinungen der niederen Tiere ausging und Schritt für Schritt ihre allmähliche Ausbildung zu den höheren, bis zum höchsten, zum Menschen, hinauf verfolgte. Hier bewährte sich seine Methode der kritischen Vergleichung ebenso in der Physiologie wie in der Anatomie. Johannes Müller ist zugleich der einzige große Naturforscher geblieben, der diese verschiedenen Seiten der Forschung gleichmäßig ausbildete und gleich glänzend in sich vereinigte.[53] Gleich nach seinem Tode zerfiel sein gewaltiges Lehrgebiet in vier verschiedene Provinzen, die jetzt fast allgemein durch vier oder noch mehr ordentliche Lehrstühle vertreten werden: menschliche und vergleichende Anatomie, pathologische Anatomie, Physiologie und Entwicklungsgeschichte. Man hat die Arbeitsteilung dieses ungeheuren Wissensgebietes, die jetzt (1858) plötzlich eintrat, mit dem Zerfall des Weltreiches verglichen, welches einst Alexander der Große vereinigt beherrscht hatte.
Unter den zahlreichen Schülern von Johannes Müller, welche teils schon bei Lebzeiten, teils nach seinem Tode die verschiedenen Zweige der Biologie mächtig förderten, war einer der glücklichsten (wenn auch nicht der bedeutendste) Theodor Schwann. Als 1838 der geniale Botaniker Schieiden in Jena die Zelle als das gemeinsame Elementarorgan der Pflanzen erkannt und alle verschiedenen Gewebe des Pflanzenkörpers als zusammengesetzt aus Zellen nachgewiesen hatte, erkannte Johannes Müller sofort die außerordentliche Tragweite dieser bedeutungsvollen Entdeckung; er versuchte selbst, in verschiedenen Geweben des Tierkörpers, so z.B. in der Chorda dorsalis der Wirbeltiere, die gleiche Zusammensetzung nachzuweisen, und veranlaßte sodann seinen Schüler Schwann, diesen Nachweis auf alle tierischen Gewebe auszudehnen. Diese schwierige Aufgabe löste der letztere glücklich in seinen »Mikroskopischen Untersuchungen über die Übereinstimmung in der Struktur und dem Wachstum der Tiere und Pflanzen« (1839). Damit war der Grundstein für die Zellentheorie gelegt, deren fundamentale Bedeutung ebenso für die Physiologie wie für die Anatomie seitdem von Jahr zu Jahr zugenommen und sich immer allgemeiner bewährt hat. Daß auch die Lebenstätigkeit aller Organismen auf diejenige ihrer Gewebeteile, der mikroskopischen Zellen, zurückgeführt werden müsse, führten namentlich zwei andere Schüler von Johannes Müller aus, der scharfsinnige Physiologe Ernst Brücke in Wien und der berühmte Histologe Albert Kölliker[54] in Würzburg. Der erstere bezeichnete die Zellen richtig als »Elementarorganismen« und zeigte, daß sie ebenso im Körper des Menschen wie aller anderen Tiere die einzigen aktuellen, selbständig tätigen Faktoren des Lebens sind. Kölliker erwarb sich besondere Verdienste nicht nur um die Ausbildung der gesamten Gewebelehre, sondern auch namentlich durch den Nachweis, daß das Ei der Tiere sowie die daraus entstehenden »Furchungskugeln« einfache Zellen sind.
So allgemein aber auch die hohe Bedeutung der Zellentheorie für alle biologischen Aufgaben erkannt wurde, so wurde doch die darauf gegründete Zellularphysiologie erst in neuester Zeit selbständig ausgebaut. Hier hat namentlich Max Verworn (in Bonn) sich ein hohes Verdienst erworben. In seinen »Psychophysiologischen Protistenstudien« (1889) hat derselbe auf Grund sinnreicher experimenteller Untersuchungen gezeigt, daß die von mir (1866) aufgestellte »Theorie der Zellseele« durch das genaue Studium der einzelligen Protozoen vollkommen gerechtfertigt wird, und daß die »psychischen Vorgänge im Protistenreiche die Brücke bilden, welche die chemischen Prozesse in der unorganischen Natur mit dem Seelenleben der höchsten Tiere verbindet«. Weitausgeführt und gestützt auf die moderne Entwicklungslehre hat Verworn diese Ansichten in seiner »Allgemeinen Physiologie«. Er geht hier zum ersten Male wieder auf den umfassenden Standpunkt von Johannes Müller zurück, im Gegensatze zu den einseitigen und beschränkten Methoden jener modernen Physiologen, welche glauben, ausschließlich durch physikalische und chemische Experimente das Wesen der Lebenserscheinungen ergründen zu können. Verworn zeigte, daß nur durch die vergleichende Methode Müllers und durch das Vertiefen in die Physiologie der Zelle jener höhere Standpunkt gewonnen werden kann, der uns einen einheitlichen Überblick über das wundervolle Gesamtgebiet der Lebenserscheinungen gewährt; nur dadurch gelangen wir zu der Überzeugung, daß auch die sämtlichen[55] Lebenstätigkeiten des Menschen denselben Gesetzen der Physik und Chemie unterliegen wie diejenigen aller anderen Tiere.
Die fundamentale Bedeutung der Zellentheorie für alle Zweige der Biologie bewährte sich in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts nicht allein in den großartigen Fortschritten der gesamten Morphologie und Physiologie, sondern auch besonders in der totalen Reform derjenigen biologischen Wissenschaft, welche vermöge ihrer Beziehungen zur praktischen Heilkunst von jeher die größte Bedeutung in Anspruch nahm, der Pathologie oder Krankheitslehre. Daß die Krankheiten des Menschen wie aller übrigen Lebewesen Naturerscheinungen sind und also gleich den übrigen Lebensfunktionen nur naturwissenschaftlich erforscht werden können, war ja schon vielen älteren Ärzten zur festen Überzeugung geworden. Auch hatten schon im siebzehnten Jahrhundert einzelne medizinische Schulen, die Jatrophysiker und Jatrochemiker, den Versuch gemacht, die Ursachen der Krankheiten auf bestimmte physikalische und chemische Veränderungen zurückzuführen. Allein der damalige niedere Zustand der Naturwissenschaften verhinderte einen bleibenden Erfolg dieser berechtigten Bestrebungen. Daher blieben mehrere ältere Theorien, welche das Wesen der Krankheit in übernatürlichen oder mystischen Ursachen suchten, bis zur Mitte des neunzehnten Jahrhunderts in fast allgemeiner Geltung.
Erst um diese Zeit hatte Rudolf Virchow, ebenfalls ein Schüler von Johannes Müller, den glücklichen Gedanken, die Zellentheorie vom gesunden auch auf den kranken Organismus zu übertragen; er suchte in den feinen Veränderungen der kranken Zellen und der aus ihnen zusammengesetzten Gewebe die wahre Ursache jener gröberen Veränderungen, welche als bestimmte »Krankheitsbilder« den lebenden Organismus mit Gefahr und Tod bedrohen. Besonders während der sieben Jahre seiner Lehrtätigkeit in Würzburg (1849-1856) führte Virchow diese große Aufgabe[56] mit so glänzendem Erfolge durch, daß seine (1858 veröffentlichte) Zellularpathologie mit einem Schlage die ganze Pathologie und die von ihr gestützte praktische Medizin in neue, höchst fruchtbare Bahnen lenkte. Für unsere Aufgabe ist diese Reform der Medizin deshalb so bedeutungsvoll, weil sie uns zu einer monistischen, rein wissenschaftlichen Beurteilung der Krankheit führt. Auch der kranke Mensch, ebenso wie der gesunde, unterliegt denselben »ewigen ehernen Gesetzen« der Physik und Chemie wie die ganze übrige organische Welt.
Unter den zahlreichen Tierklassen, welche die neuere Zoologie unterscheidet, nehmen die Säugetiere (Mammalia) nicht allein in morphologischer, sondern auch in physiologischer Beziehung eine ganz besondere Stellung ein. Da nun auch der Mensch seinem ganzen Körperbau nach zur Klasse der Säugetiere gehört, müssen wir von vornherein erwarten, daß er auch den besonderen Charakter seiner Lebenstätigkeiten mit den übrigen Mammalien teilen wird. Und das ist in der Tat der Fall. Der Blutkreislauf und die Atmung vollziehen sich beim Menschen genau nach denselben Gesetzen und in derselben eigentümlichen Form, welche auch allen anderen Säugetieren – und nur diesen! – zukommt; sie ist bedingt durch den besonderen, feineren Bau ihres Herzens und ihrer Lungen. Nur bei den Mammalien wird alles Arterienblut aus der linken Herzkammer durch einen – und zwar den linken! – Aortenbogen in den Körper geführt, während dies bei den Vögeln durch den rechten und bei den Reptilien durch beide Aortenbögen bewirkt wird. Das Blut der Säugetiere zeichnet sich vor demjenigen aller anderen Wirbeltiere dadurch aus, daß aus ihren roten Blutzellen der Kern verschwunden ist (durch Rückbildung). Die Atembewegungen werden nur in dieser Tierklasse vorzugsweise durch das Zwerchfell vermittelt, weil dasselbe nur hier eine vollständige Scheidewand zwischen Brusthöhle und Bauchhöhle bildet. Ganz besonders wichtig aber ist für diese höchst entwickelte Tierklasse[57] die Produktion der Milch in den Brustdrüsen (Mammae) und die besondere Form der Brutpflege, welche die Ernährung des Jungen durch die Milch der Mutter mit sich bringt. Da dieses Säugegeschäft auch andere Lebenstätigkeiten in der eingreifendsten Weise beeinflußt, da die Mutterliebe der Säugetiere aus dieser innigen Form der Brutpflege ihren Ursprung genommen hat, erinnert uns der Name der Klasse mit Recht an ihre hohe Bedeutung. In Millionen von Bildern, zum großen Teil von Künstlern ersten Ranges, wird »die Madonna mit dem Christuskinde« verherrlicht als das reinste und erhabendste Urbild der Mutterliebe; desselben Instinktes, dessen extremste Form die übertriebene Zärtlichkeit der Affenmutter darstellt.
Da unter allen Säugetieren die Affen im gesamten Körperbau dem Menschen am nächsten stehen, läßt sich von vornherein erwarten, daß dasselbe auch von ihren Lebenstätigkeiten gilt; und das ist in Wahrheit der Fall. Wie sehr die Lebensgewohnheiten, die Bewegungen, die Sinnesfunktionen, das Seelenleben, die Brutpflege der Affen sich denjenigen des Menschen nähern, weiß jedermann. Aber die wissenschaftliche Physiologie weist dieselbe bedeutungsvolle Übereinstimmung auch für andere weniger bekannte Erscheinungen nach, besonders die Herztätigkeit, die Drüsenabsonderung und das Geschlechtsleben. In letzterer Beziehung ist besonders merkwürdig, daß die geschlechtsreifen Weibchen bei vielen Affenarten einen regelmäßigen Blutabgang aus dem Fruchtbehälter erleiden, entsprechend der Menstruation (oder »Monatsregel«) des menschlichen Weibes. Auch die Milchabsonderung aus der Brustdrüse und das Säugegeschäft geschieht bei den weiblichen Affen genau ebenso wie bei den Frauen.
Besonders interessant ist endlich die Tatsache, daß die Lautsprache der Affen, physiologisch verglichen, als Vorstufe zu der artikulierten menschlichen Sprache erscheint. Unter den heute noch lebenden Menschenaffen gibt es eine indische Art, welche musikalisch[58] ist: der Hylobates syndactylus auf Sumatra singt in vollkommen reinen und klangvollen, halben Tönen eine ganze Oktave. Für den unbefangenen Sprachforscher kann es heute keinem Zweifel mehr unterliegen, daß unsere hoch entwickelte Begriffssprache sich langsam und stufenweise aus der unvollkommenen Lautsprache unserer pliozänen Affenahnen entwickelt hat.
Gegen. Ende des neunzehnten Jahrhunderts hat sich in der Physiologie eine neue Richtung entwickelt, welche die alte, um dessen Mitte glücklich überwundene Lehre von der »Lebenskraft« zu neuer Geltung bringen will und sich daher selbst als »Neovitalismus« bezeichnet. Indessen ergibt sich bei unbefangener Kritik dieses anspruchsvollen Begriffes, daß darunter sehr verschiedene Anschauungen vom »Leben« verstanden werden. Man kann in ganz berechtigter Weise von einer besonderen »Lebenskraft« sprechen, wenn man darunter alle diejenigen Erscheinungen zusammenfaßt, welche nach der gewöhnlichen Anschauung als eigentümliche, nur den Organismen zukommende Kraftformen (oder »Energiequalitäten«) erscheinen, und welche den »Anorganen«, den »leblosen Naturkörpern« fehlen. Da diese Erscheinungen ausschließlich am Plasma vorkommen und an dessen chemische Zusammensetzung gebunden sind, kann man dieses in gleichem Sinne als »Lebensstoff« bezeichnen. Aber die physiologische Chemie stellt zweifellos fest, daß diese merkwürdigen, in zahllosen veränderlichen Kombinationen auftretenden »Lebensstoffe« aus denselben Elementen aufgebaut sind, die auch in der anorganischen Natur überall vorkommen. In gleicher Weise überzeugt uns die physiologische Physik, daß alle jene eigentümlichen »Vitalen Prozesse«, die vom Plasma ausgehen, nur eigentümliche Kombinationen und Variationen derselben physikalischen Kräfte oder Energieformen sind, die auch in der anorganischen Natur sich finden. Diese zulässige, mechanische und monistische Auffassung der »Lebenskraft« fällt in das Bereich der Physik im weitesten Sinne.[59]
Ganz verwerflich und unwissenschaftlich ist hingegen jener dualistische und mystische Neovitalismus, welcher die »Lebenskraft« als eine übernatürliche, von allen anderen Naturkräften oder physikalischen Energieformen prinzipiell verschiedene Erscheinung betrachtet; die sogenannte »Zielstrebigkeit« oder Finalität dieser teleologischen Hypothese widerspricht der »Naturgesetzlichkeit« oder wahren Kausalität, die wir sonst überall in der Natur finden. Das Widersinnige dieses Dualismus ergibt sich sofort, wenn wir sie vorn höheren genetischen und kosmologischen Standpunkte betrachten. Sowohl zeitlich als räumlich verglichen erscheint das organische Leben (- das wir nur von unserem Planeten kennen! -) als ein winziger Bruchteil des unermeßlichen »kosmischen Lebens«, welches seit undenklicher Zeit im unendlichen Raume sich abspielt.[60]
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